Daniels vergessene Klassiker Nr. 26: Warum Mahlers zweite Sinfonie unterrepräsentiert ist

Daniels vergessene Klassiker Nr. 26: Warum Mahlers zweite Sinfonie unterrepräsentiert ist  klassik-begeistert.de, 12. November 2023

Gustav Mahler, 1909 wikipedia.org

Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 50 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.

von Daniel Janz

Gustav Mahler ist heute einer der bekanntesten Sinfoniker, vielleicht sogar der bekannteste überhaupt. Seine Sinfonien erklingen in unseren Konzertsälen inzwischen so oft, dass er manchen schon zu oft gespielt wird. Seine Musik gilt als elektrisierend und ergreifend, sie ist Blaupause für das Epische in der Sinfonie. Alle, die nach ihm kamen, berufen sich auf die eine oder andere Art auf ihn, so wie es seinerzeit mit Bach oder Beethoven der Fall war. Betrachtet man jedoch die Anzahl der Aufführungen, fällt auf, dass seine zweite Sinfonie verhältnismäßig selten gespielt wird. Warum?

Mahler verbindet die emotionsbetonten Aspekte spätromantischer Musik mit kindlicher Naivität und den Fähigkeiten, alte Konventionen zu sprengen sowie in eine neue Zeit zu führen. Seine neunte Sinfonie wird oft als das „erste Werk der Moderne“ bezeichnet. Kürzlich nannte der renommierte Musikfunktionär Winfried Hopp ihn sogar als einen der vier Komponisten, die als einzige heute noch Konzertsäle füllen würden (hier das Interview).

Nur wenige Komponisten werden heute also noch so oft gespielt. Sieht man sich aber die Spielpläne der Konzertsäle an, so fällt ein gewisser Fokus auf seine erste, dritte, vierte, fünfte und neunte Sinfonie auf. Selbst seine (nach meiner Meinung schwache) siebte Sinfonie gehört eher zu den oft aufgeführten Werken. Neben der sechsten Sinfonie (die vermutlich wegen ihres tragischen Tonfalls selten erklingt) spielt ansonsten nur seine zweite eine untergeordnete Rolle. Und das, obwohl dieses bahnbrechende Werk erfahrungsgemäß bei jeder Aufführung am Ende Jubelstürme provoziert.

Nun sind verlässliche Zahlen schwer zugänglich, daher ist das hier ein subjektiver Erfahrungsbericht. Wenn wir aber z.B. die Aufführungen der letzten 7 Jahre in Köln und Umgebung vergleichen, fällt auf, dass Mahlers erste und fünfte Sinfonie fast jedes Jahr auf dem Spielplan stehen. Mahler 1 erlebte 2022 sogar einen richtigen Boom, als sie 8 Mal innerhalb weniger Monate aufgeführt wurde. Ähnlich wie Bruckners vierte davor. Im Vergleich dazu wird Mahler 2 nun im Jahr 2023 endlich wiederaufgeführt, nachdem sie (coronabedingt) fast 7 Jahre Pause hatte. So eine Reduzierung beginnt automatisch irgendwann zu nerven. Insofern hat der Rezensent der FAZ Recht, wenn er sich über die „Monokultur im Konzertsaal“ beschwert.

Zugegeben: Köln ist nicht repräsentativ für ganz Deutschland. Die Situation sieht in vergleichbaren Konzertsälen aber ähnlich aus. Der Blick nach Bremen, Dortmund, Dresden, Düsseldorf, Duisburg, Essen, Hamburg, Leipzig etc. verdeutlich: Mahler 2 ist eher die Ausnahme als die Regel.

Die Vermutung, dass die Größe von Mahlers zweiten Sinfonie für diesen Seltenheitswert sorgt, erscheint aber nicht plausibel. Denn da wären auch seine dritte und achte Sinfonie – beides Werke, die vom Umfang und der Zahl der Musiker an die zweite Sinfonie heranreichen, oder sie übertreffen (nicht umsonst wird die achte oft als „Sinfonie der Tausend“ bezeichnet). Trotzdem werden beide Werke (zum Glück!) verhältnismäßig oft gespielt.

Ich glaube daher, dass diese Unterrepräsentation von Mahler 2 – neben dem allgemeinen Bedeutungsverlust von Klassischer Orchestermusik – vor allem am religiösen Inhalt dieser Auferstehungssinfonie liegt. Denn hört man sie unvorbereitet – also ohne Wissen über katholische Totenriten, ohne das „Dies irae“ oder andere Signalrufe wiederzuerkennen oder sind einem die Vorstellungen von Gott, Glauben und Auferstehung fremd, so kann ein Verständnis dieser Musik nur schwer gelingen.

