Qualifikation oder Hybris? Dirigentenexpertise in der Abwärtsspirale (3)
Foto: Martin Fischer-Dieskau, (c) Buber Doráti Festival
»Es ist die Vergangenheit, die uns vorantreibt und oftmals die Gegenwart, die uns am Weiterkommen hindert« (Hannah Arendt)
Nach dem Abklingen der Pandemie wollen Opernhäuser und Konzertsäle mit neuer Aufmerksamkeit besucht werden. Vielleicht erlaubt die Zäsur in hoffentlich naher Zukunft auch eine gewisse Reflexion über alles, was im Zusammenhang mit Orchestern und deren Leitung bislang unhinterfragt geblieben ist. Immer wieder werden Dirigenten als Dirigenten eingestuft, die es gar nicht sind. »Karrieren« sind als Beweis untauglich.
Diese fünfteilige Betrachtung des Dirigenten Martin Fischer-Dieskau ist weder Pamphlet noch Kollegenschelte. Entworfen ursprünglich als Beitrag zu einer Festschrift möchte sie noch einmal in Erinnerung rufen, dass Dirigieren kein Beruf ist, den man um seiner selbst willen ergreifen kann. Dieser Beruf ist Schimäre und bleibt eine Art Wunschvorstellung von allen Seiten, mit denen er zu tun hat. Das war von Anbeginn dieser Tätigkeit so und macht das hohe Attraktivitätspotential aus, das von ihm ausgeht. Wenn es schwierig ist, dem derart Umschwärmten gerecht zu werden, bleibt doch die Erkenntnis, dass Glanz nicht zum Sparpreis zu haben sein sollte. Nicht jeder, der einen Taktstock zur Hand nimmt oder sich stabfrei vor ein Orchester stellt, ist deshalb schon Dirigent.
Wagen Sie einen im besten Sinn unvoreingenommenen Blick hinter die Kulissen!
Teil III: NICHT AUF DIE GESTIK REDUZIEREN
von Martin Fischer-Dieskau
Niemand möchte leugnen, dass sich hinter den Bewegungen des dirigierenden Subjekts mehr verbirgt als bloße Schaumschlägerei, viele erkennen die Spitze des Eisbergs durchaus, um sich letztlich doch wieder an sie zu klammern. Die Optik des Dirigierens bildet selbst für den ihr ausgesetzten Musiker oder Sänger oft das wichtigste und einzige Unterscheidungsmerkmal und darüber hinaus nach wie vor das Kernstück eines eigentlich umfassender zu konzipierenden Dirigierstudiums an den meisten öffentlichen Unterrichtsstätten. Dennoch sollte sie als Substrat des selbst nicht musizierenden Musikvermittlers ihre Herkunft aus ursprünglich prosaischer Logistik niemals zu verhüllen trachten. Der überlange Weg der Emanzipation des Taktstocks in Italien[1] war ein Hinweis auf die Schmerzhaftigkeit evolutiver Prozesse, die nicht von Anfang an auf der Hand lagen. Wer wollte Bach, Haydn, Mozart oder Gluck als die wegweisenden Exponenten eines Kapellmeistertyps, dem als Leitungsinstrument zwar noch kein Dirigierstab, dafür aber, wie erwähnt, die sichere Beherrschung von Tastatur und Violinbogen selbstverständliche Voraussetzung für die Leitung ihrer Ensembles war, heute nach den Bewegungen ihrer Arme als ›Dirigenten‹ klassifizieren? Dieser Aspekt spielte selbst dann keine Rolle, wäre er nicht ohnehin längst hinter ihrer Bedeutung als Komponisten des großen klassischen Musikerbes verblasst. Eine Form des gestischen ›Dirigierens‹ darf den höchsten Grad sozusagen ›unkontaminierter‹ Legitimität in diesem Zusammenhang beispielhaft für sich in Anspruch nehmen: Es sind Glenn Goulds Bewegungen der linken Hand, mit denen er seine rechte während der Vorstellung eines Fugenthemas auf der Tastatur ›anleitet‹ – oder wäre ›begleiten‹ der angemessenere Ausdruck[2]? Man gewinnt den Eindruck, Goulds ›Dirigieren‹ verlaufe hier parallel zur historischen Unvereinbarkeit dieses Wortes mit der Epoche Bachschen Komponierens und verweise sinnbildlich auf die Entwicklung der Kunstmusik von sublimer Intimität zur vergröbert öffentlichen Exposition musikalischer Manifestationen späterer Komponistengenerationen. Gould ist gleichsam so weit entfernt vom ›Stardirigenten‹ wie der kompositorische Zellkern des 17. und 18. Jahrhunderts von später gewachsener, symphonischer ›Überwucherung‹.
