Foto: Christoph Schlingensief mit Alice Waters, Gaston Kaboré und Aino Laberenz (Berlinale 2009)*
von Kirsten Liese
Demnächst kommt ein Dokumentarfilm über Christoph Schlingensief in die Kinos. Meine Erwartungshaltung daran war ambivalent, da ich Schlingensief als Künstler für überschätzt halte. Seinen stark polarisierenden Bayreuther Parsifal, den ich 2004 im Premierenjahr miterlebte, habe ich wegen der optischen Überfrachtung mit Videos von verwesenden Hasen und allerhand undefinierbarem Gewürm in keiner guten Erinnerung. Mein Hamburger Opernfreund Curt, der 50 Jahre lang jeden Sommer in Bayreuth bei den Festspielen verbrachte, erzürnte sich sogar so sehr über die Produktion, dass er dem Grünen Hügel den Rücken kehrte und nicht wieder zurückkehrte.
Freilich geht es in dem Film nicht nur um Schlingensiefs damaliges Debüt als Opernregisseur.
In ihrem ersten eigenen überbordenden Werk „Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien“ schlägt Bettina Böhler, die zu seinen Lebzeiten als Cutterin für Schlingensief und andere Filmemacher wie Christian Petzold oder Oskar Roehler arbeitete, vielmehr einen großen Bogen um Schlingensiefs gesamte Biografie. Sie montiert dazu Materialien aus Archiven, darunter Ausschnitte aus Interviews, öffentlichen Auftritten, Inszenierungen, Filmzitate und private Super 8-Filme.
Immerhin habe ich darüber erfahren, wie Schlingensief zu seinem Stil kam: Als er ein kleiner Junge war, belichtete sein Vater Video-Urlaubsfilme von der Familie doppelt und legte Szenen, die nichts miteinander zu tun haben, übereinander. Für das Kind wurde diese Technik so etwas wie ein künstlerisches Erweckungserlebnis. Später stellte er selbst stets Bilder gegeneinander und überblendete sie bis zur absoluten Reizüberflutung.
Ich erfahre darüber hinaus, dass der Linke Schlingensief nicht nur gesellschaftliche Debatten anstoßen wollte, sondern sich sogar einbildete, andere mit seiner „Kunst“ zu heilen wie sein Vater als Apotheker, der Patienten „Gift gab“, wodurch sich „der Organismus selbst wieder regulierte“.
Ich kann durchaus verstehen, dass Schlingensief als bundesrepublikanisches Nachkriegsgeschöpf die Vorstellung, über einige Ecken mit Joseph Goebbels verwandt zu sein, ängstigte und er sich deshalb mit extremer Drastik an deutscher Geschichte abarbeitete. Aber ganz ehrlich, in mancher Hinsicht überschritt er als Aktivist doch – Satire in allen Ehren – Grenzen, die ich für inakzeptabel halte.
Dass er zum Mord an den Politikern Helmut Kohl und Jürgen Möllemann aufrief, erlebe ich im Film jedenfalls schon als ziemlich heftig. Insbesondere die Szene, in der ein Trupp Schauspieler über ein Megaphon „Tötet Helmut Kohl“ skandiert. Da schaudert’s mich. Mithin habe ich nicht das Gefühl, dass mir der Mann über den Film sympathischer geworden wäre. Im Gegenteil: Die zweifelhafte Richtung, die Schlingensief mit solchem Polittheater einschlug, führt aus meiner Sicht unmittelbar zu heutigen Linksextremisten, die reale Gewalt gegen Andersdenkende und Konservative gutheißen.
In einer Szene redet Schlingensief auf den Dirigenten Christian Thielemann ein. Schlingensief spricht da über die Mitte der Gesellschaft, die angeblich zu stark nach rechts gerückt sei. Der Mimik nach zu urteilen, regt sich bei seinem Gegenüber Widerspruch, und allzu gerne hätte man gewusst, was Thielemann antwortet. Aber leider kommt er in Böhlers Film nicht zu Wort. Und ein wenig scheint es, als mache sich die Filmemacherin mit ihrem bewussten Verzicht auf einen Kommentar zur unausgesprochenen Komplizin Schlingensiefs.
Ich will diese Hommage, die zur Weltpremiere auf der Berlinale großen Anklang gefunden haben soll, nicht schlechtreden, ich finde sie in vieler Hinsicht durchaus interessant. Nur wird sie, so wie Böhler eine kritische Auseinandersetzung mit ihrem Protagonisten vermeidet, selbst zu einer Provokation. So fiel mir ganz am Rande auf, dass immer wieder die kürzlich verstorbene Schauspielerin Irm Hermann durch den Film geistert, die offenbar an zahlreichen Theaterproduktionen von Schlingensief mitwirkte. Schade, dass sie an keiner Stelle zu ihrer Zusammenarbeit Auskunft gibt. Mag sein, dass die Archive kein Statement hergaben, aber die Filmemacherin hätte Hermann vor ihrem Tod noch selbst befragen können.
Bei alledem steckt in der Biografie des Enfant Terrible zweifellos einiges an Tragik, besonders hinsichtlich seines frühen Todes im Angesicht von Lungenkrebs. Da verspürte der 50-Jährige, der zuvor viel über das Thema Erlösung philosophiert hatte, auf einmal selbst Todesangst und sah sich mit merkwürdigen Leuten konfrontiert, die auch das für eine Provokation hielten. In diesem Moment, wo er offen über diese Verletzbarkeiten redet, steht er mir am nächsten.
Der Film trägt übrigens den Titel „Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien“, Bundesstart ist der 20. August.
Kirsten Liese, 14. August 2020, für
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Die gebürtige Berlinerin Kirsten Liese (Jahrgang 1964) entdeckte ihre Liebe zur Oper im Alter von acht Jahren. In der damals noch geteilten Stadt war sie drei bis vier Mal pro Woche in der Deutschen Oper Berlin — die Da Ponte Opern Mozarts sowie die Musikdramen von Richard Strauss und Richard Wagner hatten es ihr besonders angetan. Weitere Lieblingskomponisten sind Bruckner, Beethoven, Brahms, Schubert und Verdi. Ihre Lieblingsopern wurden „Der Rosenkavalier“, „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“ und „Le nozze di Figaro“. Unvergessen ist zudem eine „Don Carlos“-Aufführung 1976 in Salzburg unter Herbert von Karajan mit Freni, Ghiaurov, Cossotto und Carreras. Später studierte sie Schulmusik und Germanistik und hospitierte in zahlreichen Radioredaktionen. Seit 1994 arbeitet sie freiberuflich als Opern-, Konzert- und Filmkritikerin für zahlreiche Hörfunk-Programme der ARD sowie Zeitungen und Zeitschriften wie „Das Orchester“, „Orpheus“, das „Ray Filmmagazin“ oder den Kölner Stadtanzeiger. Zahlreiche Berichte und auch Jurytätigkeiten führen Kirsten zunehmend ins Ausland (Osterfestspiele Salzburg, Salzburger Festspiele, Bayreuther Festspiele, Ravenna Festival, Luzern Festival, Riccardo Mutis Opernakademie in Ravenna, Mailänder Scala, Wiener Staatsoper). Als Journalistin konnte sie mit zahlreichen Sängergrößen und berühmten Dirigenten in teils sehr persönlichen, freundschaftlichen Gesprächen begegnen, darunter Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Schwarzkopf, Mirella Freni, Christa Ludwig, Catarina Ligendza, Sena Jurinac, Gundula Janowitz, Edda Moser, Dame Gwyneth Jones, Christian Thielemann, Riccardo Muti, Piotr Beczala, Diana Damrau und Sonya Yoncheva. Kirstens Leuchttürme sind Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, Riccardo Muti und Christian Thielemann. Kirsten ist seit 2018 Autorin für klassik-begeistert.de .
*Beitragsbild: Von Siebbi – http://www.ipernity.com/doc/siebbi/4178169/in/album/110397, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7900810