Photos: Olaf Malzahn
„Darauf könnt ihr euch freuen!“, hieß es allenthalben aus dem begeisterten Rund der Premierenbesucher – ja, auch wenn die Kryonik, also die Konservierung lebender Organismen durch Einfrieren, in der Lübecker „Semele“ bereits funktioniert, so ist das Klonen der eigenen Person leider noch nicht möglich. Wenn der Rezensent also selbst am Premierenabend, 15. November 2024, Vortragender ist und nicht an zwei Orten gleichzeitig sein kann, so ist das bedauerlich, aber es gibt ja glücklicherweise noch reichlich weitere Termine dieser in jeder Hinsicht überzeugenden Produktion. Und wo wir schon bei den kryptischen Nennungen futuristischer Techniken sind: Händel konnte für die Zukunft komponieren!
Georg Friedrich Händel, Semele
Oper nach Art eines Oratoriums in drei Akten
Sophie Naubert, Sopran
Laila Salome Fischer, Mezzosopran
Frederick Jones, Tenor
Florian Götz, Bariton
Delia Bacher, Alt
Andrea Stadel, Sopran
Takahiro Nagasaki, Dirigent
Stephen Lawless, Inszenierung
Chor des Theaters Lübeck
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
Theater Lübeck, 23. November 2024
von Dr. Andreas Ströbl
Nun aber Schluss mit den Andeutungen und in die knallharte Wirklichkeit der 60er Jahre, genauer gesagt der Kennedy-Ära und der Affäre des damaligen US-Präsidenten mit Marilyn Monroe. Solche Szenarien sind zumindest dem heutigen Publikum weitaus näher als göttliche Liebes- und Eifersuchtsgeschichten mit Jupiter, Juno und antikem Sagenpersonal.
Regisseur Stephen Lawless hat am Lübecker Theater in den vergangenen Jahren mehrere erfolgreiche Opern-Inszenierungen auf die Bühne gebracht. Händels „Oper nach Art eines Oratoriums in drei Akten“, so der etwas sperrige Untertitel, besticht durch großartige Regieeinfälle, vor allem aber dadurch, dass Lawless die Geschichte von der Affäre des Göttervaters Jupiter mit einer Menschenfrau, die eigentlich einen Prinzen heiraten soll und letztlich unter die Räder des Schicksals gerät, im Weißen Haus spielen lässt und mit einigen ikonischen Bildern und Zitaten die Zeit der Kuba-Krise und der Hippie-Bewegung beschwört.
Das gelingt schon allein durch die wundervollen Kostüme von Ashley Martin-Davis, die auch das Bühnenbild entworfen hat. Jeder erkennt sofort den Charming-Boy-Präsidenten und seine Gattin Jackie mit den ultramodischen Kleidern (Pillbox-Hütchen inklusive), die das göttliche Ehepaar geben; Semele mit blonder Perücke und weißem Kleid, das sich wie in „Das verflixte 7. Jahr“ selbstverständlich über dem berühmten Lüftungsschacht in die Höhe hebt, ist mehr als nur ein Marilyn-Verschnitt. Der Spiegel, in dem die selbstverliebte Semele sich betrachtet, ist tatsächlich das deutsche Nachrichtenblatt – nur eine von vielen wunderbaren Ideen.
Video-Einspielungen von Andreas Beer zaubern zusammen mit dem Licht von Falk Hampel sowohl barocke Gewitter im ganzen Saal als auch Zeitkolorit (beispielsweise mit Starfightern) bzw. verbinden beides genial miteinander, wenn etwa Jupiter als Adler im Libretto besungen wird und sich zugleich im Siegel des US-Präsidenten riesenhaft erhebt.
Barock-Opern können etwas langatmig sein, schon allein wegen der ständigen Text-Wiederholungen mit – seien wir ehrlich – manchmal nur geringfügigen musikalischen Variationen. Die Lübecker „Semele“ ist zum größten Vergnügen kurzweilig, denn alle Mitwirkenden „über“-spielen diese Längen mit Charme, Witz und detailverliebter Interaktion. Lawless’ intensive Personenregie trifft auf Künstlerinnen und Künstler, die offensichtlich große Freude am Miteinander und an der eigenen Gestaltung der Rollen haben. Das überträgt sich auch auf das begeisterte Publikum und so gibt es viele Lacher und reichlich Szenenapplaus für ausgezeichnete solistische Leistungen, diesmal mit mehreren Gastauftritten.
Solistische Glanzleistungen
Allen voran erobert sich Sophie Naubert in der Titelrolle schon in der ersten Szene die Herzen der Lübecker; sie spielt herrlich mädchenhaft ein mal mauliges, mal albernes junges Ding, das einfach den Spaß im Leben sucht und sich nicht viel sagen lässt. Ihr Koloratursopran ist atemberaubend und mit der Leichtigkeit einer Lerche tiriliert sie sich durch die halsbrecherischen Solo-Partien.