Bestimmte Unwägbarkeiten in der Institution des Dirigenten bleiben in der öffentlichen Diskussion deshalb ausgespart, weil die Folgen von deren Klärung und Beseitigung unabsehbar tief in die Abläufe des Konzert- und Opernbetriebs eingriffen. An einer Dirigentenleistung wird weiter bestaunt, was Verdienst voraufgegangener Generationen war und heute nur noch Behauptung ist. Träfe eine solche Beobachtung in der Tat den Kern der Sache, dürften markante Veränderungen im Konzertbetrieb die Folge sein, wollte man Abhilfe schaffen. So lange – vor der Professionalisierung des Dirigierens zum Berufsstand – Komponieren unabdingbare Voraussetzung für die Besetzung von Musikdirektorenämtern war[3], erübrigten sich Nachweise von Fertigkeiten in anderen Disziplinen. Die Autorität war bestätigt, selbst wenn die Mitglieder einer europäischen Orchestervereinigung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihrer noch nicht zu bedürfen glaubten. Meyerbeer folgte in Preußen auf Spontini, ohne je für die abendliche Leitung einer Opernvorstellung zur Verfügung gestanden zu haben. Dies besorgten ungenannt gebliebene Abgeordnete des Orchesters am ersten Geigenpult oder solche der Sänger am Tasteninstrument. Mit Hans von Bülows schwarzen ›Handschuhen‹ im Trauermarsch der Eroica und Akzidenzien ähnlich öffentlich-wirksamer Usancen in Frankreich und England[4] war die kapellmeisterliche Praxis keine rein musikalische Angelegenheit mehr, sondern häufig ebenso sehr politische Demonstration mit Identifikationspotential für die Mächtigen. Nicht lange und am Horizont schimmerte der Verdacht, die Strahlkraft der Dirigentenerscheinung habe schon immer zugedeckt, dass außer der Gestik kein weiteres ›Metier‹ einklagbar gewesen sein könnte. Dies zeigen all jene Traktate vergangener Jahrhunderte, die mit ihren hohen Anforderungskatalogen einerseits Zweifel der eigenen Zunft auszuräumen und gleichzeitig Schwindler zu entlarven trachteten. Das Zweite belegt durch eine nie versiegende Flut von Schriften zur Dirigentenverteufelung damals wie heute. In beiden Fällen haben die Versuche, das Dirigieren zu standardisieren, seit Matthesons, Gassners, Berlioz’ und Wagners Traktaten des 18. und 19. Jahrhunderts, offenbar mit eben jenem Unbehagen zu tun, dass diese Disziplin, dieses ›Dirigieren‹, etwas Undiszipliniertes, Usurpatorisches an sich haben könnte, welchen Verdachts man sich eben am besten mit einem Kanon strenger Regeln zu dessen Beherrschung zu entheben hätte.
Oder aber man bediente sich verräterischer Schmähschriften über das unbefugte Eindringen anmaßender Simulanten[5]: Selbst noch Norman Lebrechts berühmt gewordener Mythos vom Maestro[6] steht in dieser Tradition. Mit einer entscheidenden Einschränkung: Für Lebrecht ist Maestra oder Maestro, wer den Taktstock erhebt. Das ›davor‹ ̶ die Frage, ob Dirigieren nicht eher die Folge eines Kranzes von Befähigungen statt etwas primär Anzustrebendes sein könnte ̶ spielte auch für diesen Autor keine Rolle. Hätte er mangelnde Eignung in der Tat in Erwägung gezogen, es bliebe kaum mehr eine von Lebrechts Matadorinnen oder Matadoren seiner Würdigung wert. ›Unbefugte Eindringlinge‹ hätten schlicht unberücksichtigt bleiben müssen. Ihre Zahl wächst seit Erscheinen von Lebrechts Veröffentlichung stattdessen beständig weiter, wie in einem sorgsam behüteten Biotop des Marktlobbyismus.
