Baden in sphärischer Schönheit: Dieser Lohengrin rührt zu Tränen

Lohengrin, Donald Runnicles, Marko Mimica, Brandon Jovanovich, Rachel Willis-Sørensen, Thomas Johannes Mayer, Anna Smirnova,  Deutsche Oper Berlin

 

Foto: B. Stöß (c)
Richard Wagner, Lohengrin
Deutsche Oper Berlin, 10. September 2017

Musikalische Leitung, Donald Runnicles
Inszenierung, Kasper Holten
Heinrich der Vogler, Marko Mimica
Lohengrin, Brandon Jovanovich
Elsa von Brabant, Rachel Willis-Sørensen
Friedrich von Telramund, Thomas Johannes Mayer
Ortrud, Anna Smirnova
Der Heerrufer des Königs, Dong-Hwan Lee
Chor der Deutschen Oper Berlin
Orchester der Deutschen Oper Berlin

von Sebastian Koik

Das Orchester-Vorspiel zu Beginn ist pures Glück. Die Zuhörer dürfen in sphärischer Schönheit baden, das Orchester entführt sie in eine himmlische Klangwelt, in die zauberhafte Welt des Grals.

Auf der Bühne der Deutschen Oper Berlin erblicken die Zuschauer ein von toten Soldaten übersätes Schlachtfeld. Frauen suchen nach ihren gefallenen Männern. Dieses Bild ist der größte Eingriff des dänischen Erfolgsregisseurs Kasper Holten. Während es das Bühnenvolk kaum erwarten kann, in den Krieg zu ziehen und die Kriegslust orchestral überwältigend und heroisch dargestellt wird, will der Regisseur ganz bewusst darauf hinweisen, dass Krieg immer Tod und Verderben bedeutet. Den glorifizierenden Kriegsgesängen stellt er das Bild der Kriegsrealität entgegen: Verwüstung von Leben. Könige und Präsidenten können Kriege gewinnen – das Volk, die vielen toten und beschädigten Soldaten und deren Angehörige sind die Verlierer.

Man könnte diese Botschaft banal nennen. Doch an der schrecklichen Realität des Krieges hat sich seit den Gralsrittern, seit den Kriegen zu Zeiten Richard Wagners, selbst nach den unfassbaren Schrecken zweier Weltkriege nichts geändert. Krieg war bisher leider nicht totzukriegen. Der Kriegslust im Stück das Bild der Kriegsrealität voranzustellen, ist eine gute Idee des Regisseurs, ein eleganter Kontrapunkt von moralischer Schönheit.

Der zweite geniale Streich Holtens ist die Umwertung, die Offenlegung des Wesens des vermeintlichen Helden Lohengrin als Manipulator. Lohengrin kommt nicht als reiner Held oder göttlich unschuldiger Retter daher. Für das geblendete und vereinnahmte Volk von Brabant schon, für den Zuschauer am Ende nicht wirklich.

Äußerlich erscheint Lohengrin von Kopf bis Fuß in reinstem Weiß, trägt Schwanen- oder Engelsflügel und erstrahlt in himmlischem Licht. Aber es wird sehr schnell deutlich, dass wir es auch mit einem Narzissten zu tun haben, einer selbstverliebten Figur, die nicht nur das Wohl der Menschen im Sinn hat, sondern auch und wohl vor allem auf seine eigene Pracht, Schönheit und Macht bedacht ist. Er ist sich seiner Wirkung höchst bewusst und er inszeniert sich mit Raffinesse.

Das Volk liegt ihm zu Füßen, reckt dem vermeintlichen Erlöser die Hände entgegen. Einerseits wirkt das religiös, andererseits politisch, faschistisch. Und es ist wohl beides. Das Volk sehnt sich nach Erlösung, nach Heil – weltlich und seelisch. Es will einen gottbegnadeten König und charismatischen Führer. Es will Hoffnung. Die Massen haben Sehnsucht, und diese leuchtende Gestalt mit ihrer zauberhaften Stimme und den verführenden Worten erfüllt sie. Er gibt ihnen, was sie wollen. Dafür sehen sie über so manches hinweg.