Ihr Vater, König Cadmus, ist Florian Götz, der schier an der Eigenwilligkeit des Mädchens verzweifelt. Auch er spielt wunderbar humorvoll und besticht durch seinen warmen Bariton. Der muss in seinem Auftritt als im Kryonik-Kühlschrank eingefrorener Schlaf-Gott Somnus allerdings erstmal durch Föne mit warmer Luft aufgetaut werden.
Prinz Athamas versucht mit schüchterner Unbeholfenheit, der ihm Versprochenen einen Antrag zu machen; Ensemblemitglied Delia Bacher gibt mit volltönendem, klarem Alt den jungen Mann so überzeugend, dass manche im Publikum die junge Sängerin für einen Countertenor halten.
Frederick Jones als Jupiter ist in Lübeck ein bereits bekannter Gast und verleiht dem zuweilen mehr an jungen Damen als an der Politik interessierten Präsidenten glaubhafte Gestalt; sein Tenor passt auch besser zu dem bubenhaften Staatenlenker als zu einem Göttervater.
Mit seiner Gattin Juno ist nicht zu spaßen und was passiert, wenn man sich mit der weiblichen Machtfigur auf dem Olymp oder im Weißen Haus anlegt, zeigt bravourös Laila Salome Fischer, früher Teil des Lübecker Ensembles. Das ist genau die Musik dieser vielseitigen Mezzosopranistin (wobei – welche Stilrichtung beherrscht sie nicht?), denn sie versteht es, all die Emotionalität, die in der barocken Partitur steckt, zum Leben zu bringen. Zudem spielt sie auch Semeles Schwester Ino, selbstverständlich mit völlig anderer Intonation und Ausgestaltung.
Andrea Stadel aus dem Ensemble ist Junos Vertraute und macht die Figur mit bewährter Souveränität, Wandelbarkeit und bewundernswerter Selbstironie zu mehr als einer Nebenrolle – großartig ihr Auftritt in der Somnus-Szene als Gogo-Girl-Pasithea!
…eingebettet in ein musikalisches und inszenatorisches Ganzes
Auch der in allen Lagen stimmstarke und vollendet synchron und exakt singende Chor des Theaters Lübeck unter Jan-Michael Krüger tritt in mehreren Szenen aus der ursprünglich angelegten Statik heraus; die Damen und Herren sind mal schicke Partygäste, mal aufgedrehte Hippies in knallbunten Kostümen – die können allesamt nicht nur wunderbar singen, sondern auch schauspielern.
Das musikalische Bett bereitet das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck unter der Leitung des Ersten Kapellmeisters Takahiro Nagasaki, der zugleich das Cembalo und die Kadenzen spielt. Der begnadete (und dabei sympathisch bescheidene) Dirigent verleiht der Musik einen wundervoll schwungvollen Duktus, aber arbeitet auch die ganz feinen, hochemotionalen Passagen delikat heraus.
Eine zu Herzen gehende Szene ist der Tod Semeles durch übermäßigen Tablettenkonsum; ganz alleine liegt sie auf dem riesigen, pinkfarbenen Präsidentenbett und ruft am Telephon um Beistand, psychisch instabil und verletzlich, nur mit einem Mieder bekleidet. Händel hat ganz offensichtlich für einen solch leisen, einsamen Tod die Abschiedsmusik der Hauptfigur komponiert – eigentlich soll Semele ja in Jupiters Flammenbrunst verbrennen.
Vergessen sind in diesem Moment der Spaß und das Partyleben im Blitzlichtgewitter der Star-Presse; kurz nach ihrem Tod werden sich wie Aasgeier im Trenchcoat die Reporter mit ihren bildgierigen Kameras auf das hilflose Opfer stürzen. Die Urne mit der Asche Semeles steht auf dem Schreibtisch im Oval Office, da wartet schon die nächste Geliebte. Auch sonst ergibt die Musik in dieser intelligenten Übertragung auf das mittlere 20. Jahrhundert viel mehr Sinn – dies zur augenzwinkernden Bemerkung mit der Komposition für die Zukunft.
Dass das Gesamtkonzept dieser Inszenierung aufgegangen ist, bewies nach dem angeführten lebhaften Szenenapplaus der enthusiastische, sehr lang anhaltende Beifall des begeisterten Publikums. Man hätte an diesem zweiten Aufführungsabend den Mitwirkenden einen etwas volleren Saal gewünscht. All denjenigen, die meinen, Barockopern seien grundsätzlich zu lang und inhaltlich mühsam, sei der Besuch dieser „Semele“ wärmstens an Herz gelegt!
Dr. Andreas Ströbl, 24. November 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Dazu bestehen die nächsten drei Möglichkeiten am 7. und 28. Dezember sowie am 12. Januar.
Mieczysław Weinberg, Die Passagierin Theater Lübeck, 12. Oktober 2024 PREMIERE
Franz Lehár, Die lustige Witwe Theater Lübeck, Premiere am 7. September 2024