Martha Argerich und Rachel Fenlon, Foto: Dr. Holger Voigt
Was fehlte, war ein verbindender „roter Faden“, eine Art Orientierungsspur für die Zuhörer durch das Programm, das zudem auch noch einen Abfolgewechsel beinhaltete, der Teile des Publikums eher verwirrte. So entstand der Eindruck von Beliebigkeit, der einem Konzeptkonzert (in Analogie zum Begriff eines „Konzeptalbums“) die emotionale Konzentration entziehen kann.
Laeiszhalle Hamburg, 25. Juni 2022 (Kleiner Saal)
Martha Argerich Festival 20. – 29. Juni 2022, Hamburg
von Dr. Holger Voigt
Dass die begnadete argentinisch-schweizerische Pianistin Martha Argerich, mit inzwischen 81 Jahren noch immer mit fulminanter Bühnenpräsenz in Erscheinung tretend, weltumfassend Musik zu zelebrieren versteht, ist hinreichend bekannt. Im nunmehr vierten Martha-Argerich-Festival in der Hamburger Laeiszhalle, Residenz der Symphoniker Hamburg, stand der heutige Abend unter dem konzeptiven Motto „World Music“, das der Namensgeberin des Festivals geradezu in die DNA geschrieben zu sein scheint. Familiär und international sind kennzeichnende Attribute dieser hochkarätigen Konzertabende, an denen, wie alle Besucher erwarteten, Großartiges passieren kann. Dieser Abend gehörte indes leider nicht dazu – doch warum?
Der zwiespältige Eindruck des Konzertabends wurde ganz wesentlich durch die Auswahl der einzelnen Programmanteile und deren fehlender innerer Verknüpfung geprägt. Natürlich sind bei einem derart global aufzufassenden Konzertmotto nur Auszüge aus unbegrenzter Vielfalt möglich. Sie würden allein schon für sich genommen und breit diversifiziert ein eigenes Festival begründen können. Gleichwohl waren die Einzelbeiträge von hoher Qualität und, wenn man ihnen im Detail nachgeht, musikhistorisch hochinteressant. Doch was fehlte, war ein verbindender „roter Faden“, eine Art Orientierungsspur für die Zuhörer durch das Programm, das zudem auch noch einen Abfolgewechsel beinhaltete, der Teile des Publikums eher verwirrte. So entstand der Eindruck von Beliebigkeit, der einem Konzeptkonzert (in Analogie zum Begriff eines „Konzeptalbums“) die emotionale Konzentration entziehen kann.
Dabei wäre es sehr leicht gewesen, genau dieses zu verhindern: Statt einleitender Begrüßungsworte des Intendanten der Symphoniker Hamburg, Daniel Kühnel, der nur recht kurz das Programm mit seinen Anteilen umrissartig skizzierte, wäre eine ausführlichere Moderation der Einzelbeiträge von großem Gewinn gewesen, jeweils Teil für Teil gesondert. So wäre es dem Publikum leichter gefallen, sich auf spezielle musikalische Aspekte einzustellen und gezielter hineinhören zu können. Der Bogen einer musikalischen Weltreise wäre deutlicher hervorgetreten und hätte eine Vereinzelung der Rezeption durch das Publikum verhindern können. Dieses ist besonders schade, weil bereits die Wahl des kleinen Saales der Laeiszhalle eine viel intimere Atmosphäre hätte annehmen lassen, in der auch Zwischenmoderationen besonders gut durchführbar sind.
Das Programm begann mit der japanischen Pianistin Akane Sakai, die für die künstlerische Planung des Martha-Argerich-Festivals federführend einen großen Beitrag am Gelingen des Festivals geleistet hat. Mit stoischer Mimik und kontrollierter Körpersprache spielte sie Fritz Kreislers „Liebesleid“ in einer Solo-Piano-Bearbeitung von Sergei Rachmaninow. Sie tat dieses mit akkurater Anschlagtechnik und wohltemperierter Dynamik, doch wirkte sie dabei stets distanziert und emotional unbeteiligt. War das wirklich Rachmaninows intendierte Klaviersprache zum Thema „Liebesleid“? Trotz großen Beifalls war der Funke nicht übergesprungen.
