Anat Czarny – Sta nell’ircana – Ruggieros Arie aus Händel’s Alcina. Finale des Internationalen Pietro-Antonio-Cesti-Wettbewerbs, Innsbruck 2015
von Lorenz Kerscher
Mit 22 Jahren schließen so manche Sängerinnen und Sänger ihr Studium ab, treten vielleicht schon in die Opernstudios bedeutender Häuser ein und schnuppern erste Bühnenluft. Anat Czarny lernte in diesem Lebensalter erst einmal Noten lesen. Zwar hatte sie schon von Kindheit an gerne gesungen und auch schon heimlich gewünscht, Sängerin zu werden. Während ihrer Schulzeit belegte sie jedoch Schauspiel- und Tanzkurse. Dabei fand sie Gefallen an klassischer Ballettmusik, doch dann ging sie als Offizierin in die israelische Armee. Für die eher zierliche und mädchenhaft wirkende junge Frau war das gewiss eine mutige Berufswahl, die sie auch deshalb traf, weil sie meinte, die Chance der Entwicklung zur Sängerin längst verpasst zu haben.
Aufgrund ihrer Französischkenntnisse kam sie schließlich als Stellvertreterin des israelischen Militärattachés nach Paris. Zu dem neuen Freundeskreis, den sie dort aufbaute, zählten auch Gesangsstudenten, und sie fand Gefallen daran, deren Übungen mitzumachen. Das führte sie nach ihrer Rückkehr nach Israel zu der mutigen Entscheidung, es als 22-jährige ohne Vorkenntnisse doch mit dem Berufsweg einer klassischen Sängerin zu versuchen – in einem Land, das nur ein einziges Opernhaus hat. Ihre ganzen Ersparnisse investierte sie in den Unterricht, den sie für die Aufnahmeprüfung an der Buchmann-Mehta School of Music in Tel Aviv dringend benötigte. Als sie diese bestand, war sie so überrascht, dass sie die Sekretärin bat, doch nochmals nachzufragen, ob dies tatsächlich zutraf. So trat sie ihr Studium an und vervollständigte dann ihre Ausbildung im Meitar-Opernstudio der Israeli Opera mit der Arbeit an interessanten Rollen. Seit 2015 wirkt sie regelmäßig an hochwertigen Produktionen dieses Hauses mit und ich konnte schon einige Videostreams erleben, an denen sie in schönen Rollen wie z. B. als Zerlina in Mozarts „Don Giovanni“ oder als Hermia in Brittens „A Midsummer Night’s Dream“ mitwirkte. Oder als Stéphano in Gounods „Roméo et Juliette“, was sich dann als richtungsweisend für Engagements im deutschsprachigen Raum erwies.
Anat Czarny – „Que fais-tu, blanche tourterelle“, Stéphanos Arie aus Gounods Roméo et Juliette an der Israeli Opera Tel Aviv, April 2016
Bei dieser Gelegenheit erlebte sie der Agent einer ausländischen Kollegin und empfahl sie an das Theater Freiburg, wo die Rolle des Prince Charmant in Jules Massenets „Cendrillon“ zu besetzen war. „They were looking for a French boy“, sagte sie zu mir, und dazu passte wohl auch die Stimme, die äußere Erscheinung und auch die Beherrschung der Sprache so gut, dass man ihr die Rolle gab. Eine Aufführung dieser schönen Produktion von 2017, die auch als DVD erschien, konnte ich auch live erleben und war begeistert, wie bewegend sie die Rolle des schwärmerischen und zartfühlenden Prinzen gestaltete. Es folgte dann Ende 2019 mit dem Siébel in Gounods „Faust“ am Theater St. Gallen ein weiterer „French boy“. Und derzeit stehen am Salzburger Landestheater, diesmal ganz feminin, Auftritte als Dryade in „Ariadne auf Naxos“ auf dem Programm.
