Ohren- und Augenfutter: Händels "Brockes-Passion" fulminant musiziert und inszeniert an der Oper Halle

Georg Friedrich Händel, Brockes-Passion, Premiere, Oper Halle, 3. Oktober 2021

Brockes-Passion, Michael Zehe. Foto: © Bühnen Halle, Fotos: Federico Pedrotti

Georg Friedrich Händel, Brockes-Passion „Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Jesus“ HWV 48

Premiere, Oper Halle, 3. Oktober 2021

von Dr. Guido Müller

Bereits zwei Wochen nach der Premiere zur Eröffnung der Spielzeit an der Oper Halle legt der neue Intendant Regisseur Walter Sutcliffe seine zweite von ihm inszenierte Produktion mit der Hamburger Passion Händels von 1719 vor. Diese war allerdings bereits bis zur Generalprobe im April 2021 für die Händel-Festspiele gereift.

Die bundesdeutsche Staatsspitze feierte in diesem Jahr coronabedingt ohne Beteiligung des Volkes in der Händel- und Kulturhauptstadt Halle am selben Tag den (Feier-)„Tag der Deutschen Einheit“. Die Gewerkschaft Verdi bestreikte den öffentlichen Nahverkehr. Außerdem gab es verschiedene Demonstrationen, die alle zusammen mehr oder weniger mit einem riesigen schwer bewaffneten Polizeiaufgebot die Stadt Halle total blockierten. Sie verliehen damit der Realität fast eine stärkere Dramatik als die politisch ambitionierte Inszenierung eines Intendanten, der zuvor die Oper in Nordirland geleitet hatte. Und auch als 41-Jähriger halber Australier, der seit zehn Jahren in Berlin lebt und sicher mit politischen, sozialen, nationalen und religiösen Konflikten gut vertraut ist. Aber Sutcliffe verlegt die Handlung nicht einfach nach Irland. Sondern er wählt die religiös und politisch durch Fanatismus zerrissene kapitalistische Supermacht USA von der Vorzeit des sich zum Homo Sapiens erhebenden und siedelnden Urmenschen über die puritanischen Pilgrim Fathers und über die Zeit der „Lady Liberty“ – der Freiheitsstatue – mit erotisch prickelndem und verführerischem Mezzosopran gesungen und gespielt von Yulia Sokolik im roten Abendkleid und mit Glitzerkrone als „Gläubige Seele“ – bis in die jüngste Gegenwart.

Diese sieht Sutcliffe in einer durch Militäreinsätze (Drohnenkriege), riesige Brände und Umweltkatastrophen zerstörten Umwelt und bestimmt durch eine religiös, konsumistisch und nationalistisch extreme republikanische Partei, die sich  auf einem US-typischen Konfetti-Parteitag im Trump-Rausch feiert. Diese Realität bestimmt den zweiten Teil nach der Pause mit dem Einbruch der großen Dunkelheit, dem Leiden Jesu am Kreuz und seinem Sterben. Diese Aktualisierung wäre dann einer christdemokratischen Kanzlerin an der treuen Seite des Verbündeten USA  als potentieller Besucherin dann vielleicht doch etwas zu viel gewesen.

Würde die Bundeskanzlerin Händel so wie ihren Wagner schätzen, hätte sie nämlich bei ihrem Besuch der Vorstellung am Abend in der Oper Halle nach ihrem „Staatsbesuch“ in Halle großartiges Musiktheater erleben können. Vielleicht holt sie das im Ruhestand mal nach, wenn der Intendant der Händel-Festspiele Clemens Birnbaum und der Opernintendant Sutcliffe sie persönlich einladen so wie der Chef des Bachfestes in Leipzig Michael Maul den Papst Benedikt „im Ruhestand“ als Schirmherrn gewann.

v.l. Ki-Hyun Park, Ks. Romelia Lichtenstein, Yulia Sokolik und Chor © Bühnen Halle, Foto: Federico Pedrotti

Von den Störungen draußen unverdrossen strömte das durch die Corona-Regeln bedingt auf 250 Besucher reduzierte Publikum zu einer festspielreifen Premiere, die auch pünktlich begann.

Wie der Intendant am Ende der Vorstellung mit britischem Pragmatismus verkündete, würde der Opernbesuch immer noch möglich gemacht, trotz aller Corona-Restriktionen (es gilt G2 und Besucherfragebogen für den Besuch), auch wenn es offiziell ausverkauft heißen würde. Niemand solle sich davon abschrecken lassen.

Musikalisch wird die Vorstellung getragen von einem bestens aufgelegten, präzise und mit einem breiten Spektrum an Klangfarben spielenden Händelfestspielorchester teilweise auf historischen Instrumenten unter Michael Hofstetter. Zunächst herrscht der Klang von Streichern, Zupfinstrumenten und Orgel vor. Ab der Mitte des Werkes kommen die Bläser mit den beiden Fagotten und zwei Oboen hinzu, die zutiefst berührend vor allem die Tochter Zion begleiten. Von den 106 Musikstücken (!) trägt die Tochter Zion im Kostüm einer jungen Puritanerin neben dem über Lautsprecher eingespielten Chor die Hauptlast (Choreinstudierung Johannes Köhler). Diese oft surrealistisch wirkende, noch den Corona-Regeln verpflichtete Regelung führt dazu, dass der Chor, teilweise mit Maske auf der Bühne, in jeder Hinsicht weniger präsent ist. Und am Ende kommt er nur noch fern und knisternd aus den Lautsprechern wie eine sehr ferne Botschaft der Verheißung.

v.l. Vanessa Waldhart, Yulia Sokolik © Bühnen Halle, Foto: Federico Pedrotti

Von Last oder gar Ermüdung kann allerdings bei der immer bestens im Gesang und im Schauspiel sehr präsenten Vanessa Waldhart keine Rede sein. Ihre perlend kristallklaren Koloraturen, ihre gurrende Erotik in Stimme und Spiel, ihre lyrische Emphase und ihre spielerisch leicht auf den Punkt erreichten Spitzentöne sind atemberaubend gut gesungen und erweichen das härteste Puritanerherz auch ihres Mitspielers, des Evangelisten. Hier zeigt uns Händel schon auch in diesem frühen kirchlichen Werk wie in seinen großen Opern, wie ihm das Schicksal der Heldinnen sein eigentliches musikalisches Anliegen ist.

