Es siegt die Wahrheit über das Vergnügen

Georg Friedrich Händel: „Il trionfo del Tempo e del Disinganno“  Philharmonie Berlin, 9. März 2023

Emmanuelle Haïm (Foto: Marianne Rosenstiehl)

Georg Friedrich Händel: „Il trionfo del tempo e del disinganno“

Elsa Benoit  Sopran
Julia Lezhneva Sopran
Iestyn Davies Countertenor
Anicio Zorzi Giustiniani Tenor

Berliner Philharmoniker
Emmanuelle Haïm Dirigentin

Philharmonie, Berlin, 9. März 2023

von Kirsten Liese

Das 1707 uraufgeführte Oratorium, das Händel im Alter von 22 Jahren in Rom schrieb, ist ein bemerkenswertes, ungewöhnliches Stück ohne Chor mit nur vier Allegorien als Figuren.

Protagonistin ist Bellezza, die Schönheit, die zunächst Piacere, dem weltlichen Vergnügen, verfällt, im Laufe des Diskurses mit der Erkenntnis (Disinganno) und der Zeit (Tempo) aber zu der Einsicht kommt, dass alles Irdische vergänglich ist und sich deshalb der göttlichen Wahrheit verschreibt.

Dass Kardinal Benedetto Pamphilj in sein Libretto eine christlich-moralische Mission einbrachte, lässt sich denken. Und doch reicht der Text, wenn man ihn weiter fasst, zeitlos darüber hinaus. Wahrheiten sind ja in der Tat nicht immer leicht zu erkennen und schmecken mitunter bitter, wenn sie ans Licht gelangen. Ganz gleich, ob es sich dabei um lang gehütete Familiengeheimnisse handelt, um missbrauchtes Vertrauen oder Verlogenheiten und falsche Versprechen seitens der Politik. Und lenken nicht Partys, seichte Fernsehshows und Volksfeste in der Tat davon ab, unbequemen Wahrheiten auf den Grund zu gehen?

Bellezza jedenfalls lernt es, die wahren Werte des Lebens zu ermessen und sich von dem Vergnügen (Piacere), abzuwenden. Der Anblick der Wahrheit lässt sie „traurig werden, zweifeln und erbleichen.“

In der Berliner Aufführung befeuert dabei vor allem Julia Lezhneva den Wettstreit mit ihren Kontrahenten, als unnachgiebige Piacere zieht sie alle Register ihrer Verführungskunst, um ihn zu gewinnen. Sie schmeichelt, flirtet, schnurrt und faucht, mutiert darunter vom zahmen Kätzchen zu einer wilden Löwin, die sich in ihrem letzten Kampf noch einmal mit aller Macht aufbäumt.

Julia Lezhneva © Emil Matveev

„Wie die Wolke vor dem Wind flieht, so fliehe ich dich zornig und ernst“ flucht sie in ihrer letzten imposanten Arie, durchzogen von rasanten Koloraturen, teils irrwitzigen Tonsprüngen und Kaskaden in schwindelerregenden Höhen. Die Virtuosin  ist da ebenso in ihrem Element wie die Perfektionistin, die einige dieser schnellen Tonfolgen im Duett mit der Solo-Violine des Konzertmeisters Daishin Kashimoto auf den Punkt zusammen meistert. Und während sie hier ihre Spitzentöne durchaus mit einigen Schärfen abfeuert, verströmt sie wenige Minuten zuvor mit der Arie „Lascia la spina“ („Lass die Dornen, pflücke die Rose“), deren Schönheit Händel dazu brachte, sie Jahre später in seinem Musikdrama „Rinaldo“ wiederzuverwenden, anrührend Zärtlichkeit.

Es mag erstaunen, dass Händel seinen  Trionfo  ausschließlich mit hohen Stimmen besetzte. Aber das fällt kaum auf, schon allein aufgrund der unterschiedlichen Timbres und der wechselnden Affekte in der Musik.

Die Hauptpartie, Bellezza, ist bei der Französin Elsa Benoit bestens aufgehoben, ihr Sopran ist von kristalliner Schönheit und damit geradezu prädestiniert für diese Rolle. In ihrer schönsten Arie  „Io sperai trovar nel vero il piacer“ („Ich hoffte, in der Wahrheit die Freude zu finden, doch ich sehe sie noch nicht“) tritt sie in einen melancholisch angehauchten inniglichen Dialog mit der Solo-Oboe, mit kammermusikalischem Feinsinn musiziert von Jonathan Kelly.

