Höchste Zeit, sich als Musikliebhaber neu mit der eigenen CD-Sammlung und der Streaming-Playlist auseinanderzusetzen. Dabei begegnen einem nicht nur neue oder alte Lieblinge. Einige der „Klassiker“ kriegt man so oft zu hören, dass sie zu nerven beginnen. Andere haben völlig zu Unrecht den Ruf eines „Meisterwerks“. Es sind natürlich nicht minderwertige Werke, von denen man so übersättigt wird. Diese sarkastische und schonungslos ehrliche Anti-Serie ist jenen Werken gewidmet, die aus Sicht unseres Autors zu viel Beachtung erhalten.
von Daniel Janz
Wer kennt es nicht? Im Konzertrepertoire gibt es eine Reihe von Stücken, die angeblich jedem gefallen und die scheinbar auch jeder hören will. Leidgeplagte Musiker und Solisten kennen sicherlich diesen Wunsch, nach ihren aufwändigen, einfühlsamen und herausragenden Meisterwerken doch bitte auch noch einmal „das Eine“ aufzuführen. Und allzu oft ist mit diesem „Einen“ einer jener Klischee-„Klassiker“ gemeint, die bereits jeder – egal ob Musiker oder Zuhörer – auswendig kennt. Solch ein Fall von „das Eine“ haben wir auch beim Opus 59 von Beethoven, besser bekannt als „Für Elise“.
Eigentlich ist „Für Elise“ eine schnörkellose, nicht allzu aufwändige aber auch nicht plumpe Komposition. Sie gehört zu den bekanntesten Werken des weltberühmten Ludwig van Beethoven und die Frage, wer diese Elise nun ist, der der Zeit seines Lebens unverheiratete Künstler dieses Werk gewidmet hat, treibt bis heute die Forschung um. Musikalisch ist die ein Paradebeispiel für ein Rondo: Hier finden wir ein periodisch aufgebautes Hauptmotiv, einmal wiederholt, dann per Gegenfigur ausgestaltet und noch einmal eine doppelte Wiederholung, bevor eine strophenähnliche Passage folgt – das alles in mehreren Zyklen mit jeweils unterschiedlicher Strophe.
Das ist ein Aufbau, wie wir ihn auch beim späten Mozart finden könnten. Tatsächlich begegnet einem diese A-B-A-C-A-Form so auch in vielen anderen Kompositionen, ist aber selten so ausgereift, wie hier. Denn durch das untergeordnete A-A-B-A-A-Schema des Hauptmotivs entsteht eine Mischung aus Wiederholung und Abwechslung, die zur Festigung des Hauptmotivs führt. Diese periodische Gliederung, bei der sich jeweils nur die Schlussgruppe unterscheidet, dürfte damit der Hauptgrund für die Eingängigkeit und Bekanntheit dieses Werks sein. Und glücklicherweise ist „Für Elise“ auch kurz genug, dass es trotz ständiger Wiederholungen bei einmaligem Hören noch nicht zu langweilen beginnt.
Bemerkenswert ist die Reduzierung auf das Wesentliche, die in vielen von Beethovens Werken ins Ohr sticht. Lange Überleitungen, Zwischenspiele oder gar freie Läufe, wie bei anderen Komponisten, bietet er zwar auch an. In „Für Elise“ sind diese aber einer inneren Logik unterworfen: So münden selbst die strophenartigen Zwischenspiele mit ihren letzten Tönen wieder im Hauptthema selbst. Ein Übergang, der dem Komponisten so weich gelingt, dass der Wechsel kaum auffällt.
Beethoven schuf mit „Für Elise“ also auf rein formeller Basis bereits ein Werk, das darauf ausgelegt ist, in Erinnerung zu bleiben. Dazu ist es keine besonders dramatische Komposition. Es finden sich zwar im C-Teil Anklänge an das, was man aus anderen, größer angelegten Werken von Beethoven kennt. Doch das Hauptthema selbst ist eher eine ruhig fließende, sanfte Melodie. Nein, diese Komposition ist nicht darauf ausgelegt, große oder aufwühlende Momente zu spenden. Viel eher lässt sich ihr Ausdruck als wohlgefällig und seicht beschreiben. Manch einer mag gar schon versucht sein, sie in die Kategorie der Bagatelle abzuschieben.
Dazu kommt auch eine für sich stehende Einfachheit: Egal ob Profi oder Anfänger, grundsätzlich jeder Klavierspieler ist diesem Werk gewachsen und kann ihm mit nicht allzu viel Übung sogar einen eigenen Anstrich verleihen. Und wie sich in dieser Kolumne auch schon an anderen Beispielen gezeigt hat: Einfachheit und Eingängigkeit sind fast schon Garanten für Ohrwürmer und damit meistens auch Gefälligkeit.
