Lieses Klassikwelt 46: Neue Musik

Lieses Klassikwelt 46: Neue Musik

Die Komponistin Ángela Tröndle. Foto: © Severin Koller

von Kirsten Liese

Ich komme gerade vom Styriarte Festival in Graz. Besonders hatte ich mich auf das Abschlusskonzert mit Händels Feuerwerksmusik gefreut, die an einem pittoresken Ort unter freiem Himmel herrlich musiziert wurde. Aber zu meiner Überraschung durfte ich in einem weiteren Konzert eine Uraufführung für Streichquartett erleben, die meine Erwartungen weit übertraf. Ich muss vorausschicken, dass ich ähnlich empfinde wie Elisabeth Schwarzkopf, die einmal auf die Frage, warum sie nie etwas Zeitgenössisches gesungen hat, entgegnete, sie könne das nicht, weil die Avantgarde sie nicht berührt hätte, was für eine Interpretation unumgänglich sei. Ich will das für mich nicht so absolut beurteilen, weil mich Manches durchaus schon berührt, denke ich zuvorderst an Opern und Lieder von Aribert Reimann oder auch Werke von Sofia Gubaidulina, Arvo Pärt oder Peteris Vasks, aber das Gros an zeitgenössischer Musik, das muss ich ehrlich bekennen, geht bei mir zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder raus.

Vielleicht liegt der Grund dafür darin, dass die atonale Musik einfach nicht für unsere Ohren gemacht ist, wie der weise Sergiu Celibidache behauptete, der dafür kritisiert wurde, bis auf einige Stücke von Henri Dutilleux nichts Modernes dirigiert zu haben. In einer vom Fernsehen aufgezeichneten Podiumsrunde demonstrierte er am Klavier mit ein paar Beispielen, dass Töne, die ganz weit auseinander liegen und schnell aufeinander folgen, weil Neutöner gerne auf extreme Kontraste auf wenig Raum setzen, physikalisch kaum von unserem Ohr erfasst werden können. Erst recht nicht, wenn sie in einer beliebigen Korrelation stehen.

Kurzum, das erste Streichquartett von Ángela Tröndle „Neue Geschenke der Nacht“, das im Auftrag des Styriarte Festivals auf Hugo Wolfs Italienische Serenade Bezug nimmt, hat mich atmosphärisch so gepackt, dass ich mir davon sogar eine Aufnahme kaufen würde. Es mag daran gelegen haben, dass die Komponistin sie mit bildlichen Impressionen verbindet, die sich beim Hören vermitteln. Besonders präsent ist mir noch der letzte Satz, der mich mit sehr leisen, schwebenden Klängen stilistisch an Arvo Pärts Fratres erinnert. Tröndle stellte sich beim Komponieren vor, mit einer Hand an einem Abgrund zu hängen und in dieser Situation ihre Arme wie Schwingen auszubreiten, um über die Klippe hinweg zu fliegen. Sie übersetzt das in sinnliche Klanggebilde voller Schönheit.

Auch die zweite Uraufführung in der Grazer Matinee, der Quartettsatz „Quixotes Ständchen“ von Christoph Ehrenfellner, hatte seinen Reiz, fanden sich darin doch hübsche, kecke wiederkehrende Motive, die zu der imaginierten Figur gut passen.

Ein bisschen erinnerte mich dieses unverhofft beglückende Konzerterlebnis an frühere Zeiten, in denen die „Zeitgenössische Oper Berlin“ über das Budget verfügte, jährlich ein bis zwei Musikdramen zu zeigen. Auf den guten Geschmack des künstlerischen Leiters Andreas Rochholl und seiner Regisseurin Sabrina Hölzer war Verlass. Er zeigte sich in der Auslese der Stücke, die es Wert waren, gehört zu werden, und in der trefflichen Umsetzung der Regisseurin, deren szenische, höchst einfallsreiche Konzeptionen stets wie zugeschnitten auf die Werke anmuteten. Ganz gleich, ob Peter Maxwell Davies‘ Miss Donnithornes Grille, Sciarrinos Tödliche Blume, Wolfgang Rihms Séraphin, Qu Xiao-songs Versuchung oder Hans Zenders Don Quichote de la Mancha: Stets befand ich mich auf einer spannenden Entdeckungsreise.

An den städtischen Bühnen werde ich seltener fündig. Mit Messiaens Saint Francoise d’Assise oder Schönbergs Moses und Aron können Sie mich jagen, monoton und öde wabern diese Opern in meinen Ohren vor sich hin, dies dazu noch in einem Umfang von Wagnerschen Ausmaßen.

Pierre Boulez (Von Joost Evers / Anefo – Nationaal Archief, CC BY-SA 3.0 nl, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=34979419)

Solche Hörerfahrungen bescherten mir etwa auch sämtliche Stücke, die ich je von Pierre Boulez gehört habe. Bei ihm werde ich – wie im Übrigen auch bei den Hervorbringungen der seriellen und experimentellen Musik – den Eindruck nicht los, dass ich es mit Gebilden zu tun habe, die, weil sie auf bestimmten Prinzipien basieren, die sich fern jeglichen Klangreizes erdenken lassen – allein den Intellekt anregen. Dazu gehört etwa auch das Prinzip der Zwölftontechnik, die darauf basiert, zwölf Töne in Reihungen zusammenzustellen. Wie das klingt, ist dabei weniger entscheidend als die Idee als solche.

In guter Erinnerung ist mir vor langer Zeit ein Abend in der Alten Oper Frankfurt, der Boulez als Komponist (als Dirigenten fand ich ihn wesentlich überzeugender!) gewidmet war. Im Programmheft gab es dazu allerhand zu lesen, aber wirklich nichts, was ich da hörte, ließ mich aufhorchen. Nicht wenigen Zuhörern in meiner Umgebung muss es ähnlich ergangen sein, ich beobachtete, wie sie hin und wieder ein Gähnen unterdrückten und verstohlen auf die Uhr schauten. Zugeben wollte das allerdings keiner. In der Pause fühlten sich viele unter den sichtlich Gelangweilten berufen, intellektuell darüber zu reden und eine Faszination vorzutäuschen. Das ist der Neuen Musik aber auch nicht förderlich.

Tatsächlich gibt es heutige Komponisten, die tonal schreiben wie beispielsweise Stephan Pfeiffer in seiner 2013 in Hamburg uraufgeführten Oper Vom Ende der Unschuld. Solche Komponisten sehen sich allerdings oft dem Vorwurf des Eklektizismus ausgesetzt und müssen sich sagen lassen, dass es wichtiger sei, in irgendeiner Form neue Wege zu beschreiten, weil das in der Musikgeschichte immer so war, als eine Musik zu schreiben, die – mit welchen Mitteln auch immer – ins Herz geht. Dem Dirigenten Michael Gielen war ja, wie er einmal bei einem Podiumsgespräch der Richard Strauss-Tage in Garmisch-Partenkirchen verlauten ließ, noch nicht einmal Strauss‘ Rosenkavalier modern genug. Das geniale Werk ist darüber allerdings erhaben und heute noch immer eines der beliebtesten und meist gespielten Stücke an Opernhäusern.

Helmut Lachenmann (Von Klaus Rudolph – internet, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=64994136)

Zu den gefeierten heutigen Komponisten der Kritik zählt Helmut Lachenmann. Mit dem hatte ich in Luzern mal ein Interview und im Zuge dessen eine Meinungskontroverse. Es ging um ein Klarinettenkonzert, in dem er Motive aus Mozarts Klarinettenkonzert aufgriff, diese aber verfremdete. Zur Begründung führte er an, er habe sich an Mozarts Musik satt gehört, deshalb habe er sich berufen gefühlt, Zitate daraus in einen anderen Kontext zu stellen. Mir selbst geht es ganz anders, ich höre zehn Mal lieber jederzeit den originalen Mozart.

