Hochspannung im Totenhaus

Leoš Janáček, Aus einem Totenhaus, Bayerische Staatsoper, München, 19. Oktober 2019

Fotos: © Wilfried Hösl
Leoš Janáček, Aus einem Totenhaus, Bayerische Staatsoper, München
19. Oktober 2019

 von Anna-Maria Haberberger

Wer Castorf in gänzlicher Pracht erleben möchte: Aus einem Totenhaus bringt den ersehnten Höhepunkt! Eine Oper wie für den deutschen Regisseur gemacht. Leid, Elend, Schreck en und Düsternis – verfangen wie in einem Spinnennetz voller reizüberfluteter, zusammengesponnener Weben.

Bis sich die Gäste der bayerischen Staatsoper allmählich einfinden, dämmert es draußen schon, und gerade in diesen Oktober-Nächten, die voller Nebelschwaden sind, fließt das Ambiente der Natur auch gleichzeitig auf die Bühne. Die bayerische Staatsoper produziert eine ihrer schwärzesten Opern der letzten Jahre.

Die Oper basiert auf dem Roman Aufzeichnungen zu einem Totenhaus von Fjodor Dostojewski, der darin seine eigene vierjährige Gefangenschaft literarisch aufarbeitet. Castorf ist sichtbar besessen von der russischen Kultur und Literatur. In den letzten Jahren etablierte sich bei Castorf eine anhaltende Faszinationskraft für Dostojewski. So gab es schon einige szenische Bearbeitungen des Regisseurs von Dostojewski-Romanen. Auch Leoš Janáček scheint davon in den Bann gezogen worden zu sein, denn die Wahl für seine letzte Oper (1927/28 komponiert) fiel auf eine russische Vorlage. Im Zentrum der Opernhandlung stehen die Lebens- und Leidensgeschehnisse der Gefangenen Aleksandr Petrovič Gorjančikov (Peter Rose), Skuratov (Charles Workman), Šiškov (Bo Skovhus) und Luka (Aleš Briscein). Diese Protagonisten tauchen immer wieder als Schlaglichter auf.

Keine zielgerichtete, lineare Handlung. Gerade das macht die Oper so interessant. Keine Helden, keine zu erwartende Figaro-Hochzeit am Ende des Stückes. Auch wenn das Bühnenspektakel verwirren mag, gibt es einen Mittelpunkt, an den sich die Zuschauer immer wieder haften und auch haften müssen: das „Totenhaus“ – so wird das sibirische Gefangenenlager von den Insassen genannt, die allesamt Mörder, Diebe, politische Gefangene sind.

Ensemble der Bayerischen Staatsoper © Wilfried Hösl

Überforderung pur liefert dieses Opernereignis. Castorf inszeniert hier ein hochkomplexes Bühnenspektakel, das auf den ersten Blick wohl eher einem Chaos gleicht. Das Gefangenenlager mit drehbarer Hütte wird ergänzt von riesigen Live-Videos, die das Innere des Bühnenlebens zeigen und die hektische Atmosphäre im Gefangenenlager exponiert widerspiegeln. Jedoch schafft es Castorf diese Konfusion immer wieder zu einer Einheit zu fassen und das Gewirr durchaus zu kontrollieren. Eine weitere Hürde liefert hier noch die tschechische Sprache: Wer unentwegt versucht der Übersetzung am Obertitel Satz für Satz zu folgen, verpasst das schauspielerische und szenische Spektakel, und der nicht so geschulte Operngänger versteht somit wenig vom inhaltlichen Zusammenhang.

Charles Workman (Skuratov) © Wilfried Hösl

Die Sänger geben vor allem schauspielerisch ihr Äußerstes. Darüber hinaus bietet an diesem Abend Charles Workman (Skuratov) eine herausragende stimmliche Präzision – mit einem für die Rolle perfekten Stimm-Timbre –, der einen überzeugenden „Narren“ spielt und sogleich für wenige Augenblicke das Düstere von der Bühne treibt. Aleš Briscein durchdringt ebenfalls mit seiner szenischen und musikalischen Leistung die aggressive Rolle des Luka und enttarnt sich am Ende als Gegenspieler Skuratovs. Beide brillieren mit präzise gesungenen und perfekt ausgearbeiteten Rhythmen und gänzlicher Stimmentfaltung in tiefen wie hohen Passagen, ohne dabei spannungstragende Passagen zu gepresst zu singen. Chapeau!  Nicht so ganz überzeugt heute Peter Rose. Die Töne zu zaghaft angesungen und schauspielerisch kennen wir ihn doch weitaus aussagekräftiger! Evgeniya Sotnikova gewinnt das Publikum vor allem mit ihrer Rolle als Adler, wobei Castorf diese mit der Aljejas gekonnt vereint. Lediglich der Chor der bayerischen Staatsoper ist – wie so oft nachgesagt – nicht immer hundertprozentig on time und verschlampt teilweise die so fein akzentuierten Sprachmelodien.