Den Sprecher der Puritaner-Gemeinde singt und spielt der Tenor Robert Sellier sowohl als Puritaner wie als Evangelist mit starker Präsenz und im Vollbesitz seiner vokalen Möglichkeiten wie lange nicht mehr. Als Evangelist führt er uns zunächst als Puritaner-Prediger mit der Bibel in der Hand durch das Geschehen, immer wieder von der Tochter Zion auf den rechten Weg geführt, und dann auch im Umhang als Evangelist und schließlich im Glitzeranzug auch per Videobotschaft als republikanischer Evangelikaler – durchaus auch wenig puritanisch empfänglich für weibliche Reize. Sutcliffe lässt immer auch ein Augenzwinkern für Autoritäten zu.

Neben diesen Beobachtern und Kommentatoren des neutestamentlichen Geschehens steht im Mittelpunkt die Gestalt von Jesus Christus. Wie seine Begleiter Petrus (Jorge Navarro Colorado erschüttert als Sünder in Gesang und Spiel), Johannes (Uta Eckert) und Jacobus (Christina Mattaj) erscheint er rein weiß abstrakt, gipsern starr und unmenschlich auch in solchen verschlossenen weißen hellen Räumen. Ein optisch, ästhetisch und gedanklich wunderschönes Bild für die ausweglose Situation Jesu im Passionsgeschehen, in dem aber auch seine jüdischen und römischen Gegner auf ihre starre Gipsigkeit festgelegt sind.

Michael Zehe vermag es, uns als Jesus mit seinem wunderschönen Bassbariton über sein Schicksal zutiefst und auch zu Tränen zu rühren. („Bestürzter Sünder nimm in Acht des Heilands Schmerzen“ zitiert das Programmheft).

Ähnlich berührt der Judas von Countertenor Leandro Marziotte. Er singt und spielt den Judas mit seiner hohen, aus dem Männer-Ensemble herausragenden, verstörend schönen Verräterstimme. Aber wer von uns hat nicht schon einen anderen Menschen verraten?

Der stimmschöne Bass Ki-Hyun Park füllt dieses Mal in seiner enormen Wandlungsfähigkeit gleich vier Rollen aus: Caiphas, Pilatus, den Hauptmann und die „Gläubige Seele“. In dieser letzten Rolle darf auch er uns gegen Ende mit seinem balsamischen Bass in einer Abfolge von Arien und Rezitativen beeindrucken und rühren.

Auf derselben Festivalhöhe singt, gestaltet und berührt die mittlerweile auch im hochdramatischen Fach beheimatete Kammersängerin Romelia Lichtenstein als „Gläubige Seele“, Jesu Mutter Maria und Mutter eines gefallenen US-Soldaten.

v.l. Damen und Herren des Chores, Robert Sellier, Michael Zehe © Bühnen Halle, Foto: Federico Pedrotti

Das für eine so fast dreistündige Passion nötige Augenfutter verleiht die Bühnen- und Kostümgestalterin Dorota Karolczak durch aufwändige und zugleich praktikable durch Dreiecke und Quadrate bestimmte große und kleine Bauten auf der Drehbühne, Leuchtelemente à la Las Vegas, Videos (Konrad Kästner) und die Einbeziehung magischer Hell-Dunkel- und Lichtwirkungen, mit der schon der „Sommernachtstraum“ an der Oper Halle vor zwei Wochen bezaubert hatte.

Zum rundum zufriedenstellenden Gelingen der Produktion trägt auch das umfangreiche, überaus informative Programmheft bei, das Chefdramaturg Boris Kehrmann erstellt hat. Er erklärt uns auch die heute meistens nicht mehr verständlichen barocken Sprachbilder in den Übertiteln. Diese sind jetzt übrigens sehr lesefreundlich auf Monitoren an den Seiten der Bühne und nicht mehr über der Bühne angebracht und auch bei Werken, die in deutscher Sprache gesungen werden. Dass der Zuschauer auch sprachlich alles genau versteht, scheint dem neuen Team an der Oper Halle ein besonderes Anliegen. Wie überhaupt sehr spürbar Sutcliffe das Publikum ins Zentrum seiner Arbeit rückt.

Großer Jubel des Publikums nach drei Stunden spannendem Musiktheater und kein einziger Buhrufer trotz einer sowohl im Bereich der Religion wie des Politischen ambitionierten Inszenierung. Das gab es schon lange nicht mehr an der Oper Halle. Aber das vorhergehende Team des Intendanten Florian Lutz hat auch die Sehgewohnheiten des Publikums sehr erweitert und auch oft (über-)strapaziert. Da die „Brockes-Passion“ jetzt auch häufig am Sonntagnachmittag auf dem Spielplan steht, sind auch einfach Besuche von weiter außerhalb möglich. Nicht nur für Alte-Musik-Liebhaber sehr zu empfehlen!

Dr. Guido Müller, 4. Oktober 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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