BRSO-Blomstedt © Astrid Ackermann
Kaum ein Bericht über Herbert Blomstedt kommt ohne Erwähnung seines Alters aus, und auch der Schreiber dieser Zeilen mag nicht so recht darauf verzichten, denn was dieser tiefgläubige 95-jährige Asket (kein Alkohol, kein Kaffee und ein sehr religiöses Leben – Blomstedt ist Adventist) noch immer in die Konzertsäle der Welt zaubert, das ist eben absolute Meisterschaft seines Fachs, das ist Klangmagie – auch und gerade in den Aufführungen von Sinfonien des ebenfalls frommen Herrn Bruckner.
Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809-1847) – Violinkonzert e-Moll op. 64
Anton Bruckner (1824-1896) – Sinfonie Nr. 4 Es-Dur, Romantische
Leonidas Kavakos, Violine
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Herbert Blomstedt, Dirigent
München, Herkulessaal, 13. Januar 2023
von Dr. Brian Cooper, Bonn
Zum ersten Mal besuche ich den Herkulessaal, und zum ersten Mal erlebe ich Herbert Blomstedt mit Bruckner, nachdem ich ihn schon einige Male mit anderem Repertoire erlebt habe, darunter spannende Entdeckungen verschiedener Werke von Berwald und Stenhammar sowie die etwas bekannteren sinfonischen Gefilde des Dänen Carl Nielsen.
Selten habe ich vor einem Konzert so viele Menschen mit „Suche Karte“-Schild gesehen. Einige sehen hoffnungsvoll aus, andere bereits leicht resigniert, denn der Saal ist an beiden Abenden ausverkauft. (Hier soll vom zweiten die Rede sein.) Man hört Gesprächsfetzen, draußen wie drinnen: „War gestern schon da… toll“, „Jaja, seit Jahrzehnten abonniert…“, „Und woher kommen Sie?“ – „Aus Landau in der Pfalz.“
Man reist also weit; ein Ereignis steht bevor. Zu Beginn des Abends steht „das“ Violinkonzert von Mendelssohn auf dem Programm, also jenes in e-Moll op. 64, das weitaus bekanntere der beiden, die der Komponist schrieb; es gibt auch ein frühes – hörenswertes – Jugendwerk in d-Moll. Nach der Pause dann Bruckners Vierte.
Leonidas Kavakos ist der Solist im op. 64. Heitere Stimmung, schon bevor es losgeht: Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (BRSO) sitzt bereit, das Publikum ist nahezu verstummt in Erwartung von Solist und Dirigent, aber die Tür zur Bühne ist offengeblieben, und man hört deutlich, wie Kavakos noch eben kurz die ersten Töne anspielt. Gelächter im Saal. Kurz darauf geleiten er und Solobratschist Hermann Menninghaus den fragil wirkenden Dirigenten zu seinem Podest.
Unzählige hervorragende Einspielungen gibt es vom sattsam bekannten op. 64, und so vergisst man allzu leicht, was es doch für ein teuflisch schweres Werk ist – für das Orchester wie auch für den Solisten. Nicht immer war alles astrein synchron, zumal im Kopfsatz, aber die Aufführung hatte trotzdem insgesamt etwas sehr Erhabenes. Und das lag an allen. Trotz vernünftiger – d.h. nicht gehetzter – Tempi schickte Blomstedt, insbesondere im dritten Satz, die verschiedenen Orchestergruppen als Elfen, Kobolde und Waldgeister auf einen durchaus wilden Ritt.
Kavakos, dessen Stradivari in der tiefen Lage wunderbar sonor klingt, geht Risiken ein, die sich größtenteils auszahlen; er, der vor unfassbarer Technik und Musikalität nur so strotzt, und das auf die bescheidenste aller Arten (er hat eine äußerst angenehme Bühnenpräsenz), nimmt sich winzigste agogische Freiheiten, die jede Phrase mit Unerwartetem anreichern können.
