The Rake's Progress : Wohlgeformt und unterhaltsam präsentiert das Gärtnerplatztheater Strawinskys Musenstück

Igor Strawinsky, The Rake’s Progress    Staatstheater am Gärtnerplatz, München, 7. Oktober 2022 PREMIERE

Foto: Juan Carlos Falcón (Sellem), Ensemble des Gärtnerplatztheaters
© Jean-Marc Turmes

Staatstheater am Gärtnerplatz, München, 7. Oktober 2022 PREMIERE

The Rake’s Progress 
Musik von Igor Strawinsky

»Die Karriere eines Wüstlings«

Musik von Igor Strawinsky
Libretto von W. H. Auden und Chester Kallman

In englischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Chor des Staatstheaters am Gärtnerplatz
Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz
Rubén Dubrovsky, Dirigent

von Frank Heublein

An diesem Abend hat im Gärtnerplatztheater Igor Strawinskys Oper „The Rake’s Progress“ Premiere. Es ist des Komponisten einzige abendfüllende Oper. In München am Gärtnerplatz bringt dieser Abend Lust für Ohr und Auge. Bunt ist die Ausstattung. Im ersten Akt scheint Hauptperson Tom Rakewell den 1970ern entsprungen, er erinnert mich in seinem Outfit an einen Mix zwischen den späten Beatles und David Bowie.

Tenor Gyula Rab singt die Titelpartie Tom Rakewell im ersten Teil merkbar weniger präsent als Sopranistin Mária Celeng als seine wahre und gesanglich strahlende Liebe Anne Trulove und Matija Meić als eindrucksvoll vollen und wuchtigen Bariton in der Rolle des Teufels alias Nick Shadow. In zwei Duetten mit Anne in der ersten und mit Nick in der zweiten Szene im ersten Akt lässt er sich mitziehen, ist er auf sängerischer Augenhöhe. Im zweiten Teil steigert er sich. Nick fordert Toms Seele. Die Aussichtslosigkeit Toms, das Erkennen der echten Liebe zu Anne, darin Entscheidungskraft zu finden, all das singt Rab viel stärker, nuancierter, ausdrucksvoller als seine abgehobenen Glücksvorstellungen und Ausschweifungen im ersten Teil.

Mária Celeng überzeugt als Anne mit ihrer festen und strahlenden Stimme und einem überzeugenden Spiel. Tom hat seit einem halben Jahr nichts von sich hören lassen, sie sieht ihn als Popstar im Fernsehen. Ihre Liebe ist unerschütterlich und sie fürchtet, dass sich Tom in den Abgrund trudeln lässt. Sie überlegt, ob sie es ihrem Vater antun kann, einen Rettungsversuch Toms zu unternehmen, ihr Vater ist stark, Tom ist schwach, so trifft sie die Entscheidung, dem Schwachen zu helfen. Celengs Stimme walkt die schwankenden Gefühle und Überlegungen förmlich in mich hinein. Ihre wunderbar gesungene Arie in der dritten Szene des ersten Aktes trifft mich emotional tief.

Mária Celeng (Ann Trulove), Ensemble des Gärtnerplatztheaters © Jean-Marc Turmes

Celengs zweites großes Solo ist ein Schlaflied für den irre gewordenen Tom. Auch hier trifft mich ihre Stimme tief. Strahlend und zugleich zart, ausdrucksstark, behütend, schmerzlich liebend singt sie diese Arie. In diesem Moment reduziert sich die Orchesterbegleitung auf zwei Flöten. Die heftigsten Emotionen werden im zweiten Teil mit Soloinstrumentation im Orchester erzeugt. Es überrascht mich und es funktioniert in mir hervorragend.

Bariton Matija Meić singt Nick Shadow voll brodelnder Energie. In seinem Part materialisiert sich das musikalische Grundmuster des treibenden Marschs am deutlichsten. Ein Jahr dienen und dann mit der Seele bezahlt werden. Voran! Voran! Das Duett am „Zahltag“ zwischen Nick und Tom gelingt eindrucksvoll. Auch hier wird das Orchester auf das Soloinstrument Cembalo reduziert, was die nervenaufreibende Spannung verdichtet, intensiviert.

Gyula Rab (Tom Rakewell), Ensemble des Staatstheaters am Gärtnerplatz© Jean-Marc Turmes

Rubén Dubrovsky dirigiert das sehr gut disponierte Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz absolut präzise. Zuweilen meine ich, dass das Orchester die Handlung geradezu vor sich hertreibt. Diesem Vorwärtsdrang kann sich keiner entziehen. Umso plötzlicher und stärker wirken die ruhigen nachdenklichen Solomomente.