Musik weckt erst Emotionen, wenn sie durch Assoziationen aufgeladen wird. Und bei Mahler gehört zu diesen Assoziationen nicht nur das Wiedererkennen musikalischer, sondern auch inhaltlicher Themen. Gelingt das nicht, führt das sogar in der Spielpraxis zu teilweise absurden Kombinationen, wenn diese spirituelle Musik mit platten Allerweltswerken kombiniert wird. Wenn sogar Interpreten schon so danebenliegen, wie soll dann erst eine moderne Vermittlung ans Publikum gelingen?

Es braucht das Erkennen und Inszenieren der Thematik, um die Genialität dieser Musik zu begreifen. Dann nämlich wird aus dem wilden Stückwerk in Satz 1 die Totenfeier, an die Mahler dachte. Erst dann wird das ungestürme Aufbäumen am Beginn zum Ausdruck purer Verzweiflung beim Anblick eines im Sarg aufgebarten Geliebten. Oder das Englischhorn zum Priester, der vom Paradies und „ewigen Frieden“ spricht, nur um dann ins „Dies irae“ abzudriften – dem musikalischen Ausdruck vom Jüngsten Tag, an dem Gott die gesamte Schöpfung vernichten soll. Erst dann wird aus dem gemächlichen Schreiten der tiefen Bässe zu den düsteren Tamtamschlägen der letzte Gang, wenn der Sarg zu Grab getragen und am Ende in die Grube hinabgelassen wird. Und auch der – kompositorisch unauffällige –  zweite Satz wird erst nach dem Einbetten in den Kontext der Sinfonie zum Erinnerungsfragment an die Lebenszeit des in Satz 1 gerade Beerdigten.

Dabei hätte Mahler die Spurensuche kaum einfacher gestalten können. Gerade auch seine auf Liedern begründeten weiteren Sätze der Sinfonie geben klare Hinweise. Beispielsweise das rein instrumental interpretierte Lied vom Antonius von Pandua, welcher – von Mahler wunderbar durch die Trompeten dargestellt – ins Alltagswuseln der Menschen seine Predigt hineinruft, nur um sich ungehört in einem Ausbruch puren Frusts und Ekels von ihnen abzuwenden und stattdessen den Fischen zu predigen.

Auch der choralartige Urlicht-Satz folgt einer ähnlichen Botschaft. Hier lässt Mahler durch die Worte „der Mensch liegt in größter Not, der Mensch liegt in größter Pein“ erkennen, wie die menschliche Seele in Sehnsucht gefangen scheint. Die Botschaft ist klar: Es gibt mehr im Leben, als nur die Existenzsicherung. Und Mahler stellt dieses Mehr, dieses höhere Ziel der Sehnsucht im Schlusssatz dann im Gedanken an die Auferstehung nach christlichem Glauben dar. Ein Umstand, der heutigen Hörern natürlich Probleme bereiten dürfte, wenn man die religiöse Konnotation nicht teilt.

https://www.arthistoricum.net/themen/portale/renaissance/lektion-xii-michelangelo-als-kuenstler-der-paepste/7-das-juengste-gericht-in-der-sixtinischen-kapelle

Gleichzeitig wendet Mahler sich in seiner Sinfonie aber auch von der kirchlichen Lehre ab. Denn der Gedanke vom Jüngsten Gericht inklusive ewiger Verdammnis – im ersten Satz durch das „Dies irae“ eingeführt – erklingt zwar auch hier wieder als von himmlischen Rufen (die Hörner in der Ferne) eingeleiteter „Auferstehungsmarsch“. Anstatt Gericht und Verdammnis setzt dann aber nach einem das Ende der Welt besiegelndem Vogelruf (Flöte) auf einmal ein Lobeshymnus ein, der nichts mehr von der im Christentum vermittelten Höllenangst erahnen lässt. Eine Steigerung, die Mahler bereits Ende des dritten Satzes vorbereitet, als das Erlösungs- oder Auferstehungsthema zum ersten Mal erklingt.

Und in dieser Schlusswendung liegt auch die große Chance dieser Sinfonie. Denn Mahler verwendete seine Texte stets gebrochen, was es heute möglich macht, diese Sinfonie aus der kanonischen Kirchenlehre herauszuholen. Sie ist weder verstaubte Messe, noch Oratorium, wo jedes Wort seit hunderten von Jahren wortwörtlich zu verstehen ist. Diese Musik öffnet sich bis heute der Interpretation und Deutung jedes einzelnen. Wer sagt beispielsweise, dass der hier genannte Tod der tatsächliche, körperliche Tod sein muss? Wer sagt, dass die Auferstehung am Ende tatsächlich das Aufstehen der Toten aus ihren Gräbern sein muss? Kann es nicht genauso gut das Ende eines Lebensabschnittes sein? Muss nicht auch im übertragenen Sinne immer etwas sterben damit etwas Neues, Besseres beginnen kann?

