München feiert die Zukunft des Tanzes

Fotos: © Katja Lotter

Münchner Opernfestspiele, 24. Juni 2022, PREMIERE
Prinzregententheater

Heute ist morgen 2022
Zeitgenössische Choreografien

Choreografie Özkan Ayik, Jonah Cook, Philippe Kratz. Musik The Vernon Spring, Gabriels, u.a.. Neuproduktion.

von Barbara Hauter

Vor den Ballettgenuss hat der Herr das 9-Euro-Ticket gesetzt. Ich entscheide -begeistert von diesem Angebot – die kurze, halbstündige Theaterfahrt vom oberbayerischen Bergidyll in die Metropole München umweltfreundlich zu gestalten und setzte mich in den Regionalzug. 30 Minuten Puffer sollten genügen – so dachte ich. Was für ein Anfängerfehler. Ein halbes Stündchen ist das freie Grundschwingen der Abfahrts- und Ankunftszeiten, die DB-Angabe 18:56 also eher ein Vorschlag. Zehn Minuten vor dem Heben des Vorhangs hechte ich folgerichtig durch den Münchner Ostbahnhof und besteche einen Taxifahrer, mich binnen fünf Minuten zum Prinzregententheater zu beamen. Es gelingt. Die Eintrittskarte sollte an der Kasse hinterlegt auf mich warten, der Computer hatte sie aber storniert. Eine ebenso resolute wie patente Dame bezwingt den Rechner und zaubert in Sekundenschnelle eine neue Pressekarte, spornt mich zu einem letzten Spurt an. Und tatsächlich schlüpfe ich noch exakt durch die sich schließenden Türen zum Zuschauerraum. Die Dunkelheit um mich beruhigt mein hämmerndes Herz. Ich gebe mich in die Hand der Nachwuchs-Choreografen: Heute ist morgen.

Dieses Format ist ein Vermächtnis des ehemaligen Ballettdirektors Igor Zelensky – und ein gutes: einmal im Jahr präsentiert das Bayerische Staatsballett die Arbeiten von jungen Choreografen. Zelensky musste wegen seiner Verbindungen zu Putin gehen. „Heute ist morgen“ ist geblieben. Ich finde: Ein wichtiges Format in einer Stadt, die gerne Althergebrachtes bewahrt und deren Publikum sich für perfekt getanzte Tutu-Ballette begeistert. „Heute ist morgen 2022 – Zeitgenössische Choreografien,
24. Juni 2022, PREMIERE Prinzregententheater“
weiterlesen

Orlando Paladino:
Wer sich von Filmchen nicht ablenken lässt, bekommt einen überragenden Haydn präsentiert

Foto: © Wilfried Hösl
Joseph Haydn, Orlando Paladino, Dramma eroicomico in drei Akten
Münchner Opernfestspiele 2018,
Prinzregententheater, München, 25. Juli 2018

Musikalische Leitung Ivor Bolton
Inszenierung Axel Ranisch

Münchener Kammerorchester
Angelica,  Adela Zaharia
Rodomonte, Edwin Crossley-Mercer
Orlando, Mathias Vidal
Medoro, Dovlet Nurgeldiyev
Licone, Guy de Mey
Eurilla, Elena Sancho Pereg
Pasquale, David Portillo
Alcina, Tara Erraught
Caronte, François Lis
Gabi und Heiko Herz, Heiko Pinkowski, Gabi Herz

von Shari Berner

Die Geschichte dieser selten aufgeführten Oper von Jospeh Haydn ist einer Episode aus Ariosts Orlando furiosos entnommen und kurz gesagt konfus. Drei Männer lieben Angelica, die beiden Ritter Orlando und Rodomonte, die sich deswegen spinnefeind sind, und Medoro, der glückliche Dritte, dem Angelicas Herz gehört. Doch wegen Orlandos rasender Eifersucht müssen die beiden ständig getrennt fliehen. Ihnen kommt die Zauberin Alcina zur Hilfe und auch Rodomonte entscheidet sich dafür, das Paar vor Orlando zu beschützen. Nebenbei verlieben sich dessen Knappe Pasquale und die Schäferstochter Eurilla ineinander. „Joseph Haydn, Orlando Paladino, Münchner Opernfestspiele 2018, Prinzregententheater, München, 25. Juli 2018“ weiterlesen

