Foto: © Peter Adamik
„So demutsvoll wie der 78-Jährige die Politik „auf Knien“ für Konzepte bittet, die einen Konzertbetrieb mit Publikum wieder möglich machen, scheint es um Kultur und Demokratie nicht gut bestellt. Oder machte sich der Weltstar aus taktischen Gründen ein bisschen klein? Die Regierenden jedenfalls sollte das beschämen.“
Staatsoper Unter den Linden Berlin, 8. Mai 2020
Gedenkkonzert »75 Jahre Kriegsende«
Daniel Barenboim Dirigent
Staatskapelle Berlin
von Kirsten Liese
An den Anblick sogenannter „Geisterkonzerte“ hat man sich mittlerweile gewöhnt. Die Stuhlreihen im Saal der Berliner Staatsoper sind komplett leer. Außer einigen Kameraleuten, die das Sonderkonzert aus Anlass des 75. Jahrestags nach Kriegsende für das Fernsehen aufzeichnen, ist niemand im Saal, und auf dem Podium diesmal nur 14 Musiker der Berliner Staatskapelle im üblichen Abstand von 1,5 bis 2 Metern so wie ihr Dirigent Daniel Barenboim.
Für ein bisschen Atmosphäre ist gleichwohl gesorgt: Im ersten Teil des Programms stellen sich die Musiker vor einem malerischen azurblauen Sternenhimmel-Prospekt auf, vermutlich aus dem Theaterfundus einer Zauberflöte. Und das passt zu Mozarts Kleiner Nachtmusik sehr gut.
Gewiss könnten die Musiker in so kleiner Formation auch ohne Dirigenten spielen, aber natürlich hat ein solches Ereignis mit einem so berühmten Mann mehr Gewicht.
Barenboim lässt sich die Gelegenheit nicht nehmen, vor Beginn Stellung zur aktuellen fatalen Situation der Kulturschaffenden in Corona-Zeiten zu beziehen. So demutsvoll wie der 78-Jährige die Politik „auf Knien“ für Konzepte bittet, die einen Konzertbetrieb mit Publikum wieder möglich machen, scheint es um Kultur und Demokratie nicht gut bestellt. Oder machte sich der Weltstar aus taktischen Gründen ein bisschen klein? Die Regierenden jedenfalls sollte das beschämen.
Das Konzert selbst hätte man nicht besser gestalten können, was schon damit anfängt, dass sich die Ausführenden auf Stücke in Dur-Tonarten verständigt hatten, von denen positive Energien wie Hoffnung und Zuversicht ausgehen.
Mozart zählt zu den Komponisten, mit denen sich Barenboim sein ganzes Leben lang am meisten beschäftigt hat. Er war dabei stets unabhängig von bestimmten Moden und Stilrichtungen, Experimente mit historischen Instrumenten waren seine Sache nicht. Sein Mozartklang in früheren Jahrzehnten war doch eher dran an einem Karl Böhm.
Aber womöglich hat die historische Aufführungspraxis inzwischen doch ein bisschen auf ihn abgefärbt. Jedenfalls kultivierte Barenboim mit seinen 14 Orchestersolisten einen fein ziselierten Klang von zarter Schlichtheit, die der Kleinen Nachtmusik absolut angemessen erscheint.
Mir wurde bei der Gelegenheit bewusst, wie lange ich eigentlich dieses so bekannte Ohrwurmstück – in früheren Zeiten mal einer der Tophits in Wunschkonzertsendungen – nicht mehr gehört habe. Ein wenig fürchtete ich, es könnte mir zum Halse heraushängen, aber dem war ganz und gar nicht so. Im Gegenteil: Schon nach den ersten Takten war ich gebannt, an eine vergleichbar exquisite Aufführung dieser Serenade kann ich mich kaum erinnern. Sie kam frisch, nuanciert, zärtlich und plastisch im besten Sinne der von Nikolaus Harnoncourt postulierten „Klangrede“ daher.
Im zweiten Teil ging es vor einem anderen Bühnenprospekt, den ich am Fernseher allerdings nicht genau erkennen konnte (vermutlich ein Szenenbild aus dem Siegfried?) harmonisch und leise weiter. Himmlisch schwebend und schwerelos wurde hier unter der Erweiterung eines Hornisten Richard Wagners Siegfried-Idyll musiziert. Das war wie ein Gang über Wölkchen und ließ für eine halbe Stunde alles Belastende vergessen.
Anders als Kirill Petrenko, der am 1. Mai in ähnlicher Kleinformation ein vergleichbar berührendes Geisterkonzert mit den Berliner Philharmonikern leitete, dirigierte Barenboim, seit jeher mit einem Elefantengedächtnis gesegnet, auswendig. Es war ihm deutlich anzumerken, dass ihm dieses Konzert, das er zu anderer Gelegenheit vielleicht etwas routiniert aus dem Ärmel geschüttelt hätte, besonders wichtig war. Der Hunger auf Musikerleben ist auch bei ihm, dem sonst so viel- und jetzt auch weniger Beschäftigten offenbar sehr groß. Auf seinem Gesicht konnte man jedenfalls ablesen, wie er jede Phrase dieser beiden Stücke uneitel durchlebte, jedem Ton nachlauschte. Und selbst zehrte von der Genialität Mozarts und Wagners.
Am Ende verbeugten sich die Musiker ins Leere vor dem imaginären Publikum an den Fernsehern. Und dann war noch einmal der leere Saal der Staatsoper zu sehen. Er sah jetzt gar nicht mehr so gespenstisch aus, sondern irgendwie friedlich.
Kirsten Liese, 9. Mai 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Lieses Klassikwelt 18: ein offener Brief an Daniel Barenboim Staatsoper Unter den Linden