Ja, es gibt tatsächlich Veränderungen auf der Dirigentenszene: Sie bestehen darin, dass hinter dem mimisch-gestischen Tanz auf dem Podium zwar immer noch und immer wieder Meisterkompetenzen vermutet und vorausgesetzt werden, die die Sonderstellung der Dirigenten rechtfertigen sollen. Solche werden in Wahrheit aber längst weder angestrebt noch erreicht, um vor Publikumsschichten mit sich wandelndem Horizont bestehen zu können. Trotzdem sind Spitzengagen für reine Pultmagier ohne Hintergrundkompetenzen nach wie vor keine Seltenheit. Das Vertrackte bei der Einstufung von Dirigentenqualifikationen ist, dass es derer im Übermaß bedürfte, wollte man sich des Antlitzes von Scharlatanerie in diesem Berufsstand vollends entledigen. Adorno zieht es vor, das Problem zu verlagern:
[…] Zu seiner fachlichen Kompetenz gehören die unfachlichen Qualitäten selber hinzu. Reiten kann der Zirkusdirektor. Wer derlei Qualitäten überhaupt nicht besitzt, fällt durch ästhetische Reinheit aus jeglicher Kunst heraus und wird zum philiströsen Musikangestellten, so wie, nach einem Satz von Horkheimer, zum bedeutenden Arzt ein Rest von Scharlatanerie, ein Überschuß der Phantasie über die arbeitsteilige wissenschaftliche Rationalität, gehört. […][7]
Sie, die ungeplant Aufmerksamkeit erheischenden, sachfremden Zutaten schlichen sich ein, waren Beigabe, aber nicht Grundlage der sich plötzlich als selbständige Disziplin entdeckenden musikalischen Darbietungskunst, die kraft ihrer Herkunft vom Komponieren (Weber, Spontini, Mendelssohn, Wagner), ihres Ursprungs im Virtuosentum (Spohr, Paganini) oder beidem (Liszt) die Tür aufstieß zu der nunmehr 200jährigen Erfolgsgeschichte des Dirigierens. Die beiden Pole der Ingredienzienskala dirigentischen Erfolgs fest im Visier, kann die angesprochene ›magische‹ Komponente als Gegenseite der ›Pike‹ infolgedessen nicht die erste sein, die angestrebt und erwartet werden darf. Sie wird sich ohnehin erst einstellen, wenn dem Meister ein umfassendes Könnensarsenal zur Verfügung steht. War die Instrumentalbeherrschung Geige und/oder Klavier Teil des ›Führerscheins‹, um die prosaische Metapher noch einmal zu bemühen – Cello-Dirigenten der Geschichte wie Toscanini oder Barbirolli bestätigen die Regel – so sind jeder beliebigen Erweiterung von Grundvoraussetzungen natürlich unter keinen Umständen Grenzen zu setzen. Von Selbstverständlichkeiten wie feinem Gehör, Solfège in allen Transpositionen und Schlüsseln, Tonsatz, Kontrapunkt und flüssigem Schreiben von Partituren eigener Komposition oder Instrumentierung, als Beigabe sicherer Instrumentalbeherrschung, ist auszugehen. Ohne Voraussetzungen dieser Art, so will man meinen, sollte Dirigieren schlicht tabu sein.
Die Realität lehrt anderes. Mit der immerwährenden Bereitschaft, schlagfertig Interviews zu geben und Intelligentes zur Situation des Werks in der Musikgeschichte verlauten zu lassen, versuchen Orchesterlenker heute zwar erfolgreich, das rechtmäßige Desiderat umfassender Bildung ostentativ auszufüllen, ohne indes im Mindesten selbst in der Lage zu sein, das fragliche Musikstück auf einem Instrument darzustellen. Wie unter Druck, schwerer auszugleichende Defizite zu vertuschen, werden auch Fremdsprachen – wie unvollständig beherrscht auch immer – gern als Kompetenzersatz in Anschlag gebracht.
Das ›Fahren‹ selbst allerdings, nach dem Erwerb des Führerscheins, die Körpersprache eines Dirigenten, braucht inzwischen auch nicht länger mehr ausschließlich den Unwägbarkeiten der Praxis überlassen zu bleiben wie noch von Bruno Walter[8] festgehalten. Das war nicht gemeint, als von der Überbetonung des gestischen Aspekts die Rede war. Sicher nur: Das Dirigieren erschöpft sich nicht in dieser Region seiner Manifestation. Wie sich ein Dirigent bewegt, repräsentiert vielmehr die Gesamtpersönlichkeit dessen oder derer, der oder die ein Orchester leitet. Instrumentale und kompositorische Kompetenz sind zwingende Vorbedingung, aber ohne überzeugende Handhabung der musikalischen Gebärdensprache funktioniert trotzdem so gut wie gar nichts in der Orchesterarena. Der Dirigent muss, um wenigstens in die Nähe dessen zu kommen, wofür er von großen Teilen des Publikums und des Managements gehalten wird, ein überaus begabter und fleißiger Musikarbeiter gewesen sein, bevor er das Podium besteigt. Jetzt allerdings kommt hinzu, was als ›Schlagtechnik‹ bezeichnet wird.
