Schweitzers Klassikwelt 140 : Wie voreingenommen sind wir als Rezensenten vor einer Opernaufführung?

Schweitzers Klassikwelt 140 : Wie voreingenommen sind wir als Rezensenten  klassik-begeistert.de, 24. Juni 2025

Cao Fei, The New Angel, 2022, Eiserner Vorhang, museum in progress, Wiener Staatsoper, 2022/2023, Großbild © museum in progress

Im Gegensatz zu den 60er-Jahren wären wir heute enttäuscht, wenn bei einer Così fan tutte wieder die ursprünglichen Paare und nicht Fiordiligi und Ferrando sowie Dorabella und Guglielmo zueinander fänden. Obwohl die Paare Sopran-Tenor und Mezzosopran-Bariton konventioneller wirken. Aber die Inszenierungen von der „Così“ gefallen uns, wo wir fragen: „Ist das jetzt noch gespielt oder bereits echt?“

von Lothar und Sylvia Schweitzer

Von Kindheit an erinnern wir uns an die Königin der Nacht umgeben von funkelnden Sternen. Wie interessant heute, wenn die Königin in Körpernähe des Prinzen, ja manchmal mit körperlichem Kontakt zu ihm bei ihrer glanzvollen Arie tritt.

Nicht in allen Rollen sind uns arrivierte Stars willkommen. Wenn Rodolfo Mimì zum ersten Mal begegnet, lassen wir uns auch gern von einer noch unbekannten Stimme verzaubern.

Umschlagbild DECCA

Den Opernquerschnitt „Don Giovanni“ auf DECCA hunderte Male genossen, ist es ein gutes Zeichen für den Sänger des Don Giovanni, wenn wir den Titelhelden dieser Schallplattenaufnahme, Cesare Siepi, der auch durch Basspartien einen guten Ruf erlangte, bei einer Abendvorstellung nicht unwillkürlich mithören.

Deswegen hatten später hellstimmige Baritone, auch ein Eberhard Waechter oder Bo Skovhus, bei uns keine Chance.

Apropos Objektivität. Bei der letzten Rigoletto-Produktion der Wiener Staatsoper wurde Sparafuciles Spelunke (Bühne Christof Hetzer) harter Kritik unterzogen.

Rigoletto, Wiener Staatsoper © Michael Pöhn

Da hörte bei uns die objektive Kritik auf. Erinnerten wir uns doch bei diesem Bild an unsere Nächtigung in einer Hütte eines von einem Wirbelsturm arg mitgenommenen Resorts in der Südsee und an seine undurchsichtigen Gastgeber.

Virgin Cove, Samoa © Lothar Schweitzer

Oder bei Robert Carsens auf viel Unverständnis gestoßene „Manon Lescaut“, wo Manon und Des Grieux in einer Luxuseinkaufstraße verdursten, wenn man selbst einmal an so einem Ort allein um Mitternacht trotz weihnachtlichen Glanzes eine große innere Leere verspürte.

Weil die Mikrofontechnik verfälscht und außerdem die Oper als Gesamtkunstwerk zu sehen ist, darf der Rezensent nicht ohne Vorwissen der Besetzung die Aufführung vor dem Radioapparat hören. In dem Fall jedoch könnte es nicht passieren, die Nacht vor der Aufführung schlecht zu schlafen, wenn wir wissen, morgen singt eine junge, noch nicht so bekannte Sängerin, der wir schon bei der ersten Begegnung eine große Karriere prophezeit haben. Also eine zu den „Meistersingern“ konträre Situation. Ein in die andere Richtung voreingenommener Merker, der hofft mit seinem Kreidestift nicht kratzen zu müssen.

Der Wiener ist konservativ eingestellt. Das mussten in der Stadtpolitik auch die Grünen schmerzlich erfahren. Für die Neugestaltung der populären Einkaufsstraße, der „MaHü“ (Mariahilferstraße), waren keine Stimmen zu gewinnen. Wäre es nach der Bevölkerung gegangen, fehlte heute als Prachtstraße der „Ring“. Meine Frau und ich sind in der Hinsicht „Amerikaner“. In den USA hofft man bei jedem neuen Namen Zeuge eines Rising Stars zu werden. Die Entdeckungen neuer interessanter Stimmen gehören zu unseren schönsten Opernerlebnissen. Paradebeispiel ist die Janowitz: Von der Ersten Dame zur Fiordiligi und Ariadne.

Gundula Janowitz als Ariadne © Unitel

Mit wenigen Ausnahmen vermieden wir bis heute, eine Sängerin oder einen Sänger mit vorher in der gleichen Rolle erlebten Künstlerinnen und Künstlern zu vergleichen. Von Federica Lombardi, der neuen Norma, schrieben wir, sie hilft uns alle prominenten Vorgängerinnen der Vergangenheit loszulassen. Von Lisette Oropesa, der neuen Violetta, erhofften wir, dass sie uns von dem bisher unauslöschlich gebliebenen Leitbild aus den Siebzigerjahren befreie. Wir hörten den wunderschönen und edlen Klang ihrer Stimme, doch sie fühlte sich zu mädchenhaft an. Bei einer einspringenden Ariadne konnten wir reinen Gewissens die Sängerin gegen Vorurteile mit den Worten verteidigen: „Sie schließt sich der Reihe ihrer prominenten Vorgängerinnen an.“

Erinnerungen können idealisieren. Ein gutes Beispiel einer idealisierenden Erinnerung erfuhren wir bei einem Gedenkabend für unseren verehrten Paul Schöffler. Man spielte Aufnahmen seiner Hans Sachs-Monologe, die wir selbst zu Hause in unsrer Sammlung haben, aber schon länger nicht gespielt hatten. Wir erinnerten uns an einen volleren und dunkleren Klang in der Tiefe, obwohl es die gleiche Single-Schallplatte ist.

Der Bericht über eine Opernaufführung hat seine Grenze. „Jedem einzelnen Opernbesucher ist die Freiheit gegeben, zum Akteur seiner eigenen Erkenntnisse und Erfahrungen mit dem Ereignis Oper zu werden.“ (Aus dem sehr zu empfehlenden Buch: Die Zukunft der Oper – Theater der Zeit – Hg. Barbara Beyer, Susanne Kogler, Roman Lemberg)

„Pelléas et Mélisande“ wird anders empfunden werden, wenn man selbst in einer Ehekrise steckt. Wenn Wotans „Wer meines Speeres Spitze fürchtet, durchschreite das Feuer nie.“ in der Folge am nächsten Tag zu schwierigen Verhandlungen ermuntert, wird dieser Abend trotz späterer Superbesetzungen unwiederbringlich sein. Oder wie viele „Marschallinnen“ sitzen in den Reihen mit Tränen in den Augen beim Schlussterzett im „Rosenkavalier“?

Lothar und Sylvia Schweitzer, 24. Juni 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.

Lothar und Sylvia Schweitzer

Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk  im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“

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