Ihr Stammhaus ist weiterhin die Israeli Oper Tel Aviv, wo sie mit ihrem Pioniergeist sehr gut aufgehoben ist. Man geht dort beherzt in die Offensive, um herausragende Produktionen zu realisieren und hat dafür erstklassige eigene Kräfte zur Verfügung. Dabei setzt man nicht so sehr auf tiefgreifende Neudeutungen der Opernstoffe, sondern kommt dem Publikum eher mit schönen Bildern und viel Spielwitz entgegen, so wie etwa in Purcells „Dido and Aeneas“, wo man die unglückliche Königin zu ihrem berühmten Klagelied im Meer versinken lässt.
Dido’s Lament, Anat Czarny, Liveaufnahme an der Israeli Opera, Juni 2018
Auch hierbei bewies Anat Czarny Mut, war sie doch, als diese Aufführung gefilmt wurde, in der 36. Woche schwanger und gebar drei Wochen danach ein gesundes Töchterchen. Doch die Darstellung dieser legendären Mezzosopranpartie wollte sie sich nicht nehmen lassen! Mutig lässt sie sich auch gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Israeli Opera auf Ausflüge in andere Stilrichtungen ein, denn auch ein weniger klassikaffines Publikum verdient es, begeistert zu werden. So bietet man auch gerne Konzertabende mit Musicalmelodien an, wobei mir das Überwiegen hebräischer Texte den Gedanken nahelegt, dass diese Stilrichtung in Israel einen hohen Stellenwert hat. Dass die Solistinnen der Oper auch hierfür über die notwendige Ausstrahlung verfügen, zeigt das hier angeführte Beispiel, dessen Sinn dank der drastischen Darstellung auch ohne Hebräischkenntnisse sehr gut zu verstehen ist.
Die israelische Oper, Goni Cnaani und Anat Czarny: das Streitlied aus dem Musical „König Salomo und Salomo der Schuhmacher“
Was ich hier über Anat Czarny berichte, gilt stellvertretend auch für andere frische, junge Kräfte, die sich an Israels einzigem Opernhaus regen und mit Elan und Vielseitigkeit beeindrucken. Abschließend sei noch erwähnt, dass sie auch mit der Lyrik des klassischen Lieds weitere Pluspunkte sammeln kann, auch wenn dieses Genre in Israel weniger populär zu sein scheint. So wirkt sie vor allem an der Oper, manchmal auch in unseren Breiten, wie derzeit am Salzburger Landestheater als Dryade in „Ariadne auf Naxos“.
André Caplet: Viens! Une flûte invisible soupiere. Anat Czarny, Mezzosopran; Yoel Culiner, Flöte; Ilan Levin, Klavier
Weiterführende Information:
Biografisch sortierte Playlist in Youtube
Lorenz Kerscher, 23. September 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Rising Stars 13: Slávka Zámečníková, Sopran – eine neue slowakische Nachtigall?
Dr.Lorenz Kerscher, Jahrgang 1950, in Penzberg südlich von München lebend, ist von Jugend an Klassikliebhaber und gab das auch während seiner beruflichen Laufbahn als Biochemiker niemals auf. Gerne recherchiert er in den Internetmedien nach unentdeckten Juwelen und wirkt als Wikipedia-Autor an Künstlerporträts mit. Musik ist Beziehungssache, so lautet sein Credo. „Deshalb bin ich auch als Chorsänger aktiv und treffe mich gerne mit Freunden zur Hausmusik. Eine neue Dimension der Gemeinsamkeit eröffnet sich durch die Präsenz vieler, vor allem junger Künstler im Internet, wo man Interessantes über ihre Entwicklung erfährt, Anregungen zur Entdeckung von musikalischem Neuland bekommt und auch in persönlichen Kontakt treten kann. Man ist dann kein Fremder mehr, wenn man ihnen als Autogrammjäger begegnet oder sie sogar bei einem Konzertbesuch im Publikum trifft. Das ist eine schöne Basis, um mit Begeisterung die Karrieren vielversprechender Nachwuchskünstler mitzuerleben und bei Gelegenheit auch durch Publikationen zu unterstützen.“