Foto: © Salzburger Landestheater
Analog zu Hans Sachs aus Richard Wagners „Meistersingern von Nürnberg“ propagiert das Ehepaar Schweitzer in dieser fünfteiligen Serie: „Verachtet mir die Stadt- und Landestheater nicht, und ehrt mir ihre Kunst.“ Das ist auch ihre Schlusspointe und war von Anfang an die Idee der Serie. Der Untertitel „Das Stadttheater Klagenfurt“ gibt zu verstehen, dass hier für die – unschöner Name – „Provinztheater“, die Mehrspartentheater sind, eine Lanze gebrochen wird.
von Lothar und Sylvia Schweitzer
Am Ostermontag 1958 stand ich zum ersten Mal vor dem Theater am Makartplatz, ich war überhaupt zum ersten Mal in der Stadt Salzburg. Neugierig schaute ich auf den Aushang und las mit Erstaunen „La Traviata“ mit Murray Dickie a. G. (als Gast) in der Partie des Alfred (Ich glaube, es wurde noch in deutscher Sprache gesungen). Ich kannte den Sänger von Wien bis jetzt nur dem Namen nach als Pedrillo, Brighella, Jaquino und David. Als knapp vier Monate alter Opernfan, also noch ein Greenhorn, verband ich Salzburg das ganze Jahr mit Festspielen. Das Große Festspielhaus, anfangs Neues Festspielhaus genannt, war noch im Bau. Von einem Festspielhaus, das später immer wieder umbenannt wurde (Altes Festspielhaus, Kleines Festspielhaus, derzeit Haus für Mozart) hatte ich keine Ahnung.
Das Salzburger Landestheater wird zur Festspielzeit für Sprechstücke herangezogen Im Schatten der großen Spielstätten haben wir hier außerhalb der Festspielsaison beachtliche Aufführungen von Oper, Musical und Ballett erlebt und wollen dieses etwa 700 Plätze beherbergende Theater ins Scheinwerferlicht rücken.
Wir beginnen mit unseren Eindrücken in diesem dritten Teil unsrer Serie nicht wie gewohnt in chronologisch aufsteigender Reihenfolge, sondern setzen die letztbesuchte Vorstellung an den Anfang, um dann die Jahre zurück zu gehen.
Eine Hindemith-Oper in einem Landestheater zu bringen ist ein ehrenwertes Unternehmen, dessen Erfolg nicht gesichert ist. Es hat uns am 29. April 2018 in den „Cardillac“ gelockt. Wir kennen drei Produktionen in der Wiener Staatsoper und eine an der Semper-Oper Dresden. Bei den dunklen Stimmen (Cardillac, Goldhändler, Führer der Prévoté) vermissten wir zuerst schmerzlich die Interpreten der beiden großen Häuser. Im Laufe des Abends verbesserte sich der Eindruck beim Goldschmied Cardillac. Das führten wir nicht darauf zurück, dass der Sänger erst verspätet eingesungen war. Wir wurden sensibler im Heraushören von Feinheiten einer Stimme eher kleineren Volumens. Die Tenöre reichten eher an prominentere Besetzungen heran.
Die Sängerinnen waren die Säulen des Ensembles. „Die Dame“ der bayerischen Kammersängerin Frances Pappas mit ihren kräftigen und sicheren Höhen beeindruckte uns mehr als in Wien Olga Bezsmertna. Die von der Denoke im Wiener „Cardillac“ zwar wunderschön gesungene „Tochter“ war den Emotionen des Goldschmiedetöchterchens schon entwachsen.
Wo kann ein Landestheater gegenüber großen Opernhäusern mithalten? Bei den Inszenierungen. Bei der Auswahl der SängerInnen muss ökonomisch vorgegangen werden, aber eine gute Regie ist von StarregisseurInnen unabhängiger. Gute Ideen können allerorts aufblitzen. Jedenfalls rückte Amélie Niermeyer die Tochter Cardillacs, prächtig gesungen von dem neuen Ensemblemitglied Anne-Fleur Werner, mehr in den Mittelpunkt, indem sie fragt, wie verkraftet die Tochter das alles. Und damit hat Niermeyer uns für sich eingenommen.
Auch die Bühnengestaltung von Stefanie Seitz gefiel uns. Es sind zwar keine brandneuen Ideen. Quader mit leuchtenden Kanten sind uns schon von der Fernsehübertragung des Mailänder „Freischütz“ bekannt. Die Köpfe, über die entweder Blut oder flüssiges Gold fließen, mögen an die Schüttbilder eines Hermann Nitsch erinnern, aber sie bleiben passende Metapher. Über Salzburg hinaus bekannt ist das Mozarteum Orchester, das unter Robin Davis einen authentischen Hindemith spielte.