Ein jugendlicher Rimsky-Korsakow zum Festspielauftakt in München

Foto: Wilfried Hösl (c)
Münchner Opernfestspiele, München, Reithalle Schwabing,
27. Juni 2018
Zeig mir deine Wunder, nach Nikolai Rimsky-Korsakows „Das Schneeflöckchen“

Musikalische Leitung und Arrangement, Clemens Rynkowski
Inszenierung, HAUEN UND STECHEN
Regie, Julia Lwowski, Franziska Kronfoth
Dramaturgie, Malte Krasting, Miron Hakenbeck
Leitung Kinderchor, Maxim Matiuschenkov

Long Long, Zar Berendej
Bermjata Bojar, Oleg Davydov
Die Frühlingsfee, Gina-Lisa Maiwald
Vater Frost, Günter Schanzmann
Snegurotschka, Anna El-Kashem
Kupawa, Angela Braun
Misgir, reicher Kaufmann, Thorbjörn Björnsson
Kinderchor der Schule für Chorkunst München
Kammerensemble

Von Raphael Eckardt

In München läuft während der Opernfestspiele derzeit eine Werkstattproduktion, die wohl bereits der für seine präzise Theaterphilosophie bekannte Bertolt Brecht in den 1920er-Jahren eher als interaktives Singspiel, denn als „klassische Oper“ bezeichnet haben dürfte. Da ist dann auch schnell klar, warum das Musiktheaterkollektiv Hauen und Stechen die Schwabinger Reithalle als Veranstaltungsort ausgewählt haben dürfte: Die schlichten Holzbänke, auf denen man eng gedrängt, an Biergartengarnituren sitzend, zu Beginn mitfeiern und echten (wenn auch eher schlechten) Wodka trinken darf, beanspruchen das menschliche Sitzfleisch drei Stunden auf derartig unbequeme und penetrante Weise, dass eine „kollektive Einschlafgefahr“ ohnehin nicht besteht – und die wäre bei ebenjener Produktion wohl mit dem musikalischen und szenischen Tod gleichzustellen! Denn wenn sich das Musiktheaterkollektiv Hauen und Stechen bei der Festspielwerkstatt der Bayerischen Staatsoper Rimsky-Korsakows vieraktigem Opernepos „Das Schneeflöckchen“ annimmt, dann ist nicht nur musikalisch einiges geboten, sondern dann wird das Publikum von der reinen Zuhörerschaft auch ganz schnell zum szenisch ekstatischen Statistenkollektiv.

Die vom vielleicht begabtesten russischen Spätromantiker konzipierte Handlung vom Schneemädchen (basierend auf einem russischen Wintermärchen), das von allen Männern begehrt wird und sich dabei immer tiefer in Liebestragödien verstrickt, scheint in München nicht mehr ausreichend und zeitgemäß zu sein. Stattdessen eröffnet das junge, aber hochgradig talentierte Regieduo um Julia Lwowski und Franziska Kronfoth einen denkwürdigen Abend mit einer beeindruckenden Mittsommer-Prozession, bei der symbolischer Schnee vom Himmel fällt. Und überhaupt ist an diesem Abend alles ein wenig anders: Statt (dem zugegebenermaßen zu Rimsky-Korsakows Musik ausgezeichnet passenden) spätromantischem Kitsch gelingt Lwowski und Kronfoth eine abwechslungsreiche, moderne Inszenierung.