Auch wenn Uraufführungen überwiegend wohlwollend vom Publikum beklatscht werden, habe ich das Gefühl, dass die Gruppe derer, die sich dafür erwärmt, doch eine kleine geblieben ist. Man sollte sie dafür nicht verteufeln, vieles tönt eben einfach auch beliebig. Sogar im öffentlich rechtlichen Rundfunk, der sich einem Bildungsauftrag verpflichtet fühlt, fristet die Neue Musik zu später Uhrzeit ein Schattendasein in den Radioprogrammen, trifft sie doch selbst bei Klassikhörern auf keinen großen Zuspruch. Will sie überleben, sollte sich etwas ändern, sagt der Deutsch-Iraner Arash Safaian, ebenfalls Komponist, der mir aus der Seele spricht.

Arash Safaian. Foto: Gregor Hohenberg (Zuschnitt)

In seinem viel beachteten Album Über Bach lässt er sich unüberhörbar von Bachs Musik inspirieren, dies aber nicht wie Lachenmann mittels Verfremdungen, sondern mit einem Stil, der an Bach angelehnt ist, zugleich aber eine eigene Handschrift erkennen lässt. Safaian schrieb auch ein schönes Klavierkonzert zu dem großartigen Film Lara, das stilistisch ein bisschen an Schubert erinnert und einlöst, was er sich wünscht: Emotionen, Gefühl und Schönheit in der Musik.

Wie ich in Graz erleben konnte, gibt es noch andere, die sich diesem Anspruch verpflichten. Jedenfalls möchte ich von Ángela Tröndle und Christoph Ehrenfellner, deren filigrane Kammermusik mich in Graz so begeisterte, noch weitere Werke hören.

Kirsten Liese, 31. Juli 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Lieses Klassikwelt 45: Journalismus

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© Kirsten Liese

Die gebürtige Berlinerin Kirsten Liese (Jahrgang 1964) entdeckte ihre Liebe zur Oper im Alter von acht Jahren. In der damals noch geteilten Stadt war sie drei bis vier Mal pro Woche in der Deutschen Oper Berlin — die Da Ponte Opern Mozarts sowie die Musikdramen von Richard Strauss und Richard Wagner hatten es ihr besonders angetan. Weitere Lieblingskomponisten sind Bruckner, Beethoven, Brahms, Schubert und Verdi. Ihre Lieblingsopern wurden „Der Rosenkavalier“, „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“ und „Le nozze di Figaro“. Unvergessen ist zudem eine „Don Carlos“-Aufführung 1976 in Salzburg unter Herbert von Karajan mit Freni, Ghiaurov, Cossotto und Carreras. Später studierte sie Schulmusik und Germanistik und hospitierte in zahlreichen Radioredaktionen. Seit 1994 arbeitet sie freiberuflich als Opern-, Konzert- und Filmkritikerin für zahlreiche Hörfunk-Programme der ARD sowie Zeitungen und Zeitschriften wie „Das Orchester“, „Orpheus“, das „Ray Filmmagazin“ oder den Kölner Stadtanzeiger. Zahlreiche Berichte und auch Jurytätigkeiten führen Kirsten zunehmend ins Ausland (Osterfestspiele Salzburg, Salzburger Festspiele, Bayreuther Festspiele, Ravenna Festival, Luzern Festival, Riccardo Mutis Opernakademie in Ravenna, Mailänder Scala, Wiener Staatsoper). Als Journalistin konnte sie mit zahlreichen Sängergrößen und berühmten Dirigenten in teils sehr persönlichen, freundschaftlichen Gesprächen begegnen, darunter Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Schwarzkopf, Mirella Freni, Christa Ludwig, Catarina Ligendza, Sena Jurinac, Gundula Janowitz,  Edda Moser, Dame Gwyneth Jones, Christian Thielemann, Riccardo Muti, Piotr Beczala, Diana Damrau und Sonya Yoncheva. Kirstens Leuchttürme sind Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, Riccardo Muti und Christian Thielemann. Kirsten ist seit 2018 Autorin für klassik-begeistert.de .

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