„Man ist sozusagen selbst nur ein Instrument, auf dem das Universum spielt“

Hör-CD Rezension: Mahler – Welt und Traum. Eine Hörbiographie von Jörg Handstein

Hör-CD Rezension:

 Mahler – Welt und Traum. Eine Hörbiographie von Jörg Handstein

von Dr. Andreas Ströbl

Wer Gustav Mahler wirklich nahekommen will, dem Menschen und der Musik, die er geschaffen hat, muss sich auf Superlative einlassen und sein Inneres bestenfalls soweit öffnen, um „mit Keulen zu Boden geschlagen und dann auf Engelsfittichen zu den höchsten Höhen getragen“ zu werden. So zumindest hat es der Komponist selbst für seine 2. Symphonie, die sogenannte „Auferstehungssymphonie“, konstatiert.

Zugegeben, das geht nicht jedem so. Für die einen war bereits zu Lebzeiten Mahler der Verursacher größtmöglichen Lärms unter Einsatz aller verfügbaren Klangerzeugungsmittel.

Für die anderen sind seine Werke Heiligtümer voller seelischer Abgründe, entstanden unter schonungsloser Ausbeutung des eigenen Ich, die ebenso aus dem Banalen, weil Wahrhaftigen schöpfen, wie auch nach dem Höchst-Aussagbaren streben. Mahlers zauberhafte Instrumentierung entwirft bis dahin nie gehörte Klangwunder und schafft es, zumindest eine Ahnung von dem zu vermitteln, was jenseits allen menschlichen Ausdrucks liegt, dem Himmlischen, Gewaltigen, ja dem Universum schlechthin. Als dessen Instrument hat sich Mahler verstanden und so strahlen allein die Instrumentalstücke aus der 8. Symphonie über alles Irdische hinaus. Gerade im Zusammenspiel mit den naiven, kinderliedhaften Ausdrücken im Finalsatz der 2. und im dritten Satz der 4. Symphonie geraten die musikalischen Tore ins himmlische Jenseits zu überwältigenden Klanggemälden einer überirdischen Schönheit.

Eine ganze Welt baut Mahler allein in der 3. Symphonie auf und umarmt zugleich die Schöpfung mit diesem Werk, das mit dem fulminantesten Finale der Symphonieliteratur in der Erhabenheit eines Bergmassivs endet.

Für seine Zeitgenossen war es mit Mahler durchaus oft nicht einfach, mitunter nervenaufreibend und schwierig, denn er verlangte von den Orchestern, Solistinnen und Solisten das Höchste an Einsatz und konnte dann ein echter Tyrann sein. Die Ehe mit seiner Frau Alma, einer Frau, die von der gemeinsamen Tochter Anna zugleich als „großartig“ und „ganz abscheulich“ wahrgenommen wurde, wäre sicher unproblematischer verlaufen, wenn Gustav seiner fast 20 Jahre jüngeren Frau nicht das Komponieren verboten hätte. Als er seinen Fehler einsah, war es bereits zu spät, die Ehe, wenn nicht zerrüttet, so zumindest stark angegriffen, und Alma hatte eine Affäre mit dem Architekten Walter Gropius.

Es gibt zahlreiche Biographien über diesen Komponisten zwischen Spätromantik und Moderne, aber ein bloßes Buch reicht hier nicht hin, so brillant es auch geschrieben sei. In der Reihe „BR-Klassik Wissen“ sind bereits zahlreiche Hörbiographien über Komponisten des 18. bis 20. Jahrhunderts erschienen; die über Gustav Mahler von Jörg Handstein kam 2020 heraus und wurde im gerade verblichenen Sommer auf Bayern 4 ausgestrahlt.

Für Mahler-Neulinge bietet diese lebendig und intelligent gemachte 10-teilige Serie einen hervorragenden Einblick in Leben und Schaffen dieses Ausnahmekünstlers, für dessen Kenner und Liebhaber sind tatsächlich auch weniger bekannte Details zu entdecken. Diejenigen, die Mahlers Musik völlig verfallen sind, können sein Leben erneut Revue passieren lassen und werden feststellen, dass die Macher sowie Sprecherinnen und Sprecher alle wesentlichen Aspekte dieser Künstler-Vita mit viel Sachkenntnis und entsprechend sensibel aufbereitet haben. Zwar sind die Kapitel chronologisch aufgebaut, aber innerhalb der einzelnen Abschnitte gibt es immer wieder Rekurse auf andere Aspekte seines Lebens, Mahlers Welt im historischen Zusammenhang und das kompositorische Gesamtwerk, was es so trotz seiner umfassenden Komplexität auf einfühlende Weise verständlich macht.

Das ist der Grund, weswegen man die einzelnen Kapitel in anderer Reihenfolge oder separat ebenso mit Gewinn hören kann. Auch die beigefügte Symphonie Nr. 1 passt gleichgut an den Anfang wie an das Ende des Hörerlebnisses. Es ist eine Einspielung unter Mariss Jansons mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, die in ihrer Klarheit, Differenziertheit und kraftvollen Dynamik ganz dem facettenreichen Duktus des Werks entspricht. Jansons feinnerviges Dirigat berücksichtigt all die Zartheiten gerade des ersten Satzes mit seinen Naturlauten und heimwehmütigen Erinnerungsfenstern an die Kindheit in Mähren. Das wird im lyrischen zweiten Satz mit reizvollen Ländler-Variationen fortgesetzt.

All die raschen Umschwünge, die im dritten Satz mit der berühmten Moll-Rezeption des „Bruder Jakob“-Liedes ein farbenreiches, schwermütiges, südosteuropäisches Bild mit Straßenmusik- und Klezmer-Anklängen malen, beherrschen die Münchner unter Jansons mit Leichtigkeit und spielerischer Freude. Mit dem Attacca-Ausbruch zum Finalsatz hin wird es spürbar ernst, ja brutal, und wie ein Gewitter mit unberechenbaren Donnerschlägen marschiert dieser Satz schließlich seinem optimistischen Ende entgegen. Den „Bravo“-Rufen aus der Aufzeichnung von 2007 mag man sich beim Hören gerne anschließen.

Das komplizierte Wesen Mahlers und sein unstetes Leben, sein gehetztes Eilen durch sich selbst und die ihm oft feindlich gesinnte Welt zu beschreiben, verlangt nach entsprechenden Stimmen. Udo Wachtveitl, den meisten bekannt als „Tatort“-Kommissar Franz Leitmayr, führt sympathisch und einfühlsam als Erzähler durch diese Biographie, Mahler selbst wird von René Dumont gesprochen, Almas Erinnerungen gibt Laura Marie wieder. Zahlreiche Zitate von Zeitgenossen bringen Krista Posch, Gert Heidenreich und Hans Jürgen Stockerl zu Gehör, aber es gibt auch Original-Tondokumente.

Das alles ist in der Redaktion und Regie von Bernhard Neuhoff sowie der Tonregie und Technik unter Fabian Zweck sehr gut abgemischt und aufeinander abgestimmt. Die vielen Musikbeispiele untermalen und begleiten teils den Text, sie stehen aber auch für sich selbst und glücklicherweise sind die wichtigen Auszüge aus den Werken so lang, dass tatsächlich ein echter Eindruck entsteht – im Gegensatz zur immer stärker um sich greifenden Radio-Unsitte, Musikstücke nur kurz anzuspielen, um sie dann gleich wieder zu zerreden, bevor man begriffen hat, worum es klanglich und inhaltlich geht.

Und so begleitet man den zarten Buben, der als Berufswunsch einmal „Märtyrer“ angab, von der ärmlichen Hütte, in der er geboren wurde, über seine Jugend mit ersten vielversprechenden Ansätzen hin zu all den Wirkungsstätten, an denen er ausgebuht oder triumphal gefeiert wurde, bis hin zu seinem Tod nach den entsetzlichen Schicksalsschlägen, die schließlich zuviel für sein krankes Herz waren. Dabei spart Handstein all die Macken, Marotten und echten menschlichen Fehler Mahlers nicht aus und Hörerinnen und Hörer gewinnen den Eindruck, was für eine Herausforderung es für seine Mitmenschen sein konnte, mit ihm näher zu tun zu haben. Allerdings kann man sich ebensogut vorstellen, was es bedeutet haben mag, mit ihm gemeinsam wahre Sternstunden der Musikkultur erleben zu dürfen, die seinerzeit weltweit nicht übertroffen wurden.

Wer sich mit diesem großartigen, anstrengenden, liebevollen, kantigen, heimwehgeplagten, schlichtweg einzigartigen Menschen und Komponisten wirklich auseinandersetzen möchte, dem sei diese ausgesprochen gelungene Hörbiographie sehr ans Herz gelegt.

Dr. Andreas Ströbl, 13. Oktober 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

4 CDs
BR-KLASSIK 900901. Erhältlich im Handel und im BR-Shop

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