Musikalisch spannend und herausfordernd sind die Momente, in denen das Orchester als Gegenpart zu den Stimmen fungiert. Aus der Begleitung heraus entwickelt sich ein zusätzlicher eigener orchestraler musikalischer Puls, der die Stimmen und den Inhalt des Gesangs emotional für mich verschiebt.

Strawinsky bedient sich konzeptuell an kompositorischen Vorgängern. Schon allein 1951 ein Cembalo solistisch einzusetzen, erinnert mich an barocke Kollegen wie etwa Händel. Terzette, in denen die Solisten für sich selbst singen und zugleich orchestermusikalisch ins Terzett gebündelt werden, da denke ich an Rossini. Auch habe ich Mozartmomente. Es ist nicht so, dass ich das als Kopie wahrnehme, eher ein im Opernsitz zu kurzer Erinnerungsmoment einer anklingenden musikalischen Bekanntschaft. Darüber nachzudenken habe ich keine Zeit. Viel zu schnell geht, progresst es weiter. Erst im Schreiben danach führe ich mir diese musikalischen Beziehungen vors Auge.

Der Chor des Staatstheaters am Gärtnerplatz hat seinen großen Auftritt in der ersten Szene des dritten Aktes, In Toms Popstarwohnung werden nach seinem Verschwinden alle Gegenstände versteigert. Herrlich wirbelnd, überschwänglich, das gierig Gaffende, die wohlige Lust der Masse am Untergang des Stars. Das gelingt wunderbar sowohl stimmlich und als auch choreografisch.

Das Ende Toms ist das Ende der Opernhandlung, aber nicht der Oper. Denn Strawinsky zieht alle Register. Im Epilog treten alle Solisten aus ihren Rollen heraus und verkünden vor dem Vorhang umhertänzelnd in brachialer musikalischer Dynamik die Moral: „For idle hands / And hearts and minds / The devil finds / A work to do, / A work, dear sir, fair madam, / For you and you“ – „Für faule Hände / Herzen und Köpfe / findet der Teufel / eine Beschäftigung. / Eine Beschäftigung, liebe Damen und Herren / für Sie und Sie!“.

Adam Cooper zeichnet nicht nur für Regie, sondern auch für die hervorragend integrierte Choreografie des Tanzensembles verantwortlich. Ihm gelingt eine intensive, die Spannung jederzeit haltende Inszenierung. Die Bühne Walter Vogelweiders gefällt mir sehr. Intelligent, abwechslungsreich, zugleich unaufdringlich. Der Hintergrund mit bewegten oder stehenden eindrucksvollen Motiven, etwa dem Teufelsmotiv in der Zahltagszene. Die Bühne bietet zusammen mit der zuweilen bunten, zuweilen 1980er abgehalfterte Punk Kostümaustattung Alfred Mayerhofers und dem gut gesetzten Licht Michael Heidingers beste atmosphärische Unterstützung des Stücks.

Am Ende gibt es wohlverdienten und brandenden Applaus für alle Beteiligten auf, vor und hinter der Bühne. Welch Glück für mich, des Teufels Pech. Denn faul ist mein Herz und Kopf an diesem Abend nicht, so wohlgeformt und unterhaltsam präsentiert das Gärtnerplatztheater Strawinskys Musenstück.

Frank Heublein, 8. Oktober 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Programm

The Rake’s Progress – »Die Karriere eines Wüstlings«
Musik von Igor Strawinsky
Libretto von W. H. Auden und Chester Kallman

Besetzung

Dirigat   Rubén Dubrovsky
Regie und Choreografie   Adam Cooper
Bühne   Walter Vogelweider
Kostüme   Alfred Mayerhofer
Licht   Michael Heidinger
Video   Meike Ebert, Raphael Kurig
Dramaturgie   Christoph Wagner-Trenkwitz

Trulove   Holger Ohlmann

Anne Trulove   Mária Celeng

Tom Rakewell   Gyula Rab

Nick Shadow   Matija Meić

Mutter Goose   Ann-Katrin Naidu

Türkenbaba   Anna Agathonos

Sellem   Juan Carlos Falcón

Gefallene Engel   Hannah Schöll, Arabella Wäscher

Tanzensemble   Giovanni Corrado, Federica Faini, Luca Giacco, Anima Henn, Isabel Knoop, Johannes Thumser

Chor des Staatstheaters am Gärtnerplatz
Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz

Der Sturm, Ballett von Ina Christel Johannessen Staatstheater am Gärtnerplatz, München, 25. Mai 2022 PREMIERE

Jonny spielt auf, Oper von Ernst Krenek, Staatstheater am Gärtnerplatz, München, 31. März 2022

Hoffmanns Erzählungen, Musik von Jacques Offenbach, Staatstheater am Gärtnerplatz, Premiere A am 27. Januar 2022

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