Elsa Benoit © Adrian Schaetz

Am besten aus dem Solistenquartett gefiel mir allerdings der Brite Iestyn Davies als „Zeit“, ein Countertenor von einem hinreißenden Wohllaut, in allen Registern agil und mit einer prächtigen Kopfstimme gesegnet. Am schönsten kam sie in zwei Arien zum Tragen, die sich farblich auch dank zwei Blockflöten (Sébastien Marq und Meillane Wilmotte) als Solo-Instrumenten von allen anderen absetzten.

Die Namen sämtlicher Holzbläser-Solisten hätten nebenbei gesagt eine Erwähnung im Programmheft verdient. Warum dort nur die Mitwirkenden der Continuo-Gruppe nachzulesen stehen, erschließt sich mir nicht.

Über eine geschmeidige, schöne, große Stimme verfügt auch der Italiener Anicio Zorzi Giustiniani als Vierter im Bunde, nur erinnerte mich sein honigfarbener Belcanto-Sound eher an die Helden der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts, Cavaradossi, Rodolfo, Don Carlo oder Alfredo.

Aber das fiel nicht groß ins Gewicht, zumal diese Aufführung nicht von einem Spezialensemble wie Concerto Köln oder der Akademie für Alte Musik bestritten wurde, sondern von den Berliner Philharmonikern, die sich auf die historische Klangrede verstehen, jedoch auf ihren modernen Instrumenten spielen.

Noch vor 20 Jahren hätte ich daran vielleicht Anstoß genommen, aber dank so exquisiter, hoch motivierter Dirigentinnen und Dirigenten wie Emmanuelle Haïm, Michael Hofstetter oder Ivor Bolton, überzeugen mich solche Mischformen durchaus. Nur moderne Silberflöten anstelle der Blockflöten hätte ich nicht gerne hören wollen, das hätte einen klanglich zu großen Stilbruch bedeutet.

Die Zusammenarbeit der Berliner mit Haïm bewährt sich schon seit mehreren Jahren, aus meiner Sicht wird sie immer mehr zum weiblichen Gegenstück von René Jacobs, der Jahr für Jahr an der Berliner Staatsoper vergessene oder kaum bekannte Musikdramen einstudiert. Die Französin pflegt auch einen ähnlichen Dirigierstil wie Jacobs, ohne Taktstock mit minimalistischen Bewegungen in beiden Armen und einem leichten Nachfedern dazu in den Knien. Alles wirkt sehr präzise und auf wenige Impulse konzentriert, und doch ist der ganze Körper stets in Schwingung.

Einige Rezitative am Cembalo spielt die Französin auch, überwiegend im Stehen, nur der Klavierhocker, den sie kurzzeitig für etwas längere Passagen braucht, steht ihr im Weg.

Der nachdenkliche Ausklang  mit einer Soloarie der Bellezza ohne ein Ensemble, geschweige denn einen Schlusschor, überrascht. Und doch hätte ich mir keine bessere Aufhellung gegen die trübe Stimmung eines verregneten, kalten Märzabends denken können. Händels herrliche Musik war einfach Balsam für die Seele. Wieder einmal.

Kirsten Liese, 11. März 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

CD-Rezension: 20 ans Le Concert d’Astrée, Emmanuelle Haїm klassik-begeistert.de

La Voce Strumentale, Julia Lezhneva Kammermusiksaal Berlin, 10. Oktober 2022

Georg Friedrich Händel: Belshazzar Museumsquartier (MusikTheater an der Wien), 24. Februar 2023

2 Gedanken zu „Georg Friedrich Händel: „Il trionfo del Tempo e del Disinganno“
Philharmonie Berlin, 9. März 2023“

  1. Sehr geehrte Frau Liese,
    die Namen der beteiligten Holzbläser stehen wie an jedem Konzertabend der Philharmoniker im Programmheft, in der Nennung der Orchestermusiker aller Positionen; und wer sie oft genug gehört und gesehen hat und auch mal die Bildergalerie des Orchesters betrachtet hat, weiß dann z.B., daß an diesen Abenden Schweigert am Fagott war, Kelly und Hartmann an der Oboe …
    Daishin Kashimoto als einen von mehreren Konzertmeistern haben Sie doch auch erkannt.
    Es grüßt R. Roßdeutscher

  2. Sehr geehrter Herr Roßdeutscher,

    Herrn Kelly kann man – wenn man eigens die Bildergalerie googelt – noch ermitteln, definitiv aber nicht die beiden zusätzlich verpflichteten exquisiten Blockflötenspieler.

    Gruß,
    K. Liese

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