© Royal Opera House
Dies ist zweifellos die originellste, intelligenteste und vor allem humorvollste Inszenierung von Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“, die gegenwärtig auf den großen Opernbühnen zu sehen ist – und in der Produktion der Londoner Royal Opera selbstverständlich von höchster musikalischer Perfektion.
Jacques Offenbach, Hoffmanns Erzählungen
Opéra fantastique
Royal Opera London, 12. November 2024
Dirigent: Antonello Manacorda
Inszenierung: Damiano Michieletto
Bühne: Paolo Fantin
Kostüme: Carla Teti
Licht: Alessandro Carletti
Choreographie: Chiara Vecchi
Chor und Orchester der Royal Opera
Chorleiter: William Spaulding
Koproduktion mit: Opéra National de Lyon, Opera Australia, Teatro La Fenice Venedig
von Dr. Charles E. Ritterband
Ein Schuss Selbstironie ist Teil dieser surrealen Inszenierung mit ihrem postmodernen Touch. Musikalisch überragend, allen voran Juan Diego Flórez – unbestreitbar der führende Belcanto-Tenor weltweit, und bis 2026 künstlerischer Leiter des renommierten Rossini-Festivals in Pesaro – glänzte als Hoffmann in Covent Garden und war wie nicht anders zu erwarten der Star dieser sprühenden Aufführung.
Nicht weniger als vier große Häuser haben neben der Royal Opera als Koproduzenten an dieser überaus aufwendigen Inszenierung mitgewirkt: die Opéra National de Lyon, die Opera Australia und das Teatro La Fenice in Venedig, wo ich diese denkwürdige Produktion bereits genießen durfte – und Venedig ist ja, mit der legendären Barcarole für Sopran und Mezzo, der Schauplatz des letzten Aktes…
Als sich am 8. Dezember 1881 anlässlich der Aufführung von „Hoffmanns Erzählungen“ der Brand im Wiener Ringtheater, die größte Theaterkatastrophe des 19. Jahrhunderts, ja vielleicht der Weltgeschichte überhaupt, mit mindestens 384 Todesopfern (manche Quellen sprechen gar von bis zu 1000), ereignete, war der Volks-Aberglaube mit einer Erklärung rasch zur Stelle: Nicht, wie die Feuerwehr später ermittelte, die defekte und dann explodierende Gasbeleuchtung der Bühne war es, welche die Kulissen in Brand setzte und alsbald zum Inferno im Zuschauerraum führte – nein, die Ursache war, wie man sich in Wien zuflüsterte eine ganz andere: Die Katastrophe war der Tatsache geschuldet, dass in jedem Akt der Teufel – in jeweils anderer Gestalt – auftritt und Hoffmanns erotische Träume durch den Tod der jeweiligen Geliebten durchkreuzt.
Ob bei diesen Gerüchten der in Wien heftig grassierende Antisemitismus eine Rolle gespielt hatte, entzieht sich meiner Kenntnis, würde aber kaum erstaunen – dass hingegen viele oder gar die meisten der damals zu beklagenden Todesopfer aus dem Wiener jüdischen Bildungsbürgertum stammten, ist historisch verbrieft.
Wagner zum Ringtheaterbrand: „Geschieht ihnen ganz recht“
Dass der Brand eine wichtige historische Konsequenz für sämtliche Theater der Welt nach sich zog, ist bekannt: Die gesetzlich untermauerte Einführung des Eisernen Vorhangs zwischen Zuschauerraum und Bühne.
Weniger bekannt ist der süffisante Kommentar des mit dem rasend erfolgreichen Offenbach rivalisierenden Richard Wagner zu dieser verheerenden Theaterkatastrophe: „Geschieht denen ganz recht, dass sie sich ein derart unmoralisches Stück anschauen“, soll er gegenüber seiner Frau Cosima (deren Tagebücher ich übrigens seinerzeit redaktionell im Piper-Verlag betreuen durfte) bemerkt haben. Dass der bekennende Antisemit Wagner sich zu dieser angesichts von Hunderten Todesopfern derart pietätlosen Äußerung hinreißen ließ, erstaunt allerdings kaum.
Dass der Teufel – alias Conseiller Lindorf, Coppélius, Dr Miracle, Dapertutto – in dieser Oper neben dem Poeten Hoffmann die zentrale Figur ist, liegt auf der Hand. Und dass „le Diable“ eine erstklassige Besetzung verlangt ist ebenso klar. Der italienische Bassbariton Alex Esposito erfüllte diese Bedingung in geradezu idealer Weise: Eine sonore, diabolisch in infernalische Tiefen hinabwirkende und doch stets warme Stimme – und eine überzeugende Darstellung dieser teuflischen Erscheinung in ihren vielfachen trügerischen Verwandlungen.
Flórez glänzt – Olympia brilliert
Juan Diego Flórez zeigte nicht minder virtuose Wandelbarkeit: Als kaputter, dem Alkohol sich hingebender Dichter mit verwahrlost-langem grauem Haar und schäbigem Wintermantel im ersten Akt, bald darauf als naiver Schuljunge im zweiten und als romantischer Liebhaber im dritten sowie im vierten Akt. Stimmlich ausgefeilt, vielleicht etwas allzu sanft (insbesondere im „lustigen“ ersten Teil der Ballade über den skurrilen Zwerg Klein Zack/Zaches/Zinnober – angemessen lyrisch dann im „träumerischen“ zweiten Teil).
