Das letzte Wort zu Beethoven - bislang

NDR Elbphilharmonie Orchester, Alan Gilbert, Dirigent, Beethoven und Schönberg  Elbphilharmonie, 3. Mai 2024 

Alan Gilbert © Peter Hundert

ARNOLD SCHÖNBERG (1875 – 1951)

A Survivor from Warsaw (Ein Überlebender aus Warschau) op. 46 für Sprecher, Männerchor und Orchester
Entstehung: 1947 | Uraufführung: Albuquerque, 4. November 1948 | Dauer: ca. 7 Min.

LUDWIG VAN BEETHOVEN (1770 – 1827)

Sinfonie Nr. 9 d-Moll op. 125
für Soli, Chor und Orchester mit Schlusschor über Schillers Ode „An die Freude“ Entstehung: 1815; 1822–24 | Uraufführung: Wien, 7. Mai 1824 | Dauer: ca. 65 Min.

NDR Elbphilharmonie Orchester
Alan Gilbert, Dirigent

Dominique Horwitz, Sprecher
Susanna Phillips, Sopran
Gerhild Romberger, Alt
Maximilian Schmitt, Tenor
Michael Nagy, Bariton

Rundfunkchor Berlin
Ines Kaun, Einstudierung Rundfunkchor Berlin

Elbphilharmonie, 3. Mai 2024


von Harald Nicolas Stazol

„Den Chor haben wir bis hierher gehört!“, sagt mir mein Ringel-Shirt-Mädchen an der Bar gerade – also über fünfzehn Meter durch den freien Raum bis zur Bar, davor die beiden Fort-Knox Türen des Hauses, dick und schwer und dennoch in hellem Holz – und da fragt sie gerade noch: „Sie gehen schon?“ (ja, ich mag die herausströmenden Massen nicht gerne) – „Ja, was soll denn jetzt noch kommen?“, lache ich, „Die Berliner haben „Freude schöner Götterfunken“ geschmettert, der Saal vibriert von Bravo – wie wir ja auch gerade hören – und alle stehen!“
Und sie, ganz trocken-hamburgisch, un lütte Deern, „Und dann die Nachrichten!“ Und recht hat sie, aber DIESE NACHRICHTEN werden ein wenig anders sein, „Gilbert – Beethoven 9“ wurde gerade auf YouTube live übertragen, wie mir tags später, da sind wir im zweiten Teil des „Hamburger Musikfests“, mein Elphi-Kumpan Michael berichten wird, „als Empfehlung“ – na, Donnerwetter, dasch ja mol n Hit“ denke ich, „Krieg und Frieden“, also das Erste voran? Bevor Alan Gilbert einen immerwährenden Maßstab setzt?

Denn zuvor sind die besten abstehenden Ohren der deutschen Schauspieler dramatisch-eindringlich tragisch, Dominique Horwitz, sehr ergraut, aber um keinen Gran schlechter, er gibt den englischen Sprecher, in „Ein Überlebender von Warschau“ von Arnold Schönberg, das jener in der amerikanischen Exil-Sicherheit auf Englisch in einer mündlich übertragenen Begebenheits Legende selbst sehr literarisch schreibt:

Ein Deutscher Kapo befiehlt einer Gruppe von todgeweihten Juden, NATÜRLICH AUF DEUTSCH, sich nach Anwesenheit abzuzählen, „In einer Minute will ich wissen, wieviele ich zur Gaskammer abliefere! Abzählen!“ brüllt Horwitz grausam-tyrannisch-menschenverachtend – und die jüdischen auf der Schlachtbank, zählen ab, und zählen immer schneller, um dann in „SCHEMA JISSRAEL (Fünftes Buch Mose, 6:4–7) auszubrechen, dessen ergreifender Text dem werten Leser nicht vorbehalten sein DARF:

„Höre, Israel,
der HERR ist unser Gott, der HERR allein. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.
Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst.“

Und alle werden zu Asche werden – noch beim Eichmann-Prozess wundert sich der Hauptankläger, wie wenig Asche vom Zum-Tode-Veruteilten „übrigbleibt“ nach wohlverdienter Hinrichtung – um sich dann gewahr zu werden, wievieler Toter Asche jener als Junge auf Geheiß der Ausschwitz-Schergen auf die vereisten Wege schaufeln muß, damit die werten Herren auf dem Wege zu den Krematorien ja nicht „ausrutschen“ – wenn dies nicht humanistische Prinzipien zurechtrückt, dem ist auch nicht mehr zu helfen!!!