Ähnliches geschieht auch in der Bach-Zugabe, der Sarabande aus der h-Moll-Partita, mitsamt Double: In die Wiederholungen baut Kavakos kleinste Verzierungen ein, die so nicht im Notentext stehen, die aber keinesfalls störend wirken. Es geht immer um Bach bzw. Mendelssohn, nicht um Kavakos. Und das ist großes Künstlertum. Die Arpeggien klingen herrlich. Man würde gern einen Bach-Abend mit ihm erleben, wie ihn dereinst Gil Shaham in Köln gab, der übrigens kommende Woche in einem tollen Programm (u.a. Barber und John Adams) der Solist des BRSO sein wird.
Bruckners Romantische, in der geläufigen zweiten Fassung (1878/1880) aufgeführt, begann nicht besonders gut. In der CD-Aufnahme hätten ein paar Worte gereicht: „Bitte nochmal von vorn. Konzentration.“ Es war nicht das BRSO, wie man es gewohnt ist.
Doch das galt wirklich nur bis zum ersten forte: Ab da war man drin in der Musik, und ab dann wurde diese Vierte Sinfonie zu jenem denkwürdigen Ereignis, das man sich erhofft und insgeheim auch erwartet hatte – nämlich zu einer Klangkathedrale gewaltigen Ausmaßes, die Bruckner-Baumeister wie Blomstedt erschaffen können, sofern sie ein Weltklasseorchester vor sich haben.
Jeder Triller, jedes Tremolo, jede noch so vermeintlich unbedeutende Note wurde gestaltet, und zwar nicht nur von Blomstedt, dessen Gesten sparsam waren, sondern auch von allen ersten Pulten in den Streichern. Überhaupt sah man im gesamten Orchester viel Zugewandtheit an den Pulten und das eine oder andere Lächeln zwischen Kolleginnen und Kollegen beim Spielen: ein Kollektiv, das unter seinem Gestalter besonders aufmerksam aufeinander hörte.
Und so wurden etwa das Holz im Aufbau zur Schlussapotheose im ersten Satz, die Cellokantilene zu Beginn des zweiten Satzes sowie die legendäre Bratschen-Vorspielstelle, ebenfalls im zweiten Satz, zu gänzlich lebendiger Klangkunst, bei der alles atmete. Und das Jagd-Scherzo mitsamt seinem Trio war an musikantischer Vollkommenheit und Präzision nicht zu übertreffen.
Kaum ein Bericht über Herbert Blomstedt kommt ohne Erwähnung seines Alters aus, und auch der Schreiber dieser Zeilen mag nicht so recht darauf verzichten, denn was dieser tiefgläubige 95-jährige Asket (kein Alkohol, kein Kaffee und ein sehr religiöses Leben – Blomstedt ist Adventist) noch immer in die Konzertsäle der Welt zaubert, das ist eben absolute Meisterschaft seines Fachs, das ist Klangmagie – auch und gerade in den Aufführungen von Sinfonien des ebenfalls frommen Herrn Bruckner. (Der bei Querstand erschienene Gewandhaus-Zyklus ist ja leider nur schwer zu bekommen; vielleicht legt man ihn nochmal auf.)
Der vierte Satz nämlich, für den Blomstedt ein perfektes Tempo wählte, in dem alles pulsierte und nichts gehetzt war, stellte dann endgültig die Frage nach den letzten Dingen. Es wurde gewissermaßen an die Himmelspforte geklopft. Ob man nun an „den lieben Gott“ glauben mag, dem Bruckner seine Neunte sogar widmete, oder nicht: Dieser Abend im Herkulessaal war denkwürdig. Die Stille nach dem letzten Es-Dur-Akkord war ergreifend, auch wenn sie leider durch den verfrühten Applaus einiger Ungeduldiger gebrochen wurde.
Dr. Brian Cooper, 15. Januar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Berliner Philharmoniker, Herbert Blomstedt, Leitung Philharmonie Berlin, 30. September 2022
NDR Elbphilharmonie Orchester, Herbert Blomstedt, Dirigent Elbphilharmonie, 17. Juni 2022
CD- Rezension: Anton Bruckner, Symphonien 1-9, Berliner Philharmoniker