Sie kennen weder „seinen Namen“ noch „seine Art“, wissen nicht wer er ist, wo er herkommt, wie er bisher gelebt hat, was er vielleicht getan hat. Sie sind gerne bereit darüber hinwegzusehen und seine Bedingungen anzunehmen. Sie wissen nicht, auf wen sie sich einlassen, aber es ist ihnen egal. Sie wollen es. Sie meinen es zu brauchen. Die Menschen und die Massen waren immer schon manipulierbar und sind es bis heute.

Auch der Zuschauer verfällt sehr leicht dem Schein des Lohengrin. Erst ganz zum Schluss oder hinterher merkt man erst so richtig, welches Spiel der Politiker und Machtmensch Lohengrin hier spielt. Holten zeigt die Verführbarkeit des Menschen höchst eindrücklich und nachhaltig.

Ansonsten hält sich der Regisseur zurück, er bringt keine unnötigen und ablenkenden Ideen, drängt sich nicht in den Vordergrund und lässt dem Werk und der Musik ganz viel Raum.

Das macht auch das Bühnenbild von Steffen Aarfing: es lässt dem Wagner-Werk viel Freiraum, lenkt nicht ab, ist spartanisch.

Es reicht ein ganz starkes Bild, ein Bild, das sich ins Gedächtnis einbrennt: Das von der geflügelten Lichtgestalt Lohengrin in der Mitte der Bühne zu Beginn bei seinem ersten Auftritt und zum Schluss bei der Offenlegung seiner Identität und Herkunft. Das ist konzentrierte visuelle Überwältigung und gibt einem eine gehörige Dosis Schönheit für das Auge.

Eine nette kleine Idee sind die Soldaten-Uniformen aus verschiedenen Zeiten und Herkünften. Krieg als Thema aller Zeiten und vieler Orte.

Manchmal ist das Bühnenbild etwas zu schlicht und ästhetisch nicht besonders ansprechend. Aber das ist in Ordnung. Die Darsteller und die Musik wissen den Bühnenraum bestens zu füllen.

Das Licht ist oft verstörend, unschön, zu hart. Die Gesichter der Darsteller wirken grau und blass, alles wirkt etwas grau und blass. Soll das so sein? Ganz bewusst? Oder ist der Beleuchter ausgefallen, und seine Vertretung ist gerade im Urlaub? Für das Auge gut anzuschauen ist das jedenfalls nicht. Es ist das einzige, das bei dieser Inszenierung und Aufführung stört.

Die Heldenfigur Lohengrin dagegen wird extrem gut beleuchtet, hat oft eine Licht-Aura um sich. Da kommt er dann im Kontrast zum schlechten Licht der anderen noch besser heraus. Hat der Manipulator Lohengrin etwa das unvorteilhafte Licht für die anderen inszeniert? Denkbar. Das wäre irgendwie genial, aber dann doch etwas um die Ecke gedacht.

Anders als bei manch anderen Aufführungen des Lohengrin an der Deutschen Oper Berlin zu Beginn und später noch Ende des Jahres stehen heute nicht die ganz großen Namen auf dem Besetzungszettel: Kein Klaus Florian Vogt, keine Petra Lang.

Um so größer die Begeisterung und positive Überraschung hinsichtlich der gezeigten Gesangsleistungen! Das Haus an der Bismarckstraße besetzte wieder einmal großartig. Lohengrin, Elsa, Friedrich von Telramund, Ortrud und der Heerrufer: Jeder einzelne überzeugt vollkommen, sowohl gesanglich als auch darstellerisch. Jeder von ihnen verkörpert die Rolle wunderbar!

Eine kleine Einschränkung gibt es nur bei Marko Mimica als König Heinrich. Vor allem zu Beginn wirkt seine Stimme manchmal leicht eng, öfter singt er zwar sehr schön, aber nicht wirklich mit der Autorität und Ausstrahlung eines Königs. Nicht nur stimmlich, auch optisch und präsenztechnisch wirkt er neben den imposanten Männerfiguren Lohengrin und Friedrich von Telramund etwas blass und zu wenig charismatisch. Man nimmt ihm den König nicht so ganz ab. Er macht seine Sache dennoch sehr gut – dies ist Kritik auf hohem Niveau. Oft klingt er auch grandios, besonders in tiefen und lauten Passagen, wenn er so richtig ausholen darf und in Fahrt kommen kann. Er ist ein hervorragender und klangschöner Sänger, der nur eben atmosphärisch in dieser Rolle nicht so ganz überzeugt.