Das ändert sich auch dann nicht, als die an diesem Abend phänomenal auftrumpfende Titelheldin Anna El-Kashem (Snegorutschka) mit ihrem sirenenartigen Gesang einen in vollkommene Dunkelheit gehüllten Saal in einer nie da gewesenen Reinheit verzaubert. Beinahe schwerelos dahingleitende Glühwürmchen tanzen da durch den Schatten der Nacht. Hier und da legen sich farbenwarme Schlieren über mattes Eigengrau. Plötzlich durchkreuzen leuchtend strahlende Lichtbälle die Dunkelheit. Wann immer El-Kashem an diesem Abend Rimsky-Korsakows fein komponierte Melodien aufs Parkett schmettert, macht sich im Saal ein Momentum totaler Zeitlosigkeit breit, das den Fokus auf nichts anderes außer die Stimme dieses zarten Wesens legt, das so fein und doch lyrisch gehaltvoll zu verzaubern weiß. Fantastisch!

Da ist es dann wenig verwunderlich, dass El-Kashems Kollegen an diesem Abend eigentlich nur die Nebenrollen bleiben können. Mit allerlei Radau, „Tischtanzakrobatik“ und wüst-zäh Improvisiertem wird sehr wohl ein beeindruckender Gegenpart zur fragil-emotionalen Erscheinung der Titelheldin geschaffen, der an einigen Stellen aber leider auch auf Kosten von musikalischem Nuancenreichtum und agogischer Feinheit geht. Zar Berendej als mächtig männlicher Long Long weiß stellenweise zwar durch donnernd schmetternde Tenorfassaden zu begeistern, Gina-Lisa Maiwald (als Frühlingsfee) lässt jegliches Empyreum leider vollends vermissen. Die eigentlich überzeugendste Arbeit leisten an diesem Abend aus genau diesem Grund daher weiter die Konzeptmacher dieser abwechslungsreichen Produktion. Nicht, weil da ein Team aus „sängerischen Weltstars“ zusammengekauft wurde, sondern weil die „Hauer und Stecher“ ihre Pappenheimer wie die eigene Westentasche zu kennen scheinen, und ihnen maßgeschneidert konzipierte Rollen zuweisen. Aus dem gewöhnlich eher defensiv agierenden Misgir (Thorbjörn Björnsson) machen Lwowski, Kronfoth und Co. da kurzerhand einen hyperaktiven Wilden, der seine Triebe kaum zu unterdrücken weiß und seine Verlobte für die zauberhafte Snegurotschka unsanft in die russische Taiga schickt.

Großes leistet auch ein kleines Musikensemble aus fünf Streichern, Saxophon, Tuba, Posaune, Akkordeon, Klavier und Schlagzeug, das Rimsky-Korsakows Musikgewalt in völlig neuem Lichte erklingen lässt. Die ursprünglich orchestermächtige und in „Wagnerdimensionen gehaltene“ Partitur des russischen Altmeisters wird da kurzerhand auf handliches Kammermusikformat zusammengestaucht. Statt der üblichen drei Stunden Musik, erklingt an diesem Abend eine einstündige Kurzversion, die sich eben in keinem Moment durch „Gewaltentum“ und „Machtgehabe“ auszeichnet, sondern vielmehr durch einen ganz besonderen Reiz, der urige Zigeunerklänge mit versprengt russischen Tanzelementen auf ganz und gar zauberhafte Weise zu vereinen weiß. Das ist nicht nur unglaublich erfrischend, sondern auch eine willkommene Abwechslung zur sonst doch sehr konservativen Aufführungstradition von Rimsky-Korsakows Werken! Bravo!

Als die Künstlerschaft sich am Ende kollektiv durch eine vereinzelt rot aufblinkende Feuerschutztür ins Freie verabschiedet, donnert ohrenbetäubender Applaus durch die sonst eher dumpfe Schwabinger Reithalle. Chapeau, Frau Lwowski und Frau Kronfoth, das mache Ihnen erst einmal einer nach!

Raphael Eckardt, 28. Juni 2018, für
klassik-begeistert.de