Hugh Loftings Doktor Dolittle-Romane zählten zu den Kultbüchern unsrer Kindheit. Auf dem Gabentisch durfte eines der Bücher nicht fehlen. Wer hegte damals beim Lesen nicht den Wunsch Tierarzt zu werden? Am Abend der Vorstellung des 6. Februar 2018 sahen wir im Foyer wenige Kinder oder Jugendliche, aber viele Erwachsene unseres Alters. Wahrscheinlich haben sie ebenso Kindheitserinnerungen an Dr. Dolittle. Die Art und Weise, wie das Musical aufbereitet war, lässt es auch nicht als Kinder-Musical einstufen.
Die Hintergründe der Romanserie wurden uns erst jetzt bekannt, dass nämlich die Erzählungen ihren Ursprung in Briefen Hugh Loftings von der harten Front des Ersten Weltkriegs an seine Kinder hatten. Es gab damals schon das Rote Kreuz und die Genfer Konvention, aber nicht für die armen Pferde der Kavallerie und der Artillerie.
Genau konnten wir uns an die Inhalte der Bände vor dem Besuch des Musicals nicht mehr erinnern. Ja, da gab es eine schwimmende Insel. Von Derartigem hatten wir beim Lesen das erste Mal gehört. Und dass Schildkröten sehr alt werden.
Schon beim Betreten des Theatersaals wurde der Blick von einem sich drehenden Ellipsoid am Bühnenportal angezogen, das eine alte Grafik eines Globus darstellt. Das Akademische wird durch die seitliche Begrenzung der Bühne mit hoch hinaufgehenden Regalen einer Bibliothek betont. Zu den nettesten Szenen gehört Dr. Dolittles Ordination mit dem Abhören des kugeligen Aquariums mittels eines Stethoskops und die Wunderblumen der Seesterninsel mit der Entdeckung der rosa Riesenschnecke.
Ungeduldig mussten wir bis zum zweiten Akt warten, in dem erst des Doktors Reisen beginnen. Die Seenot wird spannend dargestellt. In den Szenen, die in England spielen, wird das Viktorianische in Stil und Gehaben der Menschen treffend auf die Bühne gebracht. Auch das In-Szene-Setzen von Gerichtsverhandlungen entspricht britischem Geschmack.
Es ist schade, die Musik von Leslie Bricusse hält bei dieser wunderschönen Aufführung nicht mit. Es lag also viel an den Musicalkünstlern, durch ihre Persönlichkeit dieses Manko wettzumachen. Das beginnt schon bei den Führern der Tierfiguren, die selbst in mimischer Harmonie zu ihren von ihnen bewegten Puppen stehen. Leonhard Radauer spielt den Waisenknaben Tommy so natürlich, dass man vergisst, dass hier ein Bub nicht sich gibt, sondern eine Rolle mit Text zu lernen hatte. Lebendig Marc Seitz als Matthew, einprägend forever die Emma der großartigen Julia-Elena Heinrich. Als das Ganze zusammenhaltender Schlussstein der Tenor oder eher hohe Bariton Uwe Kröger in der Titelrolle. Glücklich ist das Landestheater, eine solche Persönlichkeit im Ensemble zu haben! Die musikalische Leitung lag wieder in den Händen des oben gelobten Robin Davis.
Die Uraufführung des Balletts „Mythos Coco“ nach einer Idee von Peter Breuer, der auch selbst choreografierte, war unser schönstes Erlebnis im Landestheater. Wir sahen die Reprise am 8. April 2016. Libretto und Dramaturgie hat Maren Zimmermann beigetragen. Bühne und Kostüme entwarf Bruno Schwengl. Von Eduardo Boechat stammte das Sounddesign und die Arrangements mit Musik von Milhaud, Poulenc, Satie, Schostakowitsch, Scriabin, Strawinsky, Gershwin, Fauré, Honegger bzw. Chansons mit Juliette Greco und Joséphine Baker.
