Die Bayreuth-Experience: Der zweite Einspringer singt wie die Star-Besetzung – Ring-Finale in Bayreuth

Richard Wagner, Götterdämmerung  Bayreuther Festspiele, 5. August 2020

Der eigentliche Grund, eine Bayreuth-Premiere zu besuchen, hat weniger mit dem Gesang zu tun. Sondern damit, was passiert, wenn sich ein Regie-Team an diesem Haus vor den Vorhang traut. Minutenlange Buh-Rufe, die u-Formanten bringen den Holzboden unter den Füßen zum  Schwingen. Die Leute schreien sich die Hälse ab, die, die es eilig haben, schmeißen aus der Tür noch ein paar Missfallensäußerungen auf die Bühne. Sonst wäre es nicht Bayreuth. Als würde sich hier gleich das Skandalkonzert 1913 wiederholen – es bleibt natürlich friedlich.

Foto: Chor der Bayreuther Festspiele, © Bayreuther Festspiele, Enrico Nawrath

Festspielhaus Bayreuth, Bayreuther Festspiele, 5. August 2020

Götterdämmerung
Musik und Libretto von Richard Wagner

Die Wagner-Experience, die Bayreuth-Experience. Auch der zweite Einspringer glänzt wie die Star-Besetzung,  aus dem Graben strömen fesselnde Wagner-Klänge. Bei den ohrenbetäubenden Buh-Rufen für das Regie-Team schwingt eine unfassbare Energie durch den Saal, für die allein es sich lohnt, viele Tage und Wochen nach Bayreuth zu pilgern.  

von Peter Walter

Clay Hilley ist ein Held in mehreren Sinnen. Erstens ist er mit einem Tag Vorlauf als Siegfried eingesprungen – die Star-Besetzung wie der erste Einspringer waren erkrankt. Eine ähnlich unzumutbare Aufgabe wie der Walküre-Wotan-Einsprung. Und zweitens ist er DIE ideale Fortsetzung des Schager-Siegfrieds. Viele Jahre vergehen zwischen dem dritten und vierten Teil des Rings, Siegfried wird erwachsen, ist nicht mehr der hopsende Laufbursche, der furchtlos den Drachen tötet und durch Brünnhildes Feuer schreitet. Das war Schager.

Hilley ist ein Heldentenor par excellence, mit grandioser Stimme und schier endloser Stärke. Das hohe c kommt völlig mühelos, auch zweieinhalb Wagner-Aufzüge können ihn nicht ermüden. Er fährt den Zuschauer weniger an die Wand als Schager – niemand kann sich über schmerzhafte Ohren beschweren – aber sein Auftritt ist eine musikalische Machtdemonstration. Wie der Siegfried-Siegfried, nur 20 Jahre älter – dass das im wahren Sänger-Leben eher andersrum ist, spielt hier keine Rolle, soll es auch nicht. Mit seiner Frau Brünnhilde hat er ein Kind gezeugt und geht eine Blutsbrüderschaft mit dem Gibichungenherrscher ein, die letztendlich der Erfüllung des Machthungers Hagens und Alberichs dient.

Im Valentin Schwarz-Ring wird Gutrune zur zentralen Mittäterin des Brünnhilde-Betrugs, sehr passend, diese Rolle mit der herausragenden Elisabeth Teige zu besetzen. Was die Bayreuth-Debütantin hier geleistet hat, war mal wieder absolute Extraklasse! Ein strahlender Sopran, der in alle Ecken und Galerien des Festspielhauses eindringt. Eine stimmlich unwiderstehliche Gutrune, auch, wenn man das Böse in ihr schon ahnt. Neben Lise Davidsen die zweite Shooting-Star der aktuellen Sopran-Szene!

Foto: Elisabeth Teige (Gutrune), (c) Bayreuther Festspiele, Enrico Nawrath

Christa Mayer als Waltraute war gewohnt souverän, fast einen Tick stärker als ihre Dialog-Partnerin Brünnhilde. Leider sind die beiden Stimmfächer sehr weit auseinander, kaum eine Mezzo-Sopranistin wird wohl Wotans Lieblingstocher singen. Ungewohnt stimmstark waren auch die drei Nornen – Okka von der Damerau, Stéphanie Müther und Kelly God. Fast schon überbesetzt für diese Rollen, das waren wahrhaftig drei Weltklasse-Solistinnen. So legt man die Latte hoch!