DURCH VERGLEICH ERPROBEN
Zum Thema: Erworbene oder angeborene Fertigkeit in der Gestik folgende Beobachtung: Im Grunde, so ist der Chronist angesichts des heutigen Überangebots an Dirigenten versucht zu sagen ̶ und besonders Orchestermusiker neigen fatalistisch zu dieser Einschätzung ̶ spielt längst schon keine Rolle mehr, wer bei dieser oder jener Gelegenheit den Stab führt, zu ähnlich sehen sich Erscheinungsbild und Ergebnis.
Lassen wir in unserer Vorstellungskraft einmal eine ganze Phalanx von Dirigenten nacheinander Revue passieren. Wir bemerken sofort, wessen Taktiermodi angemessener, direkter und natürlicher zum Ziel einheitlichen Musizierens führen als die nie überwundene Hilflosigkeit anderer. Das heißt, es bedarf nach Möglichkeit zweier Quellen: Die der gezielten Schulung schlagtechnischer Prinzipien neben derjenigen durch die Praxis. Das ist es, worauf Lorin Maazel hinwies, als er den Karrierismus junger Dirigenten gelten ließ, solange er sich zielgerichtet auf den Praxiserwerb konzentrierte. Eins, zwei, drei, vier schlagen sei trotzdem absolut lapidar, wie er anfügte. Um die geheimnisvolle Komplexität und Architektur einer Partitur zu begreifen und gestisch zu verdeutlichen, dazu bedürfe es allerdings echten Künstlertums, erläuterte Maazel. Das sei kein für jedermann erlernbarer Lehrstoff[9]. Als Christa Ludwig aufgefordert wurde, über Karajan zu reflektieren, erinnerte sie sich vor allem an Karajans Technik, Takte für die Sänger zu ›verlängern‹, wenn die mehr Atem benötigten, an seinen ›langen Arm‹. »Da soll erstmal einer kommen, der so dirigieren kann wie der Karajan…«
Wo hatte Karajan das gelernt? Als ihm sein Vater 1929 das erste öffentliche Auftreten als Dirigent in Salzburg finanzierte, hatte der 21-Jährige seine Ausbildung als Pianist abgeschlossen. Er »hungerte«, wie von ihm selbst zu hören[10], »nach einem Wort«, wie der Taktstock zu führen sei und versammelte seine Kommilitonen ums Klavier, damit man sich gegenseitig beobachte und voneinander lerne. Dieser Impuls war noch immer maßgeblich, als er Ende der 1960er Jahre seinen eigenen Dirigentenwettbewerb ins Leben rief. Nicht der Karriereschub für den Sieger war sein Anliegen; eher der Wunsch, den Anfängern mit dem seinerzeit vermissten »Wort« zur Seite zu stehen. Zu stark hatten sich die achtzehn Jahre steiniger Repertoireaneignung an den Stadttheatern von Ulm und Aachen in sein Gedächtnis eingebrannt. Gleichzeitig bestand Karajan immer auf dem hohen Wert gerade der langen Dauer dieser Lehrzeit, die für ihn durch keinerlei Schnellverfahren zu ersetzen gewesen sei.
Seit sich innerhalb der Hierarchie ausübender Musiker die zwielichtige Position dessen aufzutun begann, der selbst zu keiner fingerfertigen oder vokalen Abendleistung heranzuziehen war, sondern ausschließlich stumm agierte, war man bemüht, diesem Zustand ein Würde suggerierendes Gewand anzulegen und das Dirigieren ebenso zum Gegenstand akademisch-musikalischer Bildung zu machen wie seine traditionellen Geschwisterdisziplinen. War damit nicht paradox das eigentliche Startsignal zum Niedergang des Dirigierens in Richtung Scharlatanerie gegeben? Birgt die bis heute verbreitete Ansicht, Dirigenten würden geboren, nicht gemacht, nicht vielleicht die weitaus zutreffendere Konsequenz? Nikisch gehörte bereits zu den ersten, die sich überreden ließen, ›Dirigier‹kurse abzuhalten[11].
