Fotos: © Bernd Uhlig
Peter Ruzicka, Benjamin, Hamburgische Staatsoper, 19. Oktober 2018
Yona Kim, Libretto und Inszenierung
Peter Ruzicka, Musikalische Leitung
von Leonie Bünsch
Eine „Reise ins Innere“ von Walter Benjamin wollte Peter Ruzicka in seiner Oper beschreiben. Und so ist es keine biografische Oper noch bedient sie sich originaler Texte. Streng genommen ist es nicht einmal eine Oper. Es ist ein Musiktheater in sieben Stationen.
Darin geht es um historische Begegnungen Benjamins, dem Philosophen und Kulturkritiker, Denker und Autoren. Getrieben durch die Suche nach sich selbst, als Jude verfolgt von den Nationalsozialisten. Auf unterschiedlichen Lebensstationen begegnet er Hannah Arendt, Bertolt Brecht, Gershom Scholem und Asja Lacis. Letztere wird seine Geliebte. Sie alle, wie auch seine Frau Dora treten in Ruzickas Musiktheater auf.
Dabei geht es nicht darum, historisch korrekt nachzuerzählen. Es ist ein Spiel des Erinnerns und Vergegenwärtigens. Reale Ereignisse, innere Zerrissenheiten, Menschen (reale und fiktive) werden immer wieder neu miteinander verschränkt. Fasziniert hat Ruzicka das Schicksal der Person Walter Benjamin sowie sein Grenzgängertum.
Im Zentrum steht immer wieder die Flucht. Flucht vor den Nazis, Flucht vor Identität. Damit wird Ruzickas Werk, das im Juni 2018 in der Hamburger Staatsoper uraufgeführt wurde, hoch aktuell. Man denke an die zahlreichen Menschen, die ihre Heimat nicht verlassen wollen und es dennoch müssen. „Ich würde in mein Volk zurückkehren, wenn ich eines hätte“, sagt Benjamin und man fragt sich, wie viele Menschen gerade jetzt das gleiche denken.
Zwischendurch stehen die Protagonisten starr am Bühnenrand und blicken ins Publikum. Später ist es der Chor, der mit Ferngläsern in Richtung Menschenmenge starrt. Anklagend? Ist es die Gesellschaft, die einfach zusieht? Oder ist diese Interpretation zu überzogen?
Insgesamt ist dieses Musiktheater hoch komplex. Nicht nur auf inhaltlicher Ebene, sondern ebenso auf musikalischer und bildlicher. Vieles geschieht gleichzeitig. Auf der Bühne weiß man kaum, welcher Person man mit den Augen folgen soll. Es sind Musiker vor, auf und hinter der Bühne, zum Teil singen alle gleichzeitig. Der Zuhörende ist dermaßen überfordert mit all den Reizen, es ist, also ob Ruzicka, der selber dirigiert, dem Publikum einen Seelen-Spiegel Benjamins vorhält.
Auch musikalisch spiegelt sich die Verzweiflung, das Getriebensein, die Zerrissenheit wieder. Ruzicka arbeitet viel mit Clustern und Orgelpunkten. Blechbläser und Pauken symbolisieren mit dissonanten Akkorden Gefahr, während die Streicher in chromatisch-rasanten Passagen wie wild umherirren. Das ist keine leichte Unterhaltungsmusik, das ist auch dem Publikum anzumerken, das am heutigen Abend – ohnehin spärlich besetzt – ausgesprochen unruhig ist.
Dabei bieten die Musiker eine Gesamtperformance der Extraklasse. Die Solisten entpuppen sich allesamt als Top-Besetzung. Da es sich nun mal nicht um eine herkömmliche Oper handelt und sie insgesamt verhältnismäßig wenig Gesangsanteil haben, bietet sich ihnen wenig Raum, um ihr Stimmvolumen zu zeigen. Am ehesten kann dies Lini Gong in der Rolle der Asja Lacis tun – und das tut sie auch! Unglaublich, wie glockenrein ihr Sopran ist und wie locker-leicht sie die schwierigsten Koloraturen meistert. Eine Stimm-Akrobatin!
Auch Dorottya Láng als Hanna Ahrendt begeistert mit ihrer warmen, vollen und blitzsauberen Stimme. Da ist kein Vibrato zu viel. Jeder Text ist perfekt zu verstehen.
Dietrich Henschel als Walter Benjamin bietet eine astreine Vorstellung. Noch zusammengekrümmt am Boden liegend trifft er jeden Ton. Außerdem ist er in seiner Rolle des Getriebenen sehr glaubwürdig. Insgesamt ist die Leistung aller – Solisten, Chor, Kinderchor, Orchester – einfach spitze und ein echter Genuss!
Doch die düstere Grundstimmung, das komplexe Bühnengeschehen und die anspruchsvolle Musik überdecken ein wenig diese erstklassige Leistung. Zu abgelenkt, zu ergriffen ist man von dem Dargestellten. Besonders das Ende macht betroffen. Walter Benjamin befindet sich auf dem Weg zu seiner letzten Station. Er ist auf dem Weg nach Port Bou, wo er sich das Leben nehmen wird. Er liest Satzfetzen aus seinem unvollendeten „Passagen-Werk“. Plötzlich bricht das Lesen ab und man erahnt das nahende Verhängnis. Es ist gar nicht unbedingt das, was dargestellt wird. Es ist vielmehr das Transportieren der geballten Emotionen, was Peter Ruzicka in seinem Werk einfach meisterhaft gelungen ist. Und so ist der verhaltene Applaus vielleicht auch durch die Betroffenheit des Publikums zu begründen, das mitansehen muss, wie Walter Benjamin seinem Schicksal entgegen geht.
Leonie Bünsch, 20.10.2018,
für klassik-begeistert.de