Für den spanischen Pianisten Martín García García traf dieses sicher nicht zu. Hier entwickelte sich ein erster Höhepunkt des Abends mit Auszügen aus „Iberia“ des spanischen Komponisten Isaac Albéniz. Der frischgebackene Preisträger des Sir-Jeffrey-Tate-Awards glänzte mit präziser und mächtiger Anschlagtechnik, deren Eruptionen geradezu den Flügel zu zersprengen drohten, unterbrochen von eher zurückgenommenen, lyrisch-melodischen Anteilen, die auf postromantisch klingende Elemente verwiesen. Es war eine Freude, dem erst 25jährigen Pianisten beim Spiel zuzusehen, der unablässig die musikalischen Motivteile mitzusingen schien. Wenn man die Augen halb schloss, konnte man sich gut vorstellen, wie ein jugendlich-zorniger Ludwig van Beethoven wohl auf das Publikum gewirkt haben mochte, dessen Anschlag ja legendär und gleichermaßen verstörend gewesen war. Verdienter großer Beifall und zahlreiche Bravo!-Rufe für den jungen spanischen Pianisten.
Xavier Montsalvatges recht unbekannter, aus fünf Liedern bestehender Liederzyklus entpuppte sich als gleichfalls postromantisch geprägte Liedfolge, die unter Pianobegleitung durch Rachel Fenlon (die auch Opernsängerin ist) von der schottischen-deutschen Mezzosopranistin Catriona Morison vorgetragen wurde. Leider gab es hier wieder einmal unzeitige Beifallsbekundungen des Publikums, vereinzelt noch in den letzten verklingenden Ton hinein. Dieses schmälerte die emotionale Wirkung der sehr anrührenden Lieder, deren Vortrag auf die beeindruckend kräftige und zum Werk gut passende Mezzosopranstimme Catriona Morisons aufbauen konnte.
Nur kurz war der Auftritt Martha Argerichs, die dafür umso mehr gefeiert wurde. Zusammen mit dem kubanischen, in Belgien lebenden Pianisten Mauricio Vallina spielte sie die Variation nach einem Thema von Paganini, komponiert von Witold Lutosławski. Eng ging es auf der Bühne zu, da nunmehr zwei Flügel in gegenläufiger Anordnung auf der Bühne platziert waren. Akkurat und fast mathematisch im Vortrag gab Mauricio Vallina die Linie vor, die von Martha Argerich, zuweilen fast echohaft retourniert wurde. Beiden gelang ein zwar kurzer, doch beeindruckender Vortrag, der frenetischen Beifall hervorrief.
Nach der Pause trat die legendäre Jazz-Formation Aka Moon auf, deren internationales Renommée legendär ist. An sich eine Trio-Besetzung, wurde am heutigen Abend durch die Mitwirkung von João Barradas, Akkordeon, eine ausgesprochen polyphone Klangwelt erschaffen. Dass ein einzelnes Instrument, in diesem Fall ein Akkordeon, fast mühelos eine allumfassende Klangraumfülle erzeugen kann, verblüfft. Das Saxophon als „sprechender“ Anteil des Klanggeschehens überzeugte besonders in den solistischen Partien (Fabrizio Cassol). Bass (Michel Hatzigeorgiou) und Schlagzeug (Stéphane Galland) vervollständigten ein rauschendes Hörerlebnis, das mit großem Beifall bedacht wurde.
Zum Schluss des Konzertabends gab es riesigen Applaus und die bekannte Rosenzeremonie für alle Beteiligten.
Dr. Holger Voigt, 27. Juni 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
PROGRAMM
Fritz Kreisler (1875-1962)
Liebesleid (arr. für Solo-Klavier von Sergei Rachmaninow)
Akane Sakai, Klavier
Isaac Albéniz (1860-1909)
Iberia (Auszüge)
Martín García García, Klavier
Xavier Montsalvatge (1912-2002)
Cinco canciones negras (1945)
Cuba dentro de un piano
Punto de habanera
Chévere
Canción de cuna para dormir a un negrito
Canto negro
Rachel Fenlon, Klavier
Catriona Morison, Mezzosopran
Witold Lutosławski (1913-1994)
Paganini-Variationen für zwei Klaviere
Martha Argerich, Klavier
Mauricio Vallina, Klavier
Pause
Aka Moon
Fabrizio Cossol, Saxofon
João Barradas, Akkordeon
Michel Hatzigeorgiou, Boss
Stéphane Galland, Schlagzeug
Martha Argerich, Staatskapelle Berlin, Daniel Barenboim Philharmonie Berlin, 8. September 2021
Martha Argerich Festival, Konzert #5, Laeiszhalle, Hamburg, 23. Juni 2021
Anne-Sophie Mutter, Mischa Maisky, Martha Argerich Laeiszhalle Hamburg, 21. Juni 2021