Und so kommt es, dass „Für Elise“ nun zu einer jener Kompositionen geworden ist, die jeder kennt und jeder im Repertoire haben muss – ob man sie nun mag oder nicht. Wird ein Klavierspieler nach „dem Einen“ gefragt ist gefühlt in 90 % der Fälle entweder diese Komposition oder Mozarts Türkischer Marsch gewollt – sehr zum Leidwesen aller anderen Anwesenden. Denn das Klavier-Repertoire endet nicht bei diesen beiden überaus bekannten Werken. Klavierkompositionen von Bach, Chopin, Schumann, Fauré, Franck und auch Debussy erreichen ähnliche, wenn nicht sogar stärkere Eindrücke. Und da sind zeitgenössische Werke noch gar nicht berücksichtigt, die sich auf YouTube teilweise einer in die Millionen gehenden Anhängerschaft erfreuen.
Und dennoch nimmt „Für Elise“ eine Sonderstellung ein. Es scheint, als müsste jeder, der etwas auf sich hält, diese Komposition mindestens einmal auf CD gebannt haben. Zu kaum einem anderen Werk für Klavier gibt es so viele Einspielungen und Referenzen. Bereits Wikipedia nennt über 35 Verwendungen im Bereich Pop-Musik und Film. IMDB kommt sogar auf fast 200 Bezüge und auch das deckt nur den Bereich Film ab. Da sind Verwendungen, wie für Klingeltöne oder Werbung noch gar nicht bedacht. Das WDR-Sinfonieorchester zählte 2001 noch 1,6 Mio Google-Treffer für dieses Werk. Mittlerweile sind es über 28 Millionen – Tendenz steigend.
Man kann daher zurecht sagen: „Für Elise“ ist eine jener Beethoven-Kompositionen, die uns in regelrecht inflationärer Weise durch alle Medien hindurch aufgezwungen wird. Ähnlich, wie auch die „Mondscheinsonate“, ist sie so präsent, dass selbst völlige Klassik-Abstinenzler ihr sicher schon dutzende Male begegnet sein dürften, sei es in Film, Fernsehen, Werbung oder dem Internet. „Für Elise“ gehört damit auch zu den Klavierwerken, die als „überrepräsentiert“, wenn nicht sogar „allgegenwärtig“ eingeordnet werden müssen.
Das Problem einer solchen Überrepräsentation ist nicht nur die damit einhergehende Gewöhnung und Abstumpfung gegenüber der Musik. Sondern auch, dass man ihr mit der Zeit überdrüssig wird. Der Zuhörer, der einen Pianisten nach „diesem Einen“ Stück fragt, mag es vielleicht noch genießen können. Den Pianisten, der dieses Werk sicherlich schon hunderte, wenn nicht tausende Male in seinem Leben gespielt hat, dürfte es aber nur noch nerven. Und genauso geht es einem auch als Zuhörer, wenn man gefühlt zum zweihundertsten Mal über dasselbe Stück stolpert. Denn die Beschränkung nur auf das Klavier hat bei so einer kurzen Komposition auch zur Folge, dass der Interpretationsspielraum begrenzt ist. Und irgendwann gibt es nichts Neues mehr zu entdecken. Ein Grund, weshalb ich beispielsweise reine Klavier- und Kammermusikabende inzwischen meide.
Es soll Beethovens Vermächtnis nicht schmälern, wenn man von der Überrepräsentation einzelner Titel inzwischen so überfrachtet ist, dass man sie nicht mehr hören mag. Für diese kleine Klavierkomposition sprechen ja auch sowohl ihr Bekanntheitsgrad, als auch die anhaltende Beliebtheit. Aber ihre ständige Überrepräsentation sorgt dafür, dass „Für Elise“ von Mal zu Mal nerviger wird. Deshalb soll am Ende hier der Appell bleiben, vielleicht doch das ein oder andere Mal auf diesen Titel zu verzichten. Der Bekanntheit wird es keinen Abschlag tun und nicht nur die gelangweilten Solisten werden es danken. Sondern auch leidgeplagte Konzertgänger (wie ich) denen diese Musik so sehr aus den Ohren heraushängt, dass sie sie inzwischen nicht mehr hören mögen.
Daniel Janz, 29. Oktober 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Ladas Klassikwelt (c) erscheint jeden Montag.
Frau Lange hört zu (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Sommereggers Klassikwelt (c) erscheint jeden Mittwoch.
Hauters Hauspost (c) erscheint jeden zweiten Donnerstag.
Radek, knapp (c) erscheint jeden zweiten Donnerstag.
Pathys Stehplatz (c) erscheint jeden zweiten Donnerstag.
Daniels Antiklassiker (c) erscheint jeden Freitag.
Spelzhaus Spezial (c) erscheint jeden zweiten Samstag.
Der Schlauberger (c) erscheint jeden Sonntag.
Ritterbands Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Sonntag.
Posers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Sonntag.
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Daniels Anti-Klassiker 34: Giuseppe Verdi – Triumphmarsch aus „Aida“ (1871)