Daniels Anti-Klassiker 37: ein Eindruck von Ermüdung und Langeweile

Daniels Anti-Klassiker 37: Georg Friedrich Händel – Arien aus „Almira“ (1705), “Lascia la spina” (1707) & “Lascia ch’io pianga“ (1711)

Höchste Zeit sich als Musikliebhaber einmal neu mit der eigenen CD-Sammlung oder der Streaming-Playlist auseinanderzusetzen. Dabei begegnen einem nicht nur neue oder alte Lieblinge. Einige der so genannten „Klassiker“ kriegt man so oft zu hören, dass sie zu nerven beginnen. Andere haben völlig zu Unrecht den Ruf eines „Meisterwerks“. Es sind natürlich nicht minderwertige Werke, von denen man so übersättigt wird. Diese teilweise sarkastische, teilweise brutal ehrliche Anti-Serie ist jenen Werken gewidmet, die aus Sicht unseres Autors zu viel Beachtung erhalten.

von Daniel Janz

Manch ein kreativer Geist zeichnet sich durch Einfallsreichtum aus, durch Ideenreichtum und prächtige Abwechslung. Verwenden solche Künstler Selbstzitate, ist das oft mit einer Bedeutung verbunden, es lassen sich dadurch sogar semantische Zusammenhänge konstruieren. Dann gibt es aber auch diejenigen, die sich auf einem Personalstil ausruhen, abschreiben, andere oder sich selbst kopieren und dabei sogar komplette Werke recyceln. Letzteres erzeugt beim Zuhören nicht nur ein Gefühl von Wiederholung, sondern auch von sich einschleifenden Strukturen. Irgendwann kann sogar der Eindruck folgen, dass einem solchen Künstler nichts Neues mehr einfällt. Dass von diesem Vorwurf auch Komponistengrößen nicht gefeit sind, zeigt das Beispiel von Georg Friedrich Händel.

Händel galt neben Johann Sebastian Bach als einer der Großen seiner Zeit. Im Gegensatz zu Bach hinterließ er aber nicht nur Musik, die teilweise heute noch enorme Aufmerksamkeit genießt, wie der Messias. Der barocke Meister leistete sich auch die ein oder andere Selbstkopie. Nun kann man dasselbe auch über Bach feststellen – nicht nur sein „Weihnachtsoratorium“ enthält eine Reihe Selbstzitate. Kontrafraktur nennt sich diese Methode und ist bis heute eine gängige Methode beim Komponieren. Und diese gängige Praxis beweist auch bis heute ihren Nutzen – sonst wäre es kaum möglich, Zitate anderer Werke aufzugreifen und in ein neues Licht zu setzen. So gesehen ist das dem kreativen Freiraum jedes Künstlers überlassen.Ein Problem entsteht aber, wenn dieselbe Melodie ohne Bearbeitung oder Variation noch einmal aufgegriffen wird. Solche (Selbst)kopien sind nicht nur für das Ohr sofort erkennbar. Wird eine Melodie zu oft dupliziert, folgt auch ein Eindruck von Ermüdung und Langeweile. Von Einfallsreichtum oder Intention lässt sich hier nicht mehr sprechen, sondern eher von einem Plagiat. Dem in Deutschland geborenen Händel, der 1727 britischer Staatsbürger wurde, ist es daher zu verdanken, dass in diesem Beitrag nicht ein, sondern gleich drei Kompositionen betrachtet werden müssen.

Den Anfang macht Händels allererste Oper, die 1705 uraufgeführte „Almira, Königin von Castilien“, die heute ein selten gezeigtes Juwel darstellt. Hier finden wir ein Werk voller Dramatik, Eifersucht und Romantik um die Krönung der Prinzessin Almira und die im Testament ihres Vaters festgehaltene Verfügung, welchen zukünftigen Ehemann sie sich nehmen solle. In dieser Oper fällt in der Tanzszene im dritten Akt ein Aufzug auf, in dem Europa, Afrika und Asien als die drei Teile der Welt personifiziert erscheinen, bevor sie zusammen mit der Narrheit tanzen (hier ein Auszug aus einer Aufführung nur mit Partitur):

In diesem kurzen Abschnitt wird Asien mit einer Melodie bedacht, die bis heute als eine der bekanntesten Musiken Händels zählt. Die im 3/2-Takt komponierte Sarabande zeichnet sich durch ein voranschreitendes Metrum und die Vorhalte zum nächsten Takt aus, die besondere Schwerpunkte aus der starken Zählzeit setzen. Voller Grazie und Anmut soll dieser Ausdruck sein, zu dem das personifizierte Asien begleitet von Cimbaln, Trommeln und Querpfeifen auf einem von Löwen gezogenen Wagen auftritt. Eine an und für sich wirkungsvolle Musik zu einer fantastischen Szene. Dabei könnte man es belassen – wären da nicht die nahezu identischen Kopien.