Flórez’ trotz seiner 51 Lebensjahre nach wie vor jugendlich-frische Stimme zu charakterisieren wäre eine Herausforderung – sie ist einfach wunderbar, samtweich und perfekt kontrolliert. Aber als virtuoser Belcanto-Tenor mit atemberaubenden Koloraturen hatte er mich doch diesen Sommer in Pesaro noch mehr beeindruckt – vielleicht ist Flórez als Hoffmann doch nicht die optimale Besetzung.
Diese Inszenierung durchbricht alle gängigen Klischees bisheriger Hoffmann-Inszenierungen: Originellste Lösungen kamen hier glänzend zur Anwendung. So in der Olympia-Szene: Hoffmann begibt sich ja auf eine fiktive Reise der Erinnerung in seine eigene Vergangenheit und diese Szene, in der ja sonst stets die Werkstatt des Puppenmachers Spalanzani und ein glänzender Empfang für seine Freunde bzw. potenzielle Kunden, also die gehobene Pariser Gesellschaft gezeigt wird.
Ganz anders hier: Da taucht Hoffmann in eine Szene seiner frühesten Jugend ab, der gesamte Chor tritt auf in kurzen Hosen beziehungsweise Röckchen als ziemlich randalierende Schulkinder. Spalanzanis Assistent Cochenille ist hier der Schulwart, der von den Kindern gehänselt wird und das mechanische Wunderkind Olympia löst auf einer großen Wandtafel komplizierteste mathematische Gleichungen.
Ihre berühmte Arie wird auch hier zu einem der absoluten musikalischen Höhepunkte: Olga Pudova setzt trittsicher, mit perfekter Phrasierung und glockenhell-klarer Stimme an zu ihren halsbrecherischen Koloraturen. Dass sie dabei eine leicht metallische Färbung mitbringt, erhöht die Glaubwürdigkeit und den Reiz der Figur. Zugleich mimt sie mit mechanischen Bewegungen überzeugend die mechanische Puppe.
Antonia als Tänzerin statt Sängerin
Es ist Teil des Humors und der Originalität dieser vor geistreich-kreativen Ideen geradezu überquellenden Inszenierung, dass der „Antonia-Akt“ nicht im düster-morbiden Ambiente ihres Elternhauses beginnt, das ja für immer überschattet wird vom (durch Doktor Mirakel herbeigerufenen) Tod der Mutter und lediglich aufgeheitert durch die dank der Schwerhörigkeit des Hausdieners Frantz mit seinen halbwegs witzigen Missverständnissen.
Nein, Frantz wird zu (leicht tuntenhaften) Ballettmeister für eine ganze Truppe von entzückenden kleinen Ballett-Elevinnen in bunten Tutus, welche sich über Frantz hinter dem Rücken lustig machen. Eine Szene, die ähnlich wie die Schulstunde in der vorangehenden „Olympia“-Szene den „comic relief“ im Shakespeare’schen Sinne bildet und in ihrer wunderbaren Komik die Sentimentalität der Handlung ausbalanciert. Ein Wurf.
Doch Antonia selbst ist hier, ihrer Mutter folgend, nicht wie üblich Sängerin, sondern Tänzerin und rollt wegen ihrer Behinderung, die sie am geliebten Tanz hindert, im Rollstuhl über sich auf das Singen beziehen, die Handlung aber um den Tanz kreist.
Doch wird, wie konsequent überhaupt in dieser Inszenierung, das Material uminterpretiert, in einen ganz anderen Kontext (Schule statt Puppenwerkstatt, Ballett-Studio statt düsteren Haushaltes) transponiert – und es überrascht und funktioniert. Diese Antonia (Ermonela Jaho) verfügt, wie der Londoner „Guardian“ bewundernd feststellt, über „einen Rolls Royce von einer Stimme“. Das Duett mit Hoffmann ist hinreißend klangvoll und ihre leisen, lyrischen Passagen sind getragen von höchster Subtilität und Wärme.
Die Kostüme (Carla Teti) und das eigenwillige Bühnenbild (Paolo Fantin) glänzen ganz besonders im venezianischen Giulietta-Akt, und diese Giulietta (Marina Costa-Jackson) mit ihrer an Vibrato und eleganten Tiefen reichen, sonoren Stimme vollendete die Parade an stimmlichen Höhepunkten aufs Trefflichste.
Dass Hoffmanns Famulus Nicklausse hier als bunter Papagei erscheint kann angesichts dieser farbenprächtigen Inszenierung, in der die drei Assistenten des Teufels als virtuose, gehörnte Tänzer aus der Kulisse erscheinen, niemanden mehr wirklich erstaunen.
Ab dem 15. Januar 2025 wird diese Produktion in rund 1500 Kinos weltweit übertragen
Dr. Charles E. Ritterband, 16. November 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Besetzung:
Hoffmann: Juan Diego Flórez
Muse/Antonias Mutter: Christine Rice
Conseiller Lindorf, Coppélius, Dr Miracle Dapertutto: Alex Esposito
Olympia: Olga Pudova
Antonia: Ermonela Jaho
Stella: Maria Leon
Giulietta: Marina Costa-Jackson
Luther: Jeremy White
Spalanzani: Vincent Ordonneau
Hermann/Schlemil: Grisha Martirosyan
Andrès/ Frantz/ Cochenille Christophe Mortgagne
Nicklausse: Julie Boulianne