Elbphilharmonie © Maxim Schulz
Jacques Offenbach
Orphée aux enfers (Orpheus in der Unterwelt) / Oper in zwei Akten
Halbszenische Aufführung in französischer Sprache mit deutschen Übertiteln
NDR Elbphilharmonie Orchester
NDR Vokalensemble
Marc Mauillon Orphée
Tamara Bounazou Eurydice
Aude Extrémo Opinion Publique
Éric Huchet Aristée / Pluton
Alexandre Duhamel Jupiter
Adriana Bignagni Lesca Juno
Alix Le Saux Venus
Olivia Doray Diane
Louise Pingeot Minerve
Sahy Ratia Mercure
Manon Lamaison Cupido
Wolfgang Ablinger-Sperrhacke John Styx
Christoph Liebold Mars
Dirigent Marc Minkowski
Romain Gilbert Szenische Einrichtung und Licht
Elbphilharmonie, 31. Dezember 2023
von Harald Nicolas Stazol
Wenn ein Dirigent 2100 Menschen zum Küssen auffordert, sich umwendet und „Schmatz, Schmatz, Schmatz“ in die Reihen und Ränge vorgibt, im perfekten Takte zum „Ha-Ha-Ha“ Gesang auf der inszenatorisch vollbespielten Bühne, dann ist Silvesterabend in der Elbphilharmonie, und man gibt die Operette „Orphée aux enfers“ von Jacques Offenbach, einen „Orpheus in der Unterwelt“, der mir vor lauter Heiterkeit und Witz und Sangeskunst der Solisten und des beschwingt und wirklich toll kostümierten NDR Vokalensembles und eines sich selbst übertreffenden NDR Elbphilharmonieorchesters wohl unvergesslich bleiben wird, aber der Reihe nach!
Denn da ist schon „Die öffentliche Meinung“, Aude Extrémo, im strengen, schlank-ranken schwarzen Gouvernanten Kleid, mit respektheischender Brille, die Orpheus, alias Marc Mauillon – ein einzigartiges Timbre als Bariton – ob seines nicht gerade gesellschaftskonformen Verhaltens so fürchtet, denn man könnte den Offenbach auch mit „Szenen einer Ehe“ überschreiben, einer Ehe, in die der arme Mann unglücklich-genervt gefangen ist.
Was uns sofort zur keine fulminanten Höhen scheuenden und meisternden Euridyce, der ganz charmant-entzückenden Sopranistin Tamara Bounazou bringt, die ihren Mann hasst, und ihm die Hörner aufsetzt mit dem Hirten Aristée (Èric Huchet), der aber leider der durchtriebene Herr der Unterwelt ist, nämlich der listige Pluto, der sie erstmal vorsorglich tötet, allerdings schmerzlos durch Schlangenbiss, um sie liebestrunken mitzunehmen nach unten. „Je suis pas à la maison, parce que je suis morte“ steht im Brief, den Orpheus vorfindet, da ist er glücklich: „Welch’ ein beglückender Verlust! Wie selig ist der Mann, der sagen kann: Meine selige Frau. Schnell zu meiner holden Nymphe, um ihr mein Wonnegefühl mitzuteilen.“ – denn er ist im Ehebruch auch nicht gerade zimperlich, öffentliche Meinung hin oder her – da kann man sich vorher geigend am Bein des Konzertmeisters Daniel Choo – wir sprachen schon von seiner Exzellenz? – festklammern, der ihn sehr komisch wegtritt.
Und jetzt treten sie auf, die Olympier, von denen Juno, Adriana Bignani Lesca, erstmal total besoffen offenbar von einer Götter-Party ein wenig an Jessye Norman gemahnend heimkommt, vielmehr die Treppen von oben herunterwankt, samt Schampus Flasche, in einer theatralischen Umsetzung von Roman Gilbert, die einfach Spaß macht – und erstaunlicherweise in der Elphi überzeugend-überraschend samt crèmefarbenem Jupitersofa oben und Lichtblitzen in rot, blau und schwarz-weißen Wirbeln und Theaterdonnern umgesetzt wird.
Jupiter, ein komisch kraftvoller Alexander Duhamel, ist ja bekannterweise auch erotisch ziemlich aktiv – „ich will die Scheidung“ schreit die Göttergattin denn auch…
All dies zusammengeführt vom „Orpheus“-Spezialisten Mark Minkowski, der stämmig und mitreißend und man kann sagen sehr der Schwerkraft verbunden mit schön zu schauender Energie mit Leichtigkeit alles auf Orchester wie Publikum mit Leichtigkeit überträgt, nicht ohne Witz dabei!
Ach, die Götter! Die haben’s auch nicht einfach, nein, sie langweilen sich zu Tode, „dieses ewige Blau, diese ewige Ambrosia“, da bricht eine veritable Revolution gegen den Blitzeschleudernden los, samt Transparenten, einer lustigen Demo oben an den Treppen rechts und links des Vokalensembles, dieses immer sicher, ja in Gesamtheit virtuos – was für ein Glück, das wir es haben!
Urlustig Wolfgang Ablinger-Sperrhacke in der Rolle des Pluto-Dieners, „Ich trinke, um zu vergessen“ – wer tut das nicht? – und der, als er auf Deutsch singt, von Minkowski zurechtgewiesen wird, „en français, s’il vous-plaît, c’est Offenbach“, was den Rotgesichtigen mit den wirren Haaren nicht abhält von seiner Sprachwahl – natürlich ist auch er von Euridyce besessen, und als er körperlich sich ziemlich aufdringlich nähert, haut die ihm seine Weinflasche mit Wumms über den Schädel, da lachen ALLE – ich sage ja, die ganze Aufführung ist zum wunderbaren Lachen, sind doch auch ALLE auf der Bühne geradezu die Bestbesetzung für den französischen Komponisten, zu dem Meyers Konversationslexikon von 1877 nur bemerkt:
„Mit ihren schlüpfrigen und sinnlichen, zumeist trivialen Tonweisen müssen Offenbachs Werke eine entschieden entsittlichende Wirkung auf das größere Publikum ausüben“ – ziemlich entsittlichend glücklicherweise:
Bei der weltbekannten „Can-Can“ Melodie, die auch meiner Begleitung natürlich geläufig ist – wie auch nicht? – da gibt es kein Halten mehr, und da wippen die Knie und die Hände hauen auf die Knie reihenweise ganz am Schluss, und alle Götter – wir können nicht alle Solisten aufzählen – tanzen zum donnernden Klatschen von Beinwerfen bis Techno-Moves und Jazz-Wackeln und Mitrocken noch einmal final, dass es einen schlicht umhaut!
Das ganze wirklich allerliebst und ausgelassen, ein Topereignis reinsten Wassers – so kann 2023 perfekt ausklingen!
Harald Nicolas Stazol, 1. Januar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Jacques Offenbach, Orpheus in der Unterwelt, Komische Oper Berlin, 7. Dezember 2021 (PREMIERE)
Daniels Anti-Klassiker 23: Jacques Offenbach – „Cancan“ aus „Orpheus in der Unterwelt“ (1858)
Jacques Offenbach, Orpheus in the Underworld English National Opera, 28. November 2019