Bald zeigte sich ein seitdem beständig wiederkehrendes Ritual: Kaum war ein Werk unter der Leitung eines Debütanten verklungen und nicht während der Darbietung entgleist oder anderweitig verunglückt, hielt dieser Dirigieraspirant ein solches Ergebnis prompt für das Resultat seiner Präsenz vor dem Orchester, selbst wenn der ›Erfolg‹ einzig dem Verdienst der Selbstheilungskräfte des Ensembles zuzuschreiben war. Nicht genug damit, er begann sofort, seine ›Technik‹, die sich im Wesentlichen auf die gestisch spontane Abwehr von Gefahrenmomenten aller Art beschränkt haben wird, als beispielhaft wirksam anzusehen und zögerte – überspitzt formuliert – nicht, sie anderen als Heilsbringer anzupreisen, gleichsam aus dem Stand ›Dirigierunterricht zu erteilen‹. Man verstehe, welche Folgen das zeitigte. Viele Dirigieranleitungen erblickten seit jenen Tagen das Licht der Öffentlichkeit – in Deutschland bemerkenswert viele in der Zeit der Weimarer Republik[12] unter Aufsicht des preußischen Kulturreferenten Leo Kestenberg. Sie wiesen Wege in unterschiedlichster Richtung, experimentierten mehr oder weniger spontan mit den geschildert individuellen Notlagen der jeweiligen Verfasser, ohne Hoffnung auf Allgemeingültigkeit.
Seit der Name Hideo Saito um 1980 von seinem Schüler Seiji Ozawa in die Welt getragen wurde, ist Abhilfe geschaffen. Allerdings nur für den Fall, dass jemand ernsthaft wissen will, was es mit der sogenannten Schlagtechnik wirklich auf sich hat und sich nicht von Billigangeboten unspezifischer Herkunft blenden lässt. Saito war in den 1930er Jahren nach Europa gereist, um die Bewegungen aller damals führenden Dirigenten nach bestimmten Kriterien ihrer Geschwindigkeit zu katalogisieren und in ein unübertroffenes System einzuordnen. Diese Analysen wurden etwa zwanzig Jahre nach Erscheinen der japanischen Originalausgabe aus dem Jahre 1970 ins Amerikanische übersetzt[13], aber bislang weitestgehend ignoriert, Ozawas Bemühungen, den Lehrer in diversen Saito-Kinen-(»Saito-Gedenk«-) Veranstaltungen zu ehren, zum Trotz.
Sollte es sich also ergeben, dass Dirigenten ihren Orchestern gestisch im Wege stehen, statt ihnen zum Zusammenspiel zu verhelfen, kann ein solches Vorkommnis selbstverständlich viele Ursachen haben. Von ungenauer Partiturkenntnis bis zu unaufmerksamen Hören reicht die Skala. In jedem Fall aber verhülfe ein Bewußtsein für die Recherchen Hideo Saitos zur Einsicht, dass in den meisten Fällen nicht die Ausführenden den Lapsus zu verantworten haben, sondern der Dirigent selbst. Saitos Ausführungen sind nicht schwer zu verstehen, so dass man fast versucht wäre, sie dem beflissenen Musikpublikum zur Lektüre anzuempfehlen, um angemessenere Dirigentengutachten zu befördern. Das bleibt leider Wunschtraum. Es existieren, wie angedeutet, Konkurrenz-Unterweisungen unterschiedlichster Provenienz – unter ihnen Max Rudolfs verdienstvolles Buch Grammar of Conducting[14] und Erich Leinsdorfs The Composer’s Advocate[15], keine – schon gar nicht die zahllosen kommerziellen ›Wegweiser‹ aus jüngster Produktion – vermag jedoch annähernd unbestechlich anzubieten, welche Bewegungsmuster zur Verfügung stehen, den jeweils angestrebten Klang zu verwirklichen, ohne die Ratsuchenden dabei gleichmacherisch in ein gestisches Korsett zu zwingen.
Saitos messerscharfe Beschreibungen stellen ein Kompendium dar, mit dessen Hilfe sich Dirigenten ohne Identitätsverlust wiederfinden und kontrollieren können, so sie den Aufwand, den es bedeutet, Saito mit Geduld zu studieren und zu begreifen, nicht scheuen. All denen aber, die der Überzeugung sind, die Probenwerkzeuge eines Dirigenten beschränkten sich auf Verbalkorrekturen in Richtung seiner Musiker und daran auch in ihren Lehrmethoden festhalten, sei jedenfalls die kritische Kontrolle seiner Bewegungsabläufe durch den musikalischen Leiter selbst als wirksameres Mittel der Schadensbegrenzung in Erinnerung gerufen.
