Daniels vergessene Klassiker 41: Brahms „5. Sinfonie“ ist ein Fragment voller Schönheit und Pracht

Daniels vergessene Klassiker 41: Brahms „5. Sinfonie“  klassik-begeistert.de, 5. Januar 2025

Johannes Brahms 1853 © wikipedia.org

Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 54 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.

von Daniel Janz

Brahms ist einer jener Komponistengrößen, an denen die Klassische Musik und gerade auch Deutsche Musikgeschichte kaum vorbeikommt. Der u.a. für „Ein Deutsches Requiem“, seine Haydn-Variationen oder seine erste Sinfonie aber auch Kleinode, wie „Guten Abend, gut’ Nacht“ bekannte Künstler wurde schon früh als direkter Nachfolger Beethovens verklärt. Wie wir in der Schule gelernt haben, war er eine der Schlüsselfiguren der Romantik, lebte 1833 bis 1897 und hinterließ neben diversen Vokalwerken auch 4 Sinfonien. Aber halt – nun folgt die Sensation: Brahms 5. Sinfonie ist aufgetaucht! Wie konnte ein solches Werk so lange verborgen bleiben?
Ganz so atemberaubend, wie diese Schlagzeile vermuten lässt, ist die Realität leider nicht, denn eigentlich hatten wir dieses Werk schon seit 1891 vor Augen. So jedenfalls erklärte es der Südafrikanische Komponist und Professor Peter Klatzow, der „Brahms’ fünfte Sinfonie“ nachweisbar seit spätestens 2010 verbreitete. Er wiederum berief sich auf Aussagen des Brahms-Biografen Max Kalbeck, demzufolge Brahms seine 5. Sinfonie schon lange als Streichquintett op. 111 niedergeschrieben hatte.

Weiterer Anhaltspunkt, dass dieses Werk eigentlich eine Sinfonie sein sollte, sei nach Klatzow auch die Orchestrierung, wie beispielsweise im Finalsatz, in dem das Cello als melodietragendes Instrument von den anderen vier Instrumenten harsch übertönt würde. Klatzow hielt weiterhin fest: „Es gibt keinen einzigen Takt in diesem Quintett, der nicht nach einer Orchestrierung schreit“. So ist es auch heute noch auf seinem YouTube-Kanal unter der von ihm veröffentlichten Orchestrierung mit Aufführung durch das Cape Town Symphony Orchestra zu lesen.

https://humanities.uct.ac.za/college-music/contacts/peter-klatzow

Tatsächlich nahm Klatzow es auf sich, Brahms’ letztes Streichquintett selbst zu orchestrieren. Dabei bediente er sich dabei nach eigener Aussage ausschließlich an Orchestrierungstechniken, die von Brahms stammen. Doch wie auch Brahms sollte Klatzow dieses Vorhaben nicht vollenden: Noch bevor er das Finale ausgestalten konnte, verstarb er 2021, hinterließ aber den Hinweis, dass der letzte Satz eigentlich kein „symphonisches Finale“ wäre. Klatzow vermutete, dass Brahms selbst bei der Komposition die Idee einer Sinfonie über sein Streichquintett wohl aufgegeben hatte.

Dennoch stellen die ersten drei von Klatzow ausorchestrierten Sätze des Opus 111 einen wunderbaren Widerhall an die Pracht Brahms’scher Kompositionskunst dar. Der erste Satz ist mit seinen Hornstößen und Trompetenmotiven auf flirrenden Violinen ein aufstrebendes Feuerwerk voller Klangpracht. Diese 13 Minuten alleine waren bereits die Mühe wert und könnten genauso für sich selbst als Werk stehen:

Geradezu beruhigend, fast intim wirkt dagegen der zweite Satz, den Klatzow in zarte Töne der Holzbläser zur Begleitung der Streicher gekleidet hat. Vereinzelte Ausbrüche der Streicher zusammen mit Hörnern erinnern hier an das Pathos des ersten Satzes, halten sich aber in Grenzen. So bleibt lange Zeit die Oboe als Träger des Hauptgedanken präsent. Nur in einem dramatischen Aufbäumen im letzten Drittel des Satzes kehrt noch einmal das volle Orchester zurück, mündet dann aber wieder in den Hauptgedanken der Oboe. Ein sehr bewegendes Stück Musik:

