Ein Abend voller Gegensätze: "Pierrot lunaire" und "La voix humaine" in Hamburg

Arnold Schönberg, „Pierrot lunaire“, Francis Poulenc, „La voix humaine“,  Staatsoper Hamburg, 15. Oktober 2020

Foto: Anja Silja in „Pierrot lunaire“. © Brinkhoff /Moegenburg

Staatsoper Hamburg, 15. Oktober 2020

Arnold Schönberg, Pierrot lunaire
Francis Poulenc, La voix humaine

Ein „Pierrot lunaire“, der von einer miserablen „Inszenierung“ völlig ruiniert wird. Eine „voix humaine“, die sowohl gesanglich als auch szenisch überzeugt. Und ein Philharmonisches Staatsorchester, das mit Schönberg und Poulenc deutlich besser klarkommt als mit Rossini.

von Johannes Karl Fischer

Erfreulicherweise stehen in diesen Wochen zwei Opernraritäten auf dem Spielplan in Hamburg: Pierrot Lunaire von Arnold Schönberg und La voix humaine von Francis Poulenc. Die beiden äußerst dünn besetzen Stücke sind bestens geeignet für Oper trotz Corona. Gerade bei La voix humaine wäre eher „Oper wegen Corona“ zutreffend.

Zuerst Pierrot lunaire. Eigentlich ein sehr schönes Stück. Obwohl Schönberg ja nicht jedermanns Sache ist, war es überraschend gut ausgelastet. Wer gerne Schönberg hört, lässt sich vermutlich nicht von einer dynamischen Corona-Welle abschrecken. Und auch nicht von bestreikten U-Bahnen.  

Das Melodram wurde aber leider weder szenisch noch konzertant aufgeführt, sondern mit einer Video-„Inszenierung“ von Luis August Krawen. Nein, liebe Leserinnen und Leser, das haben Sie nicht falsch verstanden: Statt eines Bühnenbilds oder den MusikerInnen tauchte hinter dem Vorhang eine riesige Leinwand auf, auf der während des gesamten Stücks ein Film gezeigt wurde. Das Orchester saß im Graben, neben ihnen standen die Sängerinnen. Was soll das? Kino mit Live-Musik? So etwas hat in der Hamburgischen Staatsoper nichts zu suchen!

Modern, traditionell, konservativ, liberal, opulent, spartanisch: Nur eine kleine Auswahl an Möglichkeiten, wie man an die monumentale Aufgabe herangehen kann, eine Oper zu inszenieren. Ein Film als Inszenierung gehört nicht dazu! Oper und Kino: das ist wie Sport und Naturwissenschaft. Eher sollte man sich mal ein Beispiel an der Dreigroschenoper-Inszenierung von Antú Romero Nunes (Thalia-Theater) nehmen. Wie wäre es mit einer Zauberflöte nach dem Motto: „Alle sind Mozart“?

Zurück zu Pierrot lunaire: Dieser Film erinnerte auch noch sehr an die Lufthansa-Sicherheitsvideos von vor 20 Jahren. Nicht an irgendetwas, was nur im entferntesten Sinn mit den Gedichten von Albert Giraud zu tun haben könnte. Das soll Oper sein?

Nicole Chevalier und Marie-Dominique Ryckmanns sangen dieses Stück so, wie es der Text und die Musik vorschreiben: sehr beängstigend. Als ob der Weltuntergang bevor stünde. 1911 war das ja auch fast der Fall.

Überraschenderweise konnte auch das Philharmonische Staatsorchester überzeugen. Schönbergs sehr anspruchsvolle Musik meisterten sie mit Bravour. Meine Rede: Dieses Orchester kann sehr, sehr gut spielen. Man siehe Parsifal, Falstaff und jetzt Pierrot lunaire. Warum sie dann die Barbier-Ouvertüre oder den Eugen Onegin derart vergeigen müssen, ist mir unklar. Am Pult stand übrigens nicht Kent Nagano, sondern Nicolas André. Auch er erfüllte die hohen Ansprüche Schönbergs.

Nach dieser völlig unpassenden Pierrot-lunaire-„Inszenierung“ ging es mit La voix humaine weiter. Diesmal tatsächlich szenisch. Die eher minimalistische Inszenierung von Georges Delnon passte sehr gut zu der äußerst dünn besetzen Oper. Gerade einmal eine Gesangsstimme sieht Poulenc vor.

Die Inszenierung nahm nur einen Bruchteil der Bühne in Anspruch, weshalb hinter ihr auch noch das Orchester auf die Bühne passte. Trotz Corona-Abständen. So wirkte die Bühne recht voll, trotz der Mini-Besetzung. Und die namenlose Frau wurde in den Vordergrund der Oper gerückt. Nicht nur von Poulenc, sondern auch von Delnon. Sehr schön.

Auch gesanglich war das Niveau höher als bei Pierrot lunaire. Kerstin Avemo sang diese Rolle, als wäre sie selbst diese namenlose Frau. Ein äußerst selbstbewusster Auftritt der Sopranistin. Dazu jonglierte sie noch die vielfältigen Emotionen dieser Rolle in elegantester Weise. Von den komischen Elementen, die am Anfang der Oper erschienen, war im bitter-ernsten Finale nichts zu spüren. Nur ihr Französisch war etwas verbesserungswürdig. Beispielsweise wurde aus „j’ai de la chanceirgendwie „j’ai de le chance.“ Schade. Quel dommage.

Poulencs Partitur ist ähnlich herausfordernd wie die von Schönberg. Auch hiermit hatte das Orchester keinerlei Probleme. Gerade das Xylophon als klingelndes Telefon erinnerte schon fast an Éclat/Multiples von Boulez. Très bien fait!

Alles in allem ein sehr schöner Abend. Wobei es eine gute halbe Stunde lang überhaupt nicht danach aussah. Arnold Schönberg ist einer der genialsten Komponisten aller Zeiten. Gerade wegen der Zwölftonmusik. Die übrigens in Pierrot lunaire noch nicht zu hören ist. Was hätte Schönberg nur zu solchen Inszenierungen gesagt, die dermaßen respektlos mit seiner Musik umgehen?

Fazit: Eine miserable Pierrot-Lunaire-„Inszenierung“. Demgegenüber standen eine sehr schöne „voix humaine“ mit einer herausragenden Kerstin Avemo sowie ein ungewohnt hohes Niveau im Philharmonischen Staatsorchester.

Fünf Mal steht der Doppelabend noch auf dem Spielplan. Besonders Poulenc-Fans ist diese Vorstellung sehr zu empfehlen.

Johannes Karl Fischer, 16. Oktober 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at


Eine Rezension über Anja Silja in der Staatsoper erscheint in Kürze bei klassik-begeistert.de.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert