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Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 50 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.
von Daniel Janz
Kommen wir heute zu einem Beitrag, den ich als Autor nicht für möglich gehalten habe, der aber in Anbetracht der Deutschen Aufführungspraxis notwendig erscheint. Gustav Holst ist eigentlich ein anerkannter und auch bekannter Komponist. Und doch muss seine bekannteste Komposition – „die Planeten“ – die ich als großer Fan erst gestern inhaltlich behandelt habe, heute Gegenstand in dieser Reihe über unterrepräsentierte Klassiker sein. Denn obwohl sich dieses Werk international großer Bekanntheit rühmen lässt – ja, in den USA ist es sogar so etwas wie ein bis in die Popkultur gehender Klassiker – stellt es im deutschen Konzertkontext eine Rarität, wenn nicht sogar eine einzigartige Gelegenheit dar. Wie kommt es, dass „die Planeten“ so stiefmütterlich behandelt werden?
Spätestens seit den Filmmusiken von John Williams und Hans Zimmer sollte Gustav Holst doch eigentlich jedem Musikfan ein Begriff sein. Immerhin sind die Rückbezüge, die beide auf Holst durchführen, offenkundig: Man vergleiche nur die Musiken zu Star Wars, Harry Potter, Gladiator, Interstellar und viele andere mit „die Planeten“ und man muss feststellen: Diese Musikepen klingen doch wie aus derselben Feder. Es ist also nicht übertrieben, wenn man feststellt, dass ohne Gustav Holst unsere heutige Filmmusik anders wäre.
Und auch musikalisch ist diese Orchestersuite nicht nur absolut reizvoll. Sie entwickelt sich vor allem vor dem Hintergrund der sich stets verbessernden technischen Möglichkeiten zur Astroforschung auch inhaltlich stets weiter. So fand nach Experimenten in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts unter Leonard Bernstein erst 2000 die Uraufführung des Satzes „Pluto, der Erneuerer“ von Colin Matthews statt. Weitere Erweiterungen folgten – zuletzt 2013 der Satz „Erde“ von Clément Mepas.
Vor diesem Hintergrund ist es umso erstaunlicher, ja geradezu erschreckend, dass „die Planeten“ im deutschen Konzertbetrieb ein Außenseiterdasein pflegen. Wenn man einmal eine Aufführung dieser Komposition erleben möchte, muss man landesweit jedenfalls lange suchen. Ja, es grenzt schon fast an ein Wunder, wenn es überhaupt einmal aufgeführt wird, weshalb beispielsweise auch Termine, wie nächste Woche in der Tonhalle Düsseldorf eine ganz besondere Gelegenheit darstellen.
Der Grund dafür, warum diese Ausnahmemusik, ein solches Schattendasein pflegt, ist tatsächlich nicht ohne weiteres verständlich. Besonders, weil sie immer noch einen lebendigen, künstlerischen Prozess darstellt. Ja, Holst setzt in seiner Komposition auf ein enormes Orchester: 6 Hörner, Bassflöte, Bassoboe, Euphonium, Celesta, Orgel… das sind natürlich Sonderinstrumente, die man durch extra Musiker abdecken muss. Das hat nicht jedes Orchester im Repertoire.
Aber wenn man dann mal den Vergleich zu den deutschlandweit häufig gespielten Komponisten zieht, muss man ernüchtert feststellen: Dasselbe finden wir auch bei Mahler, Strauss, Strawinsky und Schostakowitsch. 6 Hörner? Alter Hut, da schaffen die deutschen Spätromantiker auch 8 oder mehr. Alt- oder Bassflöte? Spätestens seit Strawinsky im Repertoire. Bassoboe? Strauss verlangt in seiner (sehr häufig gespielten) Alpensinfonie das Heckelphon und damit ein noch obskureres Instrument. Und was ist ein Euphonium gegen 4 Wagnertuben, wie sie vom Namensgeber, von Bruckner und auch von Strauss verlangt werden?
Es kann also nicht an der Auswahl der Instrumente liegen, dass Holst so gut wie gar nicht in Deutschland rezipiert wird. Und auch die Bekanntheit müsste doch eigentlich vorhanden sein. Dazu ist sein Stück auch noch so dankbar komponiert, dass man es streng genommen in einzelne Sätze aufteilen kann. Fehlt also mal die Orgel – dann könnte man doch immer noch die Sätze „Venus“, „Merkur“, „Jupiter“ und „Neptun“ aufführen. Ähnlich sieht das mit den Sonderinstrumenten Bassflöte und Bassoboe aus.
Warum also seine atemberaubende Komposition hier so selten gespielt, ja geradezu missachtet wird – da kann man nur spekulieren. Vielleicht ist es eine Musik, die im Bewusstsein des Publikums nicht vorhanden ist? Das dürfte aber spätestens nach einmal Star Wars geklärt sein. Vielleicht ist es ein finanzielles Risiko? Das kann man aber nur gelten lassen, wenn man vergisst, dass wir in Deutschland eine ganze Reihe von staatlich subventionierten Orchestern haben, die regelmäßig mit modernen Klangexperimenten und den ganz alten Kamellen ihr Publikum zum Teufel jagen. Was könnte also sonst der Grund sein? Mangelt es den Dirigenten vielleicht an Mut? Oder an Interesse?
Was auch immer der Grund ist: Gustav Holst die Planeten sind eine Komposition, die viel häufiger auf die Spielpläne deutscher Konzertsäle gehört. Nicht nur, weil sie sich mit dem atemberaubenden Bombasten der deutschen Konzertliteratur messen kann. Sondern auch, weil sie mit eine der einflussreichsten historischen Musiken weltweit ist und sich dazu einer Tonsprache bedient, die selbst völlig klassik-fernen Menschen sofort ins Herz geht. Wenn also das nächste Mal ein neuer Spielplan entworfen werden soll – warum dann nicht Holst? In dem Sinne möchte ich allen Orchestern im Land einmal zurufen: Wagen Sie doch das Experiment! Es lohnt sich.
Daniel Janz, 9. Oktober 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Daniels vergessene Klassiker Nr 5: Fanny Hensel klassik-begeistert.de
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Daniels vergessene Klassiker Nr. 3: Hans Rott – Sinfonie Nr. 1 (1880)