Ein herausragendes Lob geht an die Dirigentin Simone Young, die alle Fäden und Zügel des Orchesters als auch des Sänger-Ensembles in Händen hält und gekonnt meistert! Die Musik Janáčeks herrscht als Fundament von Castorfs skurriler Inszenierung und Dostojewskis erschaudernden Sträflings-Geschichten. So sitzt im Orchester jeder einzelne Ton perfekt dort, wo er sein soll. Verschobene Rhythmen wie auch klirrend hohe Töne in den Violinen fügen sich geradezu perfektionistisch zu harten und abrupten Becken-Schlägen, die das musikalische Geflecht dadurch mit Spannung laden. Melodiöse Passagen, die gleichzeitig aber von geladenen Vibrationen untermauert sind, eine Fülle an verschiedenen Klangfarben, die insgesamt aber wieder zu einem großen Ganzen führen, sowie instrumentale Nuancen, die das Orchester perfekt intoniert, greifen makellos ineinander. Die Komplexität der Musik wird noch mehr bewusst, als dann Fortissimi und Pianissimi hauchähnlich nah aneinandergeraten und dabei extrem detailreich musiziert wird.

Ein Abend, der alle Sinnesorgane bis in deren Tiefe anregt, neigt sich dem Ende. Wem nun kyrillische Buchstaben vertraut waren, wer ein opernaffiner Besucher ist und zudem noch etwas für moderne Kunst übrig hat, der verstand den Kern der Oper und konnte sich so in die perfektionistisch an die Inszenierung gefügte Musik Janáčeks, die von der Dirigentin Simone Young koordiniert wurde, fallen lassen, alle simultanen Eindrücke auf sich wirken lassen.

Visuelle Kunst zeigt sich hier auf höchstem Niveau. Unverständnis dafür, dass weite Teile des Münchner Klassik-Publikums aufgrund von Unwissenheit und einem doch sehr eingeschränkten, konservativen Horizont in Sachen Modernität auf der Theaterbühne hier ablehnend rezensieren. Schade! Denn ein solches Bühnenspektakel in Kombination mit großartigen Musikern erlebt man nur selten. Danke München für diesen tollen, spektakelreichen Abend!

Anna-Maria Haberberger, 20. Oktober 2018
für klassik-begeistert.de

 Musikalische Leitung, Simone Young
Inszenierung, Frank Castorf
Bühne, Aleksandar Denić
Kostüme, Adriana Braga Peretzki
Licht, Rainer Casper
Video, Andreas Deinert, Jens Crull
Dramaturgie, Miron Hakenbeck
Chor, Sören Eckhoff
Aleksandr Petrovič Gorjančikov, Peter Rose
Aljeja, ein junger Tartar, Evgeniya Sotnikova
Luka, Aleš Briscein
Skuratov, Charles Workman
Šiškov, Bo Skovhus
Großer Sträfling / Sträfling mit dem Adler, Manuel Günther
Kleiner Sträfling / Verbitterter Sträfling, Tim Kuypers
Platzkommandant, Christian Rieger
Der alte Sträfling, Ulrich Reß
Čekunov, Milan Siljanov
Betrunkener Sträfling, Galeano Salas
Koch (Sträfling), Oğulcan Yilmaz
Schmied (Sträfling), Alexander Milev
Pope, Peter Lobert
Dirne, Niamh O’Sullivan
Don Juan (Brahmane), Callum Thorpe
Kedril / Schauspieler / Junger Sträfling, Matthew Grills
Šapkin / Fröhlicher Sträfling, Kevin Conners
Čerevin / Stimme aus der kirgisischen Steppe, Dean Power
Wache, Long Long
Bayerisches Staatsorchester
Chor der Bayerischen Staatsoper                  

 

 

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