Skandal im Ruhrbezirk: "Menschenskinder, ganz schön schwere Kost!"

Neue Philharmonie Westfalen, Roberto Paternostro, Eleonore Marguerre,  Ruhrfestspielhaus Recklinghausen

Foto: Pedro Malinowski

Ruhrfestspiele Recklinghausen, 22. Mai 2019

Dirigent: Roberto Paternostro
Solistin: Eleonore Marguerre

Orchester der Neuen Philharmonie Westfalen

Richard Wagner
Tannhäuser – Ouvertüre und Bacchanale

Alban Berg
Altenberg-Lieder

Anton Bruckner
3. Symphonie, 1. Fassung

von Ingo Luther

„Skandale“ – diese Überschrift für ein Sinfoniekonzert bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen klingt zunächst befremdlich, klärt sich aber bei einem genaueren Blick auf das Programm schnell auf.

Als Richard Wagner im März 1861 seinen Tannhäuser in der Pariser Oper aufführt, kommt es zu einem handfesten Skandal. Vor allem die Herren des ebenso vornehmen wie berüchtigten „Jockey Clubs“ lassen silberne Trillerpfeifen im Publikum verteilen, um hiermit stürmisch ihrem Protest gegen das fehlende Ballett im 2. Akt Ausdruck zu verleihen. Wagner zieht seinen Tannhäuser nach drei Aufführungen zurück und legt das Thema Paris vorerst hochgradig frustriert zu den Akten.

Am 31. März 1913 findet im Wiener Musikvereinssaal ein Konzert statt, welches als sogenanntes „Watschenkonzert“ in die Musikgeschichte eingeht. Nachdem es bereits bei den Werken von Anton Webern und Arnold Schönberg zu tumultartigen Szenen durch Zischen, Pfeifen und lautstarken Zwischenrufen kommt, eskaliert die Situation bei der Aufführung der Altenberg-Lieder von Alban Berg vollends: Ein Zuhörer springt vom Podium und ohrfeigt einen Zwischenrufer so, dass dieser zu Boden geht. Das Konzert wird daraufhin abgebrochen. Die Altenberg Lieder werden erst lange nach Bergs Tod im Jahre 1935 wieder aufgeführt: 1952 unter Jascha Horenstein in Rom.

Auch die Uraufführung von Bruckners 3. Sinfonie am 16. Dezember 1877 im Großen Saal der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien steht unter keinem guten Stern. Anton Bruckner dirigiert sein Werk selbst und stößt dabei auf eine breite Ablehnung: Nicht nur große Teile des Publikums verlassen während der Aufführung fluchtartig den Saal, auch einige Orchestermitglieder verschwinden von der Bühne! Ein desaströser Misserfolg für den ohnehin sehr selbstkritischen Tonmaler.

Mehr als 100 Jahre später haben sich die einstigen „Skandale“ zu musikgeschichtlich bedeutenden Werken entwickelt. Die Ruhrfestspiele Recklinghausen und das Orchester der Neuen Philharmonie Westfalen erinnern an diesem Abend an den „Radau“ und die „Tumulte“ längst vergangener Zeiten.

Der international gefragte und erfahrene österreichische Maestro Roberto Paternostro bereitet mit der Neuen Philharmonie Westfalen den Boden für eine angemessene Würdigung des 206. Geburtstages von Richard Wagner am heutigen Tage. Mit der Ouvertüre zu dessen Oper Tannhäuser fällt die Wahl dabei auf eines seiner populärsten Orchesterwerke.

Es berührt zutiefst, wie feinfühlig und differenziert Paternostro die leisen Töne der Pilger-Thematik zeichnet. Ebenso versteht er es, das Orchester in den Motiven des Venusberges zu klanggewaltigen Eruptionen zu führen. Das ist Wagner at it’s best und ein akustisches Festmahl für die Ohren!

„Sie ist wieder hier, in ihrem Revier!“ Über viele Jahre wurde Eleonore Marguerre in verschiedenen Schlüsselrollen in der Dortmunder Oper als Publikumsliebling gefeiert, nun kehrt sie zumindest für einen Abend mit den Altenberg-Liedern in das Ruhrgebiet zurück.

Wie schade, dass die Minuten ihrer fesselnden Interpretation von Alban Bergs Liedern nur so vorbeirauschen – so gerne würde man sich wieder einmal einen ganzen Abend lang in den Wohlklang von Eleonore Marguerres luxuriösen, tief berührenden Sopran einhüllen!

Die Entscheidung, die von Alban Berg instrumentierten Postkartentexte von Peter Altenberg in das Programm zu nehmen, ist ein mutiger Entschluss – erst recht im krassen Kontrast zum Klangrausch der zuvor dargebotenen Tannhäuser-Ouvertüre!

„Menschenskinder, ganz schön schwere Kost“ – so bringt eine ältere Dame bei ihrem Gang zum Pausensekt die Gefühlslage des Publikums auf den Punkt. Trauriges Ergebnis ist der mehr als zaghafte Beifall für den exzellenten Vortrag von Eleonore Marguerre und der Neuen Philharmonie Westfalen – lediglich das standhafte Klopfen der Streicher mit den Bögen auf die Notenständer bringt die Solistin zu einer zweiten Verbeugung auf die Bühne.

Zu den Altenberg-Liedern und Alban Bergs dissonanten Vorgriff auf Schönbergs spätere Zwölftonmusik findet das Festspielpublikum an diesem Abend in Recklinghausen definitiv keinen Zugang.

Nach der Pause darf sich das Auditorium dann wieder dem Genuss harmonischerer Klänge hingeben: Anton Bruckner widmete seine 3. Symphonie Richard Wagner: „dem unerreichbaren, weltberühmten und erhabenen Meister der Dicht- und Tonkunst“. In der an diesem Abend zu Gehör gebrachten ersten Fassung kann man diese Widmung musikalisch nachvollziehen: Es flirrt nur so von Andeutungen aus Tannhäuser, Tristan oder den Meistersingern von Nürnberg.

Roberto Paternostro erweist sich als ausgewiesener Bruckner-Spezialist – transparent und in einer faszinierenden Klangreinheit, dazu in einer angemessen ausbalancierten Lautstärke führt der österreichische Dirigent das Orchester der Neuen Philharmonie Westfalen durch dieses sinfonische Monumentalwerk.

Das Dirigat kennzeichnet eine große Empathie für die Feinheiten des Klangkörpers und ein geradezu blindes Verständnis von Bruckners Partitur. Langanhaltender, herzlicher Beifall sind der verdiente Lohn für diese großartige Leistung.

Eigentlich gibt es an diesem Abend in Recklinghausen nur einen „Skandal“ – die Reihen im Festspielhaus sind nur etwa zur Hälfte gefüllt! Dieses Konzert mit seiner hochklassigen musikalischen Qualität hätte allemal ein ausverkauftes Haus verdient gehabt.

Ingo Luther, 23. Mai 2019, für
klassik-begeistert.de

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