Anna Smirnova gibt die Ortrud. In ganz wenigen Momenten zu Beginn ist ihre Stimme leicht schrill. Ansonsten ist sie nicht nur darstellerisch eine Vorzeige-Ortrud: Ihre Stimme ist voller Intensität, an der Grenze zum Grellen, aber nicht zu sehr. Ihr Gesang geht durch Mark und Bein. Das passt perfekt zu ihrer Rolle. Sie spielt verschlagen und diabolisch die Schlange, Hexe, Manipulatorin, Machtpolitikerin.

Thomas Johannes Mayer gibt einen beispielhaften Friedrich von Telramund. Er zeigt ihn in großer Komplexität, als Täter und Opfer zugleich, in wunderbarer Menschlichkeit. Mayer spielt ihn unglaublich ausdrucksreich, gibt ihm viele schillernde Facetten: stark und schwach, hart und roh, zärtlich und bedürftig. Wundervoll! Gesanglich überzeugt er in allen Ton- und Stimmlagen und ist stark im Ausdruck. Er wurde vorab als mit Bronchitis gesundheitlich angeschlagen entschuldigt. Im ersten Akt musste er tatsächlich einmal kurz husten und einmal brach ihm für einen Moment die Stimme weg, ansonsten war nichts zu merken.

Man kann sich gut vorstellen, dass er nach der Aufführung als Thomas Johannes Mayer gewaltig nachzuhusten hatte – auf der Bühne war er Friedrich von Telramund und außerhalb von Raum und Zeit der Gegenwart. Manch ein Zuschauer wird das auch von sich selbst im Opernhaus kennen: Während der Konzentration auf das Bühnengeschehen ist der Husten weg, man ist aus seinem Alltagsleben auch körperlich herausgehoben.

Dong-Hwan Lee ist ein sehr, sehr guter Heerrufer des Königs. Souverän und klangschön in allen Lagen.

Rachel Willis-Sørensen verkörpert darstellerisch und gesanglich exzellent eine reine, unschuldige, romantische, liebessehnsüchtige Elsa von Brabant. Ihre Stimme ist überaus angenehm, nie extrem hell, nie schrill. Sie klingt reich und dicht, eher golden als silbern, eher lichtgelb als weiß. Sie ist in allen Lagen souverän und klangschön. Zuerst spielt und singt sie herrlich naiv. Dann kann sie aber auch mit Selbstbewusstsein hartnäckig und durchsetzungsstark sein. Sie drückt ihr Unglück in der Beziehung und ihren Wunsch nach Vertrauen und das Widersetzen gegen blinden, einseitigen Gehorsam gut aus.

Und dann Brandon Jovanovich als Lohengrin! Der Beste unter den Besten. Bei seinem ersten Auftritt, in himmlischem Licht von einem Schwan in die Welt gezogen, ausgestattet mit herrlichen weißen Flügeln hebt er an wie ein vollendeter Sängerknabe. Wie ein unschuldiger, reiner Junge vor dem Stimmbruch singt er überaus fein und delikat. Das wirkt unglaublich leicht und luftig, ätherisch.

Jovanovich klingt berückend schön! Er klingt so leicht, so surreal zart und fragil, dass man meint, sein Gesang könnte zerbrechen, sich in Nichts auflösen. Doch das tut er nicht. Ätherischer kann Gesang fast nicht sein, und das aus einem Männermund!

Man kann sich in dem Moment überhaupt nicht vorstellen, dass er auch den Helden geben kann. Aber er kann! Und wie!

Er kann scheinbar alles. Er hat eine mächtige Stimme, klingt in allen Lagen vollkommen und klangschön. Seine Stimme ist dicht und sehr, sehr cremig – wie edelster, dichtester Cappucino-Schaum. Jovanovich kann herrlich fein lyrisch singen, aber auch durch und durch kraftvoll heldisch. Seine Stimme ist groß und übertönt auch das lauteste Aufwallen des mächtigen Orchesters.