So, wie Mahler den Text in seiner Musik stets bildhaft verwendet, liegt es uns als Hörern frei, seine Bilder auch auf uns selbst zu übertragen. Wer sich durch das abschließende „sterben werd’ ich um zu leben“ in seiner Glaubensüberzeugung bestätigt fühlt, behält genauso Recht wie jemand, der diese Musik als Symbol für einen Wiederanfang auffasst. Entscheidend ist der versöhnende Kontext, in dem dieses Werk all diese Möglichkeiten vereint. Und in dem Sinne hat gerade Mahlers zweite Sinfonie uns noch so viel zu sagen, dass sie viel häufiger in unsere Konzerthäuser gehört!

Daniel Janz, 12. November 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker, Komponist, Stipendiat, studiert Musikwissenschaft im Master:
Orchestermusik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich zunächst für ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zur Verbindung von Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für klassik-begeistert. 2020 erregte er zusätzliches Aufsehen durch seine Kolumne „Daniels Anti-Klassiker“. Mit Fokus auf den Raum Köln/Düsseldorf kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend geht er der Frage nach, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.

Alle zwei Wochen: „Daniels vergessene Klassiker“ am Sonntag!

Măcelaru & Mahler, Wiebke Lehmkuhl Kölner Philharmonie, 3. und 4. November 2023

Münchner Philharmoniker, Mirga Gražinitė-Tyla  Dirigentin, Gustav Mahler Symphonie Nr.2 Philharmonie Berlin, 12. September 2023

Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 2 c-Moll „Auferstehung“ Dortmund, Konzerthaus, 13. Mai 2023

Gustav Mahler, Symphonie Nr.2 in c-Moll Philharmonie Berlin, 7. September 2022

Hör-CD Rezension: Mahler – Welt und Traum. Eine Hörbiographie von Jörg Handstein

2 Gedanken zu „Daniels vergessene Klassiker Nr. 26: Warum Mahlers zweite Sinfonie unterrepräsentiert ist
klassik-begeistert.de, 12. November 2023“

  1. Lieber Daniel,

    danke für Deinen interessanten Beitrag. Es wäre in der Tat interessant, verlässliche Zahlen zu haben! Denn nach meiner subjektiven Erfahrung sind gerade Mahlers 3. und vor allem die 8. eher selten bis sehr selten auf den Spielplänen zu finden und deren Aufführung daher singuläre Ereignisse. Dazu zähle ich auch Aufführungen der Zweiten, wie Du es ja auch schreibst. Vermutlich, weil’s mit so vielen Solistinnen und Solisten, wie sie gerade in der Achten aufgeboten werden, sowie mit den Chören teuer wird…

    Eins, Fünf und Sechs hörte ich relativ regelmäßig. Die Vierte sowieso. Und in letzter Zeit auch Deine so geliebte Siebte.

    Herzliche Grüße,

    Brian

  2. Lieber Brian,

    danke für deinen Kommentar. Was deine Einschätzung zu Mahler 3 angeht, kann ich sie nicht ganz teilen – zumindest im Bezug auf Köln wird diese Sinfonie doch recht oft aufgeführt, alleine seit 2017 habe ich sie dreimal nur in der Kölner Philharmonie gehört. Dazu kamen Aufführungen in Essen und Düsseldorf. In der Domstadt am Rhein und im Rheinland generell erklingt sie also relativ regelmäßig (nicht, dass das schlecht wäre, sie ist ja auch meine liebste Mahler-Sinfonie).
    Mahler 8 ist da schon seltener, in meiner subjektiven Wahrnehmung aber immer noch häufiger, als Mahler 2 (jedenfalls so häufig, dass ich bei ihr mit dem Prädikat „unterrepräsentiert“ vorsichtig bin). So hatte ich Mahler 8 noch direkt vor der Coronapandemie 2 Mal innerhalb von 3 Jahren gehört, außerdem stand sie 2020 auf dem Spielplan, bevor Covid-19 alles verändert hatte.

    Im Vergleich dazu war die letzte Aufführung von Mahler 2, die ich gehört hatte, noch vor meinem Studium. Muss irgendwann 2005 oder so gewesen sein. Damals sogar noch unter Semion Bychkov. Und natürlich kann ich in all den Jahren seitdem was übersehen haben. In meiner Erinnerung war das aber die letzte Aufführung, die vor Corona stattgefunden hat.
    Natürlich wären verlässliche Zahlen schön, dann würde sich auch zeigen, ob das nur subjektive Einschätzung, ein auf das Rheinland begrenztes Phänomen oder wirklich ein nationaler Trend ist. Ich denke aber, summa summarum kann man sich darauf einigen, dass Mahler 2 in jedem Fall gerne öfter gespielt werden dürfte. Und der Sinfonie täte es auch gut, wenn eine breitere Diskussion und Aufklärung um sie stattfinden würde. Dann würden solch oberflächliche Auseinandersetzungen,wie erst vor zwei Wochen beim WDR Sinfonieorchester nicht passieren, was den seltenen Aufführungen einen Qualitätsschub geben würde. Darum auch mein Appell hier.

    Liebe Grüße,
    Daniel

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