Fotos: © Paul Brinkhoff/Birgit Mögenburg
Staatsoper Hamburg, 19. Mai 2022
Francis Poulenc
Dialogues des Carmélites
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Kent Nagano Dirigent
Nikolaus Lehnhoff Inszenierung
von Dr. Andreas Ströbl
Nur wer schon einmal existentiell bedrohliche Situationen erlebt hat, kann ermessen, was es wirklich heißt, Angst um jemanden zu haben und wie zerbrechlich das menschliche Dasein ist.
So ging es Francis Poulenc, als er 1955 sein tragisches Meisterwerk „Dialogues des Carmélites“, also „Gespräche der Karmeliterinnen“, vollendete. Sein Lebensgefährte Lucien Roubert starb nach schwerer Krankheit, als er gerade die letzten Takte der Oper komponierte. Im Jahr zuvor musste sich Poulenc bereits nach einem Nervenzusammenbruch stationär behandeln lassen und so nimmt es nicht wunder, dass seine wichtigste Oper tief durchdrungen ist vom Wissen um die Angreifbarkeit des menschlichen Lebens, was sich auch musikalisch in drohenden, düster vorausweisenden Motiven offenbart.
Nach einer früheren Krise im Jahre 1936, ausgelöst durch den Unfalltod eines Kollegen, und seinem Aufenthalt im Kloster Rocamadour hatte der Komponist zur Religiosität seiner Kinderzeit zurückgefunden. Diese Frömmigkeit schlug sich inhaltlich in den „Dialogues“ nieder, wobei das Libretto alles andere als unreflektiert oder naiv-religiös gefärbt ist. Es basiert auf dem gleichnamigen Bühnenstück von Georges Bernanos, dem wiederum die Novelle „Die Letzte am Schafott“ von Gertrud von Le Fort zugrunde liegt.
Es ist das klassische Motiv des Christentums, denn es geht um den Opfertod des unschuldigen Individuums und zwar für alle Menschen, im Vertrauen auf Gottes Gnade und der Treue zum Glauben verpflichtet. Die Hinwendung zum Religiösen und das ungebrochene Beharren auf dem eigenen Glauben in Situationen, in denen ein ums andere Mal offenbar wird, dass es keinen eingreifenden Gott gibt, bringt Atheisten regelmäßig zum Vorwurf der Naivität, in der verzweifelten Suche nach etwas, das zumindest den Vorteil hat, kein Psychologenhonorar zu kosten.
So einfach ist das nicht. Der am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg von den Nazis ermordete Theologe Dietrich Bonhoeffer hätte die Todesangst vor der Hinrichtung niemals so gefasst und souverän auf Distanz gehalten oder gar völlig beherrscht, wenn er nicht dessen gewiss gewesen wäre, dass er in seiner Zelle nicht allein war. „Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen“, das war ein Teil seines persönlichen Glaubensbekenntnisses.
Nicht umsonst wählt Blanche de la Force als Ordensnamen „Schwester Blanche von der Todesangst Christi“. Zufällig ist hier nichts und so führt die Stärke im Familiennamen der katholischen Schriftstellerein Gertrud von Le Fort (einer ihrer Vorfahren wurde „der Starke“ genannt) über die im entsprechenden Namen der Protagonistin direkt in einen der Dialoge im Kloster, wo Blanche (die unschuldig „Weiße“) von der Priorin darüber belehrt wird, dass Gott die Menschen weniger an ihrer Stärke, als vielmehr ihrer Schwäche misst. Blanche hat sich entschieden, nach Gethsemane zu gehen und da kommt sie laut der alten Priorin nicht mehr heraus. Das will sie auch gar nicht, denn sie hat sich die Angst ganz bewusst wie ein Ordenshabit angezogen. Es ist aber eine andere Angst als die vor dem Leben in der Welt, denn die hat sie dazu gebracht, dem Orden der Karmeliterinnen mit seinen strengen Regeln beizutreten.