Das nächste Mal begegnet uns diese Musik nämlich in dem 1707 komponierten Oratorium „Il trionfo del Tempo e del Disinganno“ als Untermalung zum Gesang des personifizierten Vergnügens. Haargenau legte Händel hier dieselbe Sarabande zu Grunde. Einzige Variation: Der neue Text. „Wäre doch schade um die schöne Melodie“ soll seine Rechtfertigung für die bereits seinen Zeitgenossen aufgefallene Selbstplagiierung gewesen sein. Dass er sich dies überhaupt traute mag möglicherweise auch damit zusammenhängen, dass „Almira, Königin von Castilien“ nie zu einem großen Durchbruch gelangte. Aber hören Sie selbst:

 

Nun gut – mag man meinen – solche Neuverwendungen begegnen einem heutzutage im Sinne moderner Cover oder Anspielungen auf frühere Werke. Und auch Beispiele, wie Prokofjews „Tanz der Ritter“, Korsakows „Hummelflug“ oder Beethovens „Mondscheinsonate“ werden in verlässlicher Regelmäßigkeit im selben Sinne kopiert.

Selten geschieht das jedoch bei ein und demselben Komponisten. Und dann auch noch mehrfach. Denn auch beim zweiten Mal zündete Händels Musik nicht als Welthit, sodass er sie ein drittes Mal bemühte: Diesmal im Jahr 1711 als Trauerlied in der Oper „Rinaldo“. Hier richtet sich die auf einem Kreuzzug entführte Jungfrau Almirena an den sarazenischen König Argante, um auf diese Weise ihre verlorene Freiheit zu beklagen. Noch heute ist diese Version bekannt, unter anderem aus Filmen, wie dem Epos über Farinelli:

Neben dem Umstand der platten Kopie fällt auch auf, dass Händel dieselbe Musik offenbar dafür geeignet hielt, gänzlich unterschiedliche Affekte auszudrücken. Im Vergleich weisen die drei Verwendungen jedenfalls kaum Ähnlichkeit auf: Eine Verwendung als Begleitmusik, dann als Ausdruck des Vergnügens und schließlich sogar als Ausdruck von Trauer könnte widersprüchlicher nicht sein. Entweder muss man dem alten Meister hier also ein völliges Fehlen von Einfühlungsvermögen in seine Musik attestieren. Oder seine Musik ist so unspezifisch und banal, dass man sie (im Sinne von Erik Satie) auf nahezu alles anwenden kann.

Händels Begründung liest sich dabei nicht, als hätte er absichtlich banale Musik komponieren wollen. Denn in gewisser Weise hatte er Recht damit, dass diese Melodie Potenzial zur Weiterverwendung hat. Jedoch spricht aus seiner Art der Verwendung ein hohes Maß an Fantasielosigkeit. Es ist eine Sache ein Thema erneut aufzugreifen, zu verändern oder in neues Licht zu stellen. Harmonische, rhythmische, tonale Veränderungen sind schließlich für eine ganze Gattung – den Variationszyklus – die Grundlage.

Doch ein und dieselbe Komposition identisch wiederzuverwenden offenbart mindestens eine Schwäche im Ausdruck. Schlimmer noch, wenn die Musik auch noch herangezogen wird, um unterschiedliche Affekte auszudrücken – von Spezifität oder Intention kann dann keine Rede mehr sein, sogar die Ausdruckskraft selbst lässt sich dann infrage stellen. So gesehen muss man feststellen: Durch Händels eigene Selbstkopie wird diese Musik zu Hintergrundgeplänkel reduziert. Zur unspezifischen und trivialen Untermalung für den Text. Wenn man aber nur Text aufgeführt haben will, braucht es keine Musik. Dafür gibt es schließlich das Theater!

In dieser Art und Weise muss man also schon fragen, warum es Händel nicht gelungen ist, entweder die Musik neu zu komponieren oder sie immerhin thematisch und harmonisch dem neuen Text anzupassen. Selbst wenn er sie nur von Moll in Dur gesetzt hätte. Man stelle sich nur vor, wie oft er dieselbe Sarabande noch verwendet hätte, wenn sie nicht beim dritten Mal so bekannt geworden wäre. Vielleicht muss man dem Umstand also, dass diese Musik als Trauerlied in Erinnerung geblieben ist, Dank zollen? Denn bereits in dieser Form muss man der Musik eine Marginalisierung, wenn nicht sogar Banalisierung attestieren. Diese wird zwar den einzelnen Werken nicht gerecht, aber wenn man alle drei kennt, kann dieser Eindruck kaum ausbleiben. Und das ist dann schon ein Schaden, den man mit ein wenig Aufwand in ein paar neue Töne hätte vermeiden können.

Daniel Janz, 12. November 2021, für
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Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.

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