Und hat Alan Gilbert nicht da schon getaktet, jetzt, bei Pflicht und Kür des Abends, „Gilbert dirigiert Beethovens Neunte“ prangt schon auf dem Heft, jetzt wird er zu einem Metronom in menschlicher Gestalt!

Da flirrt Hamburg sowieso schon in Vorspannung und Nervosität, die Nerven liegen ganz unhanseatisch blank!, läuft doch parallel das Derby, St.Pauli könnte in die erste Liga aufsteigen, wieviel Hoffnung liegt da auf 11 Spielern, ja, niemand ist angefixter gerade an der Elbe – außer meiner, habe ich die Karten schon am Dienstag, biete sie an wie sauer Bier auf dem Silbertablett, umsonst, ach umsonst, hört doch der Portier des Westin Grand im Turm der Philharmonie – in der Lobby halte ich meist kurz Rast vor Beethoven und dergleichen – nun, statt einem „Einen guten Abend, Herr Stazol!“, das Personal im Ganzen klebt am Fernsehschirm – aber ich, und 2100 andere, zittern schon aus ganz anderen Gründen!

Elbphilharmonie © Maxim Schulz

Denn Alan Gilbert könnte in die Erstliga aufsteigen heute, gegen Karajan mit den Berlinern, oder neben Mäkelä mit der Oslo Filharmonie!

Cliffhanger!

Doch was ist nur mit den Ersten Geigen los? Die Büchsen irgendwann aus, ich glaube am Anfang des dritten Satzes stürmen sie Gilberts Taktstock davon, man merkts kaum, weil das NDR Elbphilharmonieorchester gerade alles gibt, voll unter Baton – aber bis Maestro dieses Ausbrechen, wie ein tänzelnder Vollblütler, der verfrüht und hochgepeitscht in den Galopp übergeht, da doch noch langsamer Galopp angesagt ist – nun, zwei, drei Peitschenhiebe, und der Laden läuft wieder, taktvoll-taktisch.

Also, nun verlangt es dieses wunderbaren literatischen Fachausdruckes, des précis, der Zusammenfassung:

Hier und heute Abend und aufgrund der beiden Ohren des Chronisten: Bevor nicht ein anderer kommt, ist mir Alan Gilbert und seine Band letztlich, Nietze gemäß, das Letztgültige in Sachen Beethoven 9!

„Vielleicht muss man die Neunte mal von Neujahr ablösen?“ sagt Michael, und DA habe ich sie ja gehört, kein Vergleich, nirgends!

Da flüstern die Celli in Vorbereitung auf die berühmteste Melodie der Welt, da wird – etwas emotionslos, oder gar disziplinierend, jeder Satz genau auf Schlag gegeben, da haben wir schon mal den Karajan?

Denn, weit bevor die berühmteste Weise der Weltliteratur aufsteigt, hat Gilbert beide drei Sätze geradezu duchgeführt – sehr im Gegensatz zu Klaus Mäkelä, „eitel, eitel, alles ist eitel“,  aber nun, nun: „I rest my case“! Gilbert schafft Grundsätzliches.

Denn nun, wie ein preußisches Regiment, marschiert der Rundfunkchor Berlin auf, unter langanhaltendem Applause, Reihe um Reihe, Reih’ um Reihe in vollster Disziplin, und singt mein Barmädchen an die Wand. Nein, recht eigentlich UNS ALLE.

Elbphilharmonie Hamburg, Kleiner Saal, 2019, Alan Gilbert © Peter Hundert

Legen doch die Solisten schon SOWAS von vor: „Oh Freuheuheuheuheunde, nicht diese Töne“, da gehts dank Michael Nagy, Bariton schon dermaßen ab, die anderen folgen ebenso staunenswert virtuos, und das kostet Gilbert nahtlos-gigantoman aus, und als sich schlussendlich alles zusammenfügt – fast geht der Philharmonie die Kuppel hoch, „ALLE MEHEEENSCHEN, werden Brüder!“ – ich sagte ja schon anfangs, was soll jetzt noch kommen?

Brodelndes Applausfeuer. Nicht zuletzt, dem hochbeschäftigten Paukisten, aufs Äußerste schlegelwechselnd, hochbeanspruchten Paukisten zu schulden.

Diesen Kuss der ganzen Welt?

Das wärs doch was, oder?

Harald Nicolas Stazol, 5. Mai 2024 für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Klein beleuchtet kurz Nr 32: Kent Nagano dirigiert Richard Wagners Walküre mit meisterhafter Spannung Elbphilharmonie, 1. Mai 2024

Auf den Punkt 4: Sir Antonio Pappano hat ein Karajan-Problem Elbphilharmonie, Großer Saal, 29. April 2024

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