„Fremd bin ich eingezogen“ – Schuberts „Winterreise“ eröffnet neue Perspektiven

CD-Rezension: Schubert / Guth: „Fremd bin ich eingezogen“, Asambura-Ensemble

Foto: Asambura-Ensemble 2017 | © Ghazaleh Ghazanfari

„Beim Hören nimmt man kaum noch die Unterschiede zwischen den Klangwelten wahr, so sanft und beinahe nebensächlich gehen die einzelnen Stücke ineinander über. Eine perfekte Verschmelzung von Musikkulturen.“

CD-Rezension: Schubert / Guth: „Fremd bin ich eingezogen“
(Decurio DEC-004)

Asambura-Ensemble
Maximilian Guth, Künstlerische Leitung

von Leonie Bünsch

Franz Schuberts „Winterreise“ ist einer der bekanntesten Liederzyklen der Romantik. In den 1827 entstandenen Liedern steht ein heimatloser Wanderer im Fokus – einsam und suchend. Die Lieder sind emotional und ergreifend. Sie schildern existentielle Ängste und Schmerz.

Maximilian Guth greift dieses zeitlose Thema auf und setzt es in einen neuen Kontext. In seiner Neuinterpretation von Schuberts „Winterreise“ stellt er die klassische Musik Schuberts mit Texten von Wilhelm Müller nah-östlichen Klängen und persischen Gedichten gegenüber. Nein, er stellt sie nicht nur einander gegenüber, er lässt beide künstlerische Welten in den Dialog treten und dabei miteinander verschmelzen. Das klingt zunächst weit hergeholt, liegt aber bei näherer Auseinandersetzung mit den Werken geradezu auf der Hand.

„Fremd bin ich eingezogen“ – so beginnt Schuberts Liederzyklus. Der Protagonist fühlt sich fremd, auf der Suche nach Heimat, voller Sehnsucht, anzukommen.  Maximilian Guth beginnt sein Werk mit zwei persischen Gedichten.

„Ein Gefangener im Fernweh bin ich hier, und keine Stimme spendet Trost mir. Lass uns nehmen, was wir brauchen und uns auf den Weg ohne Rückkehr machen, um zu erfahren, ob überall der Himmel die gleiche Farbe mag tragen.“

So schreibt es der persische Dichter Mehdi Akhavan Sales. Liest man diese Worte, ist eine inhaltliche Parallele zu Wilhelm Müllers Liedern nicht zu verkennen. Tatsächlich sind die Suche nach neuen Wegen, Schmerz, Einsamkeit und die Sehnsucht, gehört zu werden, essentielle Themen in der persischen Lyrik. Wir können also erkennen, dass Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit und Fremdheit universelle Themen darstellen und jede Kultur berühren.

Um eine interkulturelle Brücke zu schlagen, nutzt Guth nicht nur persische Texte, er setzt auch auf die Verschmelzung von romantischer Klaviermusik und nah-östlichen Klängen. Das klassische Kammerorchester wird durch Instrumente wie die Santur, die Oud oder die Tar ergänzt. Immer wieder werden die Originalkompositionen Schuberts durch orientalische Klangmeditationen abgelöst. Die Lieder selbst werden zum Teil von der schlichten Klavierstimme begleitet, so wie Schubert es vorgesehen hatte, zum Teil durch instrumentale Einwürfe und Akzente ergänzt. So gelingt es Guth, fließende Übergänge zwischen den musikalischen Welten zu schaffen und seine eigene Interpretation als ein stimmiges Ganzes zu präsentieren. Beim Hören nimmt man kaum noch die Unterschiede zwischen den Klangwelten wahr, so sanft und beinahe nebensächlich gehen die einzelnen Stücke ineinander über. Eine perfekte Verschmelzung von Musikkulturen.

Foto: © Nader Ismail

Das Asambura-Ensemble, das 2013 gegründet wurde und sich zur Aufgabe gemacht hat, Klassische Musik mit außereuropäischen Musiktraditionen zu verbinden und damit zwischen Kulturen und Religionen zu vermitteln, musiziert die Komposition ihres künstlerischen Leiters Maximilian Guth ganz ausgezeichnet. Das Ensemble arbeitet feine Nuancen heraus, präsentiert sich als einheitliches Ganzes, in dem jede Stimme seine Berechtigung hat. Die Schubert-Lieder werden von Yannick Spanier gesungen, der eine kräftige, warm-weiche Stimme hat und die Texte emphatisch vorträgt. Die persischen Texte singt Mehdi Saei virtuos und emotional. Selbst für Menschen, die den Text nicht verstehen, sprechen die Klage und der Schmerz deutlich aus seiner Stimme heraus.

Musikalisch kulminiert alles im letzten Lied, dem „Leiermann“. Hier läuft nun alles aufeinander zu. Schuberts Lied läuft parallel zur persischen Musik, beide Sänger sind im direkten Dialog miteinander und bewegen sich musikalisch aufeinander zu. Maximilian Guth schafft es hier, eine Brücke zu schlagen – und das auf mehreren Ebenen: einerseits inhaltlich, andererseits musikalisch. Welch genialer Einfall, inhaltlich ähnliche Texte aus völlig unterschiedlichen Kulturen einander gegenüberzustellen und in einem Gesamtwerk musikalisch zu verbinden. Hier entsteht eine Chance, Klassischer Musik eine völlig neue Dimension hinzuzufügen und sie für neue Zielgruppen zu erschließen.

Und noch eine Bedeutungsebene wird bei dieser Neuinterpretation offensichtlich: Schaut man sich in diesem Kontext die Texte von Wilhelm Müller noch einmal genauer an, kann man einen direkten Bezug zur aktuellen Flüchtlingskrise herstellen. Menschen, die sich hilf- und schutzlos auf den Weg machen, auf der Suche nach einer neuen Heimat. Hört man sich vor diesem Hintergrund etwa den „Leiermann“ an, eröffnen sich ganz neue Blickwinkel: Ein Mann, der frierend auf der Straße steht und spielt, jedoch von niemandem gehört wird. Schuberts Liederzyklus gewinnt mit Guths Neuinterpretation eine völlig neue Perspektive und einen brandaktuellen Bezug. Die Musik wird zeitlos und gleichzeitig gesellschaftlich relevant wie nie zuvor.

„Fremd bin ich eingezogen“ wurde 2019 vom Asambura-Ensemble unter der künstlerischen Leitung von Maximilian Guth aufgenommen und in diesem Sommer bei Decurio als CD veröffentlicht. Mit diesem Stück ist Guth ein wahres Meisterwerk geglückt, das aktueller nicht sein könnte. Die Musik ist traurig, schön, ergreifend – und hoffnungsvoll.

Leonie Bünsch, 4. Oktober 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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