Angst ist ein inhaltliches Leitmotiv der Oper, sie „klebt wie eine Maske auf der Haut“ und holt Blanche nach der Auflösung des Klosters durch das Revolutionstribunal ein, sodass sie ins elterliche Haus flieht. Dort fühlt sie sich sicher, obwohl ihr Vater kurz zuvor guillotiniert wurde. Wie Petrus einst Christus verleugnet hat, verleugnet sie ihr Nonnenleben, aber tiefe Reue und die Liebe zu Gott, der Wahrheit und ihren Mitschwestern lässt sie ihre Angst überwinden. Sie teilt das Martyrium des bis auf Mère Marie kompletten Konvents und steigt freiwillig aufs Schafott.
Der absurde Vorwurf der Konterrevolution als Rechtfertigung für die Auslöschung unschuldigen Lebens zieht sich durch die Geschichte der menschlichen Zivilisation und vor allem ihrer Brüche wie ein blutroter Strom. Und so kann ein Diktator den jüdischen Präsidenten eines sogenannten Brudervolkes als „Nazi“ bezeichnen und mit diesem Scheinargument den widerwärtigsten, blutigsten Angriffskrieg seit dem Zweiten Weltkrieg führen. Das „Heldische“, das Blanche im geistigen Stand beschwört, gemahnt im kämpferischen Gestus auch an die Haltung einer Jeanne d’Arc und schlägt assoziativ unweigerlich den Bogen zu den aktuellen Geschehnissen.
Die zeitlose Inszenierung des vor sieben Jahren verstorbenen Nikolaus Lehnhoff aus dem Jahre 2003 mit ihrem reduzierten Bühnenbild dominieren vertikale Strukturelemente, die Tapetenstreifen, Gitterstäbe oder Säulen von Hallen im faschistischen Baustil bedeuten können. Zwischen ihnen öffnen sich Türen, Durchblicke oder Fenster. Die Requisiten sind auf das Notwendigste beschränkt, was die Konzentration auf Handlung, Musik und eben die namengebenden Gespräche lenkt. Der bewährte Erbstüll-Vorhang erlaubt, abgesehen von seiner verbergenden Funktion während der heftig rumpelnden Umbaupausen, feine Spiele mit Licht und Transparenz.
Die Kostüme von Andrea Schmidt-Futterer entsprechen der genannten Zeitlosigkeit bzw. arbeiten mit Versatzstücken und Zitaten. So steht der bürgerlichen Gewandung von Blanches Familie und der überzeitlichen Ordenstracht bzw. ihrer Destruktion die Mischung aus Proletentum und Martialität gegenüber, wie sie typisch für das Militär und seine Schergen ist. Revolutionskommissare und ihre Helfershelfer sind schwarz gekleidet; man denkt ebenso an stalinistische Funktionäre wie an SS-Offiziere, ohne dass dies aufdringlich wirkt.
Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter Kent Naganos sensiblem Dirigat verhilft der kontrastreichen Musik mit ihrer farbenreichen Instrumentierung zu intensiven, je nach Stimmung hoffnungsfrohen oder beklemmenden Expressionen bis hin zum Entrückt-Transzendentalen. Gerade das vielfältige Schlagwerk bringt hier überraschende Akzente in die dunklen Akkorde, manchmal setzt es Hiebe mit der Peitsche bzw. Gegenschlagklappe, die wie Ohrfeigen klatschen.
Schon rein inhaltlich fordert diese Oper eine Unterordnung der Individuen unter die gesellschaftliche bzw. klerikale Gesamtheit. Allerdings stechen die gesanglichen Leistungen von Mojca Erdmann als Blanche, Sophie Pondjiclis als alte Priorin Mme de Croissy, Katja Pieweck als Mère Marie und Emma Bell als neue Priorin Mme Lidoine sowie Nerea Son als Schwester Constance heraus. Mojca Erdmann spielt und singt mit jugendlich-frischem Sopran beeindruckend eine Blanche, die sich vom unterschätzten „Häschen“, wie sie ihr Bruder nennt, zur Ordensschwester mit all ihren inneren Kämpfen und ihrer letztlich wiedergefundenen Standhaftigkeit wandelt. Katja Piewecks Mère Marie und Emma Bells Mme Lidoine meistern die schwierige Aufgabe, eigene psychische Dispositionen, Ängste und das Abstecken der hierarchischen Positionen innerhalb des Konvents darzustellen. Die Bereitschaft auf Verzicht und eine enorme Willensstärke bilden nur zwei der verschiedenen Pole, die sowohl individuelle Wege als auch das Miteinander in solch geschlossenen Gruppen bestimmen.
Der Todeskampf der alten Priorin ist eine der mitreißendsten, ja furchtbarsten Szenen dieses Werks und gerade das Aufbäumen gegen den Tod und den damit einhergehenden Zweifel an Gottes Gnade stöhnt Sophie Pondjiclis so schmerzhaft heraus, dass man tiefstes Mitleid und Verständnis für ihr Schwanken im Glauben empfindet – von ihrer Darstellung der immer schwächer werdenden Vorsteherin in den vorigen Szenen ganz abgesehen. Durch Krankheit hervorgerufene innere Brüchigkeit glaubhaft auf die Bühne zu bringen ist viel schwieriger als jugendliche Vitalität zu spielen.
Nerea Sons naive, etwas plappermäulige Constance erinnert sich an ihre Zeit vor dem Eintritt ins Kloster so tänzerisch-überzeugend, dass man sich wirklich fragt, ob dieses Mädchen nicht im bürgerlichen Leben besser aufgehoben wäre. Aber auch sie wird ihre innere Festigkeit am Ende unter Beweis stellen.
Alle weiteren Rollen einzeln zu würdigen, würde den Rahmen dieser Besprechung sprengen, aber sämtliche Solistinnen und Solisten sowie der Chor trugen mit großartigen Leistungen zum hohen Niveau dieser Produktion bei. Diese gipfelt in der erbarmungslosen und durch den Reduktionismus gerade noch erträglichen Darstellung der Hinrichtung der 16 Karmeliterinnen durch die Guillotine. Einzeln treten sie, jeweils das „Salve Regina“ auf den Lippen, zwischen die vertikalen Streifen, die Schwärze fällt mit sirrendem Geräusch von oben herab und beendet kalt und hart ein aufrechtes Leben nach dem anderen.
Eine technische Panne wollte, dass eines der stilisierten Fallbeile nicht herabsauste und so schien ein Feld noch einen Moment lang erleuchtet wie ein letzter Schimmer Hoffnung, bevor die Dunkelheit auch diesen Restraum füllte. Nach der Angst kommt nur noch die Stille.
Das Publikum flüchtete sich aus dem düsteren Vakuum durch auffällig rasch einsetzenden, weil erlösenden, lebendigen Beifall. Es fällt immer schwer, nach solch schwerer Kost „Bravo“ zu rufen, aber das erscholl schließlich oft und herzlich.
Ein beeindruckender, hochemotionaler Opernabend.
Dr. Andreas Ströbl, 21. Mai 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
„L’amore dei tre re“, Oper von Italo Montemezzi Theater Lübeck, 13. Mai 2022
Antonín Dvořák, Rusalka, Hamburger Elbphilharmonie, 8. Mai 2022
Rotterdams Philharmonisch Orkest, Yannick Nézet-Séguin Dirigent, Elbphilharmonie, 27. April 2022
…Die technische Panne gehört wohl zur Inszenierung: vor 20 Jahren war das nicht anders und Jahre später war es auch so.
Leider hat mir die angekündigte Janina Baechle als Priorin gefehlt.
Hans-Bernd Volmer