Es bleibt trotz oder gerade aufgrund der technischen Orientierungshilfen durch Saito weiterhin möglich, eine an Ahnenreihen erinnernde Abfolge bestimmter Dirigiermethoden zu konstruieren, was immerhin gewisse Schlaglichter auf Dirigentenlegenden zu werfen vermag. Um nur die allerpopulärsten Einordnungen der Vergangenheit, anfechtbar wie sie bleiben, hier noch einmal anzudeuten: Nikisch + Pfitzner = Furtwängler, Toscanini + de Sabata + Furtwängler = Karajan, Kussewitzky + Reiner + Mitropoulos = Bernstein etc. etc. Gemeint ist ein jeweils komplexes Erbe, nicht ablösbar von der visuellen Erscheinung der Dirigenten, aber selbstverständlich nicht in ihr erschöpfbar.
Martin Fischer-Dieskau, 2. Februar 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
[1] Martin Fischer-Dieskau, Dirigieren im 19. Jahrhundert – Der italienische Sonderweg, Mainz (Schott) 2016.
[2] Bruno Monsaingeon, Glenn Gould, Gould plays Bach, DVD Sony 2012.
[3] Vgl. Martin Fischer-Dieskau, Verdi und Wagner – Dirigenten wider Willen, in: Arnold Jacobshagen, Verdi & Wagner, Kulturen der Oper, Köln 2014, S. 35.
[4] Vgl. Adam Carse, The Orchestra from Beethoven to Berlioz, New York 1949.
[5] Gunther Schuller, The Compleat Conductor, New York, Oxford 1997, Alois Melichar, Der vollkommene Dirigent, München-Wien 1981; Nicolai Biro-Hubert, Dirigierdschungel, Berlin 1997.
[6] Norman Lebrecht, The Maestro Myth, London 1991.
[7] Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt am Main 1975, p. 134.
[8] Bruno Walter, Thema und Variationen, Frankfurt 1967, S. 98 ff.
[9] Lorin Maazel, Interviewbeitrag, Euroarts 1995.
[10] Patrizia Plattner, Karajan, La Sept ARTE 1999.
[11] Heinrich Chevalley, Arthur Nikisch, Berlin 1922.
[12] Rudolf Cahn-Speyer, Handbuch des Dirigierens, Leipzig 1919; Hermann W. von Waltershausen, Dirigenten-Erziehung, Leipzig 1929, Alfred Szendrei, Dirigierkunde, Leipzig 1932.
[13] Hideo Saito, The Saito Conducting Method, Wayne J. Toews (ed.), Tokyo 1988.
[14] Max Rudolf, The Grammar of Conducting, New York, London 1950.
[15] Erich Leinsdorf, The Composer’s Advocate, Yale 1981.
Im Laufe der Jahre hat Martin Fischer-Dieskau weltweit fast 100 Orchester dirigiert, darunter die Berliner Philharmoniker, das Royal Philharmonic, London Philharmonic, Moskauer Staatsorchester, Orchestre National de France, das NHK Tokio, das Tokio Philharmonic und das New Japan Philharmonic. Er leitete alle bedeutenden Symphonieorchester Deutschlands und Skandinaviens sowie viele italienische und spanische Orchester. Er war häufiger Gast bei internationalen Festivals, etwa bei den Berliner Festwochen, dem Helsinki- oder dem Granada-Festival. Nach einer deutschen Theaterlaufbahn Chefpositionen auf drei Kontinenten: In Deutschland, in der Schweiz, in Kanada und Taiwan.
Martin Fischer-Dieskau studierte Dirigieren, Violine, Klavier und Komposition. Seine Dirigierstudien führten ihn an die Hochschulen von Wien und Berlin sowie an die Accademia Chigiana in Siena; er absolvierte Meisterklassen bei Franco Ferrara, Charles Mackerras, Seiji Ozawa und insbesondere bei Leonard Bernstein. Darüberhinaus beendete er auch ein Musikwissenschafts- und Italianistikstudium an der Freien Universität Berlin mit der Doktorwürde. Sein Buch Dirigieren im 19. Jahrhundert – der italienische Sonderweg erzielte internationale wissenschaftliche Anerkennung. Außerdem erschienen: Wagner und Verdi – Kulturen der Oper.