Bei Olafur Sigurdarson wird man nach diesem Ring hoffentlich von einem Durchbruch reden, sein Alberich war genauso dominant wie im Rheingold und Siegfried. Noch nie hat diese – in der Götterdämmerung – Mini-Rolle so viel Applaus gekriegt. Hagens „Hoiho! Hoihohoho“ Rufe waren makellos routiniert, wie von einem Sänger, der hier schon Wotan, Alberich und den Tannhäuser-Landgraf draufhat. Stimmt ja auch, Albert Dohmen ist seit 15 Jahren Stammgast auf dem Grünen Hügel.

Foto: Olafur Sigurdarson, (c) Bayreuther Festspiele, Enrico Nawrath

Kommen wird noch zu Michael Kupfer-Radecky, ja, der Sänger, der vor vier Tagen noch für Tomasz Konieczny als Wotan eingesprungen ist. Das war ein überragender Gunther mit donnernder Stimme, ein wahrhaftiger Bösewicht, vor dem man Angst bekommt. Vielleicht wäre es tatsächlich mal Zeit für den Wotan?

Foto: Albert Dohmen (links) und Michael Kupfer-Radecky(rechts), (c) Bayreuther Festspiele, Enrico Nawrath

Als Brünnhilde war Iréne Theorin wieder am Start, nachdem sie sich im dritten Teil eine wohlverdiente Auszeit gönnen durfte. Leider konnte sie den Erfolg der herausragenden Daniela Köhler nicht fortsetzten, zu viele falsche Töne, oben zu schrill. Was in der Walküre noch einigermaßen funktioniert hat, ist in der Götterdämmerung eher fehl am Platz. Auch Brünnhilde ist nicht mehr dieselbe wie im zweiten Teil, keine Kriegerin, die auf ihrem Ross reitet. Das könnte man ruhig auch stimmlich umsetzten. Einige Buh-Rufe – ich sage es wirklich ungern –,  künstlerisch zu rechtfertigen.

Foto: Albert Dohmen, Iréne Theorin,(c) Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath

Der eigentliche Grund, eine Bayreuth-Premiere zu besuchen, hat weniger mit dem Gesang zu tun. Sondern damit, was passiert, wenn sich ein Regie-Team an diesem Haus vor den Vorhang traut. Minutenlange Buh-Rufe, die u-Formanten bringen den Holzboden unter den Füßen zum  Schwingen. Die Leute schreien sich die Hälse ab, die, die es eilig haben, schmeißen aus der Tür noch ein paar Missfallensäußerungen auf die Bühne. Sonst wäre es nicht Bayreuth. Als würde sich hier gleich das Skandalkonzert 1913 wiederholen – es bleibt natürlich friedlich.

Übrigens war diese Götterdämmerungs-Inszenierung wirklich nicht dolle. Im dritten Aufzug steht eigentlich Walhall in Flammen, die Welt geht unter. Wagner wollte – natürlich nicht wortwörtlich –, dass das Publikum danach das Festspielhaus zu Boden brennt und die Revolution ausruft. Und auf der Bühne passiert: Nichts! Statik, alles bleibt wie beim Alten. Die Wiederherstellung des Urzustands – die zyklische Schließung der Tetralogie – wird durch eine kleine, wenig verständliche Video-Projektion dargestellt. Warum die türmende Musik? Oder sollte das ironisch gemeint sein? Das war einfach viel zu wenig.

Zu wenig die Inszenierung, grad’ richtig die Musik: Wie schon im Siegfried konnten Cornelius Meister und das Festspielorchester endlich den wahren Wagner-Klang finden. Zwei Fehlversuche im Rheingold bzw. Walküre musste man trotzdem in Kauf nehmen. Und an auffällig vielen Stellen hatte der Chef auf dem Pult Bühne und Graben nicht fest im Griff, da hat so einiges gewackelt. Aber vor allem die starken, überwältigenden Energieausbrüche, für die Wagner so bekannt ist, donnerten den ganzen Saal voll. Die Bayreuth-Experience, nein die Wagner-Experience. So wie sich das im Haus nach Wagners Maßanfertigung gehört.

Peter Walter, 6. August 2022 für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Richard Wagner, Götterdämmerung Bayreuther Festspiele, 5. August 2020

Richard Wagner, Götterdämmerung Bayreuther Festspiele, 5. August 2022

Richard Wagner, Siegfried Bayreuther Festspiele, 3. August 2022

Richard Wagner, Die Walküre Bayreuther Festspiele, 1. August 2022

Richard Wagner, Das Rheingold Bayreuther Festspiele, 31. Juli 2022

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert