Foto: Wilfried Hösl (c)
Münchner Opernfestspiele, München, Reithalle Schwabing, 27. Juni 2018
Zeig mir deine Wunder, nach Nikolai Rimsky-Korsakows „Das Schneeflöckchen“
Musikalische Leitung und Arrangement, Clemens Rynkowski
Inszenierung, HAUEN UND STECHEN
Regie, Julia Lwowski, Franziska Kronfoth
Dramaturgie, Malte Krasting, Miron Hakenbeck
Leitung Kinderchor, Maxim Matiuschenkov
Long Long, Zar Berendej
Bermjata Bojar, Oleg Davydov
Die Frühlingsfee, Gina-Lisa Maiwald
Vater Frost, Günter Schanzmann
Snegurotschka, Anna El-Kashem
Kupawa, Angela Braun
Misgir, reicher Kaufmann, Thorbjörn Björnsson
Kinderchor der Schule für Chorkunst München
Kammerensemble
Von Raphael Eckardt
In München läuft während der Opernfestspiele derzeit eine Werkstattproduktion, die wohl bereits der für seine präzise Theaterphilosophie bekannte Bertolt Brecht in den 1920er-Jahren eher als interaktives Singspiel, denn als „klassische Oper“ bezeichnet haben dürfte. Da ist dann auch schnell klar, warum das Musiktheaterkollektiv Hauen und Stechen die Schwabinger Reithalle als Veranstaltungsort ausgewählt haben dürfte: Die schlichten Holzbänke, auf denen man eng gedrängt, an Biergartengarnituren sitzend, zu Beginn mitfeiern und echten (wenn auch eher schlechten) Wodka trinken darf, beanspruchen das menschliche Sitzfleisch drei Stunden auf derartig unbequeme und penetrante Weise, dass eine „kollektive Einschlafgefahr“ ohnehin nicht besteht – und die wäre bei ebenjener Produktion wohl mit dem musikalischen und szenischen Tod gleichzustellen! Denn wenn sich das Musiktheaterkollektiv Hauen und Stechen bei der Festspielwerkstatt der Bayerischen Staatsoper Rimsky-Korsakows vieraktigem Opernepos „Das Schneeflöckchen“ annimmt, dann ist nicht nur musikalisch einiges geboten, sondern dann wird das Publikum von der reinen Zuhörerschaft auch ganz schnell zum szenisch ekstatischen Statistenkollektiv.
Die vom vielleicht begabtesten russischen Spätromantiker konzipierte Handlung vom Schneemädchen (basierend auf einem russischen Wintermärchen), das von allen Männern begehrt wird und sich dabei immer tiefer in Liebestragödien verstrickt, scheint in München nicht mehr ausreichend und zeitgemäß zu sein. Stattdessen eröffnet das junge, aber hochgradig talentierte Regieduo um Julia Lwowski und Franziska Kronfoth einen denkwürdigen Abend mit einer beeindruckenden Mittsommer-Prozession, bei der symbolischer Schnee vom Himmel fällt. Und überhaupt ist an diesem Abend alles ein wenig anders: Statt (dem zugegebenermaßen zu Rimsky-Korsakows Musik ausgezeichnet passenden) spätromantischem Kitsch gelingt Lwowski und Kronfoth eine abwechslungsreiche, moderne Inszenierung.
Das ändert sich auch dann nicht, als die an diesem Abend phänomenal auftrumpfende Titelheldin Anna El-Kashem (Snegorutschka) mit ihrem sirenenartigen Gesang einen in vollkommene Dunkelheit gehüllten Saal in einer nie da gewesenen Reinheit verzaubert. Beinahe schwerelos dahingleitende Glühwürmchen tanzen da durch den Schatten der Nacht. Hier und da legen sich farbenwarme Schlieren über mattes Eigengrau. Plötzlich durchkreuzen leuchtend strahlende Lichtbälle die Dunkelheit. Wann immer El-Kashem an diesem Abend Rimsky-Korsakows fein komponierte Melodien aufs Parkett schmettert, macht sich im Saal ein Momentum totaler Zeitlosigkeit breit, das den Fokus auf nichts anderes außer die Stimme dieses zarten Wesens legt, das so fein und doch lyrisch gehaltvoll zu verzaubern weiß. Fantastisch!
Da ist es dann wenig verwunderlich, dass El-Kashems Kollegen an diesem Abend eigentlich nur die Nebenrollen bleiben können. Mit allerlei Radau, „Tischtanzakrobatik“ und wüst-zäh Improvisiertem wird sehr wohl ein beeindruckender Gegenpart zur fragil-emotionalen Erscheinung der Titelheldin geschaffen, der an einigen Stellen aber leider auch auf Kosten von musikalischem Nuancenreichtum und agogischer Feinheit geht. Zar Berendej als mächtig männlicher Long Long weiß stellenweise zwar durch donnernd schmetternde Tenorfassaden zu begeistern, Gina-Lisa Maiwald (als Frühlingsfee) lässt jegliches Empyreum leider vollends vermissen. Die eigentlich überzeugendste Arbeit leisten an diesem Abend aus genau diesem Grund daher weiter die Konzeptmacher dieser abwechslungsreichen Produktion. Nicht, weil da ein Team aus „sängerischen Weltstars“ zusammengekauft wurde, sondern weil die „Hauer und Stecher“ ihre Pappenheimer wie die eigene Westentasche zu kennen scheinen, und ihnen maßgeschneidert konzipierte Rollen zuweisen. Aus dem gewöhnlich eher defensiv agierenden Misgir (Thorbjörn Björnsson) machen Lwowski, Kronfoth und Co. da kurzerhand einen hyperaktiven Wilden, der seine Triebe kaum zu unterdrücken weiß und seine Verlobte für die zauberhafte Snegurotschka unsanft in die russische Taiga schickt.
Großes leistet auch ein kleines Musikensemble aus fünf Streichern, Saxophon, Tuba, Posaune, Akkordeon, Klavier und Schlagzeug, das Rimsky-Korsakows Musikgewalt in völlig neuem Lichte erklingen lässt. Die ursprünglich orchestermächtige und in „Wagnerdimensionen gehaltene“ Partitur des russischen Altmeisters wird da kurzerhand auf handliches Kammermusikformat zusammengestaucht. Statt der üblichen drei Stunden Musik, erklingt an diesem Abend eine einstündige Kurzversion, die sich eben in keinem Moment durch „Gewaltentum“ und „Machtgehabe“ auszeichnet, sondern vielmehr durch einen ganz besonderen Reiz, der urige Zigeunerklänge mit versprengt russischen Tanzelementen auf ganz und gar zauberhafte Weise zu vereinen weiß. Das ist nicht nur unglaublich erfrischend, sondern auch eine willkommene Abwechslung zur sonst doch sehr konservativen Aufführungstradition von Rimsky-Korsakows Werken! Bravo!
Als die Künstlerschaft sich am Ende kollektiv durch eine vereinzelt rot aufblinkende Feuerschutztür ins Freie verabschiedet, donnert ohrenbetäubender Applaus durch die sonst eher dumpfe Schwabinger Reithalle. Chapeau, Frau Lwowski und Frau Kronfoth, das mache Ihnen erst einmal einer nach!
Raphael Eckardt, 28. Juni 2018, für
klassik-begeistert.de