Typisch Brahms ist auch Satz 3, der mit beschwingten Klarinettenmelodien zu tänzelnden Streichern startet und sich erst behutsam trabend, dann aufbrausend wild in stürmische Ausbrüche steigert. Beeindruckend, wie er am Ende doch samtig ruhig ausklingt. Hier zeigt sich der Charme, mit dem Brahms seinerzeit Musikgeschichte schrieb. Und Klatzows Orchestrierung muss man zugute halten, dass sie dies gekonnt eingefangen hat. Da blinzelt man schon regelrecht auf einen furiosen Schluss:

Einerseits ist es schade, dass keine ausorchestrierte Fassung von dem Finale des zugrundeliegenden Streichquintetts existiert. Andererseits ist es für uns heute ein Glücksfall, dass diese ausorchestrierte Fassung der ersten drei Sätze von „Brahms’ fünfter Sinfonie“ nach Klatzow öffentlich zugänglich ist. Hätte dieser südafrikanische und bei uns vollständig unbekannte Komponist diese Aufnahme nicht auf einem frei zugänglichen Internetportal geteilt, wäre sie womöglich für immer verloren.

Natürlich muss man bei solchen Projekten immer fragen, wie authentisch sie die Ausdruckskraft des Original-Komponisten treffen. Ist beispielsweise Ravels Bearbeitung von Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ dem Original noch treu? Hat Süßmayer Mozarts Requiem durch seine Ergänzungen verbessert oder gar von Mozart entfremdet? Ist Mahlers zehnte Sinfonie nach Cooke noch wirklich Mahler?

Alleine dieses Fragment eröffnet diverse Fragen, sowohl zu Brahms als auch zu Klatzow selbst. Für die Forschung als auch unsere Kulturgeschichte ist das eine riesengroße Chance, jetzt noch Antworten zu erhalten, solange dieses Fragment erhalten und zugänglich ist. Vielleicht gibt es in Südafrika auch Noten, die erworben und zu einer regen Aufführungspraxis verhelfen können? Oder weitere Hinweise und Aussagen von Klatzow, die mehr Licht auf seine Gedanken zu diesem Werk werfen?

In meinem letzten Anti-Klassiker hatte ich bemängelt, wie die pseudo-religiöse Verehrung einiger Komponisten ein großes Problem der Klassischen Musik darstellt. In seltenen Fällen, wie bei diesem Fragment, könnte diese Praxis aber auch eine Chance darstellen. Denn allein der Name „Brahms“ müsste eigentlich ausreichen, um dieser Bearbeitung von Klatzow zu Anerkennung zu verhelfen. Die Möglichkeit, einen großen Komponisten neu zu entdecken gibt es jedenfalls nicht oft. Deshalb möchte ich diesmal dafür plädieren: Lasst uns die Chance ergreifen, solange sie noch da ist!

Daniel Janz, 5. Januar 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker, Komponist, Stipendiat, studiert Musikwissenschaft im Master:
Orchestermusik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich zunächst für ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zur Verbindung von Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für klassik-begeistert. 2020 erregte er zusätzliches Aufsehen durch seine Kolumne „Daniels Anti-Klassiker“. Mit Fokus auf den Raum Köln/Düsseldorf kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend geht er der Frage nach, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.

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2 Gedanken zu „Daniels vergessene Klassiker 41: Brahms „5. Sinfonie“
klassik-begeistert.de, 5. Januar 2025“

  1. Lieber Herr Janz,
    die Bearbeitung/Orchestrierung des Streichquartetts durch Peter Klatzow ist allenfalls Brahms 6. Für mich ist die 5. die Schönberg Bearbeitung des g-Moll Klavierquitetts op. 25 aus dem Jahr 1937.
    Bei Brahms kann man nie genug bekommen.

    Prof. Karl Rathgeber

    1. Lieber Herr Prof. Rathgeber,

      danke für diese Erinnerung. Ja, die Bearbeitung nach Schönberg hat ebenfalls viel Schönes! Aber meines Wissens nach (und im Gegensatz zu Peter Klatzow) hat Schönberg seine Orchestrierung des g-Moll Klavierquintetts doch nie explizit als „Sinfonie“ bezeichnet, oder?

      Daniel Janz

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