Und er verkörpert den Lohengrin gnadenlos gut! Auch in der komplexeren Deutung des Regisseurs Holten. Er gibt den perfekten Verführer. Selbst wenn man ihm die Verführung anmerkt, erliegt man ihr. Nicht nur der dänische Regisseur, auch der Titeldarsteller Jovanovich führt die Manipulierbarkeit der Menschen in Vollkommenheit vor. Er hat eine enorme Bühnenpräsenz und eine charismatische Ausstrahlung, die mit Leichtigkeit den großen Saal ausfüllt und bezaubert.

Schauspieler wirken im Alltag, draußen auf den Straßen, oft ganz normal und unauffällig, selten so groß und unnahbar wie auf der Bühne. Wer Brandon Jovanovich an diesem Abend in der Deutschen Oper erlebt, kann sich kaum vorstellen, dass er seine Aura ablegen kann und durch einen Supermarkt laufen kann, ohne dass sich alle nach ihm umdrehen. Dass er vom Gral gesandt ist, als Halbgott aus einer anderen Welt kommt, das verkörpert er durch und durch, das strahlt er in jedem Moment aus.

Die Textverständlichkeit ist bei allen Solisten sehr, sehr gut.

Der Chor der Deutschen Oper Berlin singt großartig! Außer in einer Sprechgesang-Szene, aber das zählt nicht wirklich und darüber kann man mit Leichtigkeit hinwegsehen. Der Chor überwältigt: Wie der sensationelle Lohengrin Brandon Jovanovich kann er wunderbar zart und lyrisch. Und er kann mit der vereinten Wucht von vielen großartigen Sängern, von denen jeder Einzelne sich mit seiner ganzen Existenz in den Gesang zu werfen scheint, überwältigend mächtig singen und ungeahnte Lautstärkepegel erreichen. Voluminös und kraftvoll, inbrünstig, klangschön und voller Gefühl: Was für ein herrlicher Chor!

Donald Runnicles führt das Orchester wunderbar durch den langen Abend und beweist sich wieder einmal als ganz hervorragender Mann für Wagner-Opern. Sehr feinfühlig, hochmusikalisch mit wunderbarem Timing fließt das Orchester herrlich durch zauberhaft-zarteste Gralsgefilde und heroische Massivitäten. Im einen Moment werfen sich die Musiker kompromisslos in die lauten Passagen und bringen die Welt zum Erbeben – im anderen singen die Instrumente fein und leicht wie Vögelchen.

Das Orchester bezaubert und verführt das Publikum, nimmt es mit auf eine Reise. Es überwältigt, erzeugt unbekannte Welten und schaltet in einem ununterbrochenen Strom aus kleinen und großen Gefühlswellen das Denken aus.

Donald Runnicles und seine Musiker sind an diesem Abend wieder Wagner-Zauberer. Die genial-intelligente Regie und die famosen Darstellerleistungen sind wundervoll. Ein Herzstück dieser geglückten Inszenierung sind Purismus und Zurückhaltung bei Regie und Optik. Das puristische Bühnenbild gibt der Musik Wagners ganz viel Raum. Und das ist wundervoll!

Runncicles und seine großartigen Musiker wissen diesen Raum hervorragend auszufüllen. Sie und die famosen Sänger bescheren dem Publikum viele Gänsehautmomente. Die Sitznachbarin des Autors ist derart überwältigt von diesem Lohengrin-Erlebnis, dass sie vor lauter Schönheit der Musik und der Stimmen fast ununterbrochen dauerüberwältigt ist und vor Glück sehr viel weinen muss.

Das ist Oper! Ganz große Gefühle! Der Deutschen Oper Berlin gelingt mit dieser sensiblen, reduzierten Inszenierung und exzellenter Besetzung wieder einmal Opernmagie. Herzlichen Dank für dieses Erlebnis. Viele Leute wissen nicht, was ihnen entgeht! Denn sehr, sehr schade ist: Im Opernhaus sind viele Plätze leer.

Für jede der vier weiteren Lohengrin-Aufführungen sind in jeder Kategorie noch viele Karten zu haben. Gehen Sie hin! Beschenken Sie sich mit vier Stunden Schönheit, Entrückung und Zauber. Für Menschen, die für diese Musik empfänglich sind, ist so ein Abend Seelenbalsam. Das tut unglaublich gut.

Sebastian Koik, 13. September 2017, für
klassik-begeistert.de

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