Wir kamen sechs Jahre zuvor in den Genuss einer Führung durch Gabrielle „Coco“ Chanels Wohnung in Paris. Jetzt wurde uns ihr hartes, trotz ihres Ruhms und Erfolgs nicht beneidenswertes Lebensschicksal nahegebracht. Ihr Vater hat sie nach dem Tod ihrer Mutter in ein Waisenhaus gesteckt und ist gegangen. Diese seelische Narbe ist nie verheilt. Zwei große Lieben zu wertvollen Männern (getanzt von Marian Meszaros) enden mit deren frühen, plötzlichen Toden. Misia Sert (getanzt von Cristina Uta), eine gute Freundin, versteht ihr Halt zu geben. Berühmte Künstlerpersönlichkeiten treten in ihrem Leben auf: Salvador Dalí (Iure de Castro), Jean Cocteau (Diego da Cunha), Serge Lifar (José Flaviano de Mesquita Junior), und Igor Strawinsky (Josef Vesely). Die junge Coco verkörperte Liliya Markina, die reifere Gabrielle Chanel Anna Yanchuk. Wir haben nicht geahnt, welch tolles Ballettensemble dieses Haus am Makartplatz birgt.
Die Sissi-Filme (der Drehbuchautor Ernst Marischka schreibt Sisi mit Doppel-s) und die Trapp-Familie sind Exportwaren Österreichs. Wir bevorzugen „The Sound of Music“. Es sollen mehr Touristen wegen „The Sound of Music“ die Stadt Salzburg besuchen kommen als wegen ihres Beinamens „die Mozartstadt“. Sogar in Manila hätten wir eine Produktion mit Filipinos sehen sollen, was sich dann aber zeitlich nicht ausging.
Am 11. November 2015 war es soweit. Das Salzburger Landestheater nahm das Erfolgsmusical (Musik: Richard Rodgers, Gesangstexte: Oscar Hammerstein II, Buch: Howard Lindsay und Russel Crouse) wieder auf. Neben dem treuen ostasiatischen Publikum sah man auch viel Jugend, die Mädchen in kleidsamen Dirndln. Die Wellenlänge zwischen den Darstellern und dem Auditorium war gegeben. Es wurde sogar an bekannten Stellen rhythmisch mitgeklatscht. Die Theaterbesucher waren nicht nur Zuschauer, sie bildeten spürbar eine Einheit mit der Bühne.
Der Kampf Maria Rainers – „weltlich oder geistlich“ – wirkt im Sinne der US-amerikanischen Religiosität nicht antiklerikal. Die Mutter Oberin wird als weise Frau dargestellt, die nicht um jeden Preis für ihren Stand wirbt. Um des dramatischen Effekts willen handelt es sich um dichterische Freiheit, denn unseres Wissens war Maria Rainer gar nicht Novizin, sondern nur als Erzieherin im Kloster tätig.
Wie vorauszusehen wurde mit Mikroports gesungen. KünstlerInnen einer Klasse wie die internationale Dagmar Schellenberger als Mutter Oberin hätten das nicht notwendig, ihre Stimme klang übersteuert. Uwe Kröger als Ritter von Trapp hat den Alterssprung bravourös gemeistert. Die Frage bleibt, ob er in früheren Jahren nicht zu sehr auf Tenor hin ausgebildet wurde. Seine Stimme klang baritonal mit Ausfällen in der Höhe. Die Maria von Milica Jovanovic könnte ruhig noch mehr Pep draufhaben, sie bleibt zu sehr noch die Novizin. Abgesehen davon, dass Frau Schrader wirklich nicht zum Kapitän von Trapp gepasst hätte, Franziska Becker war eine ungemein attraktive Erscheinung (1,78 m!). Einprägend aufgefallen ist uns als Stimmfetischisten Simon Schnorr, der Haus-Don Giovanni, als Max Dettweiler. Seine Namensähnlichkeit mit dem berühmten historischen Sänger Friedrich Schorr erinnert uns an das Sprichwort „nomen est omen“. Die sieben Kinder der Familie, angeführt von Hanna Kastner als der schon jugendlichen Liesl, waren jedes für sich ein Typ (Sebastian Hollinetz, Marianna Herzig, Elias Karl, Christina Rohrer, Mia Katharina Gerl, Helena Stark).
Am 28. September 1991 war auf der ersten Seite des Programmfolders zu lesen:
Ariadne auf Naxos in einem Aufzuge von Hugo von Hofmannsthal
zu spielen nach dem Bürger als Edelmann des Molière
Musik von Richard Strauss op. 60(Urfassung 1911/12)
Das Vorspiel mit dem Komponisten und dem Musiklehrer ist mir abgegangen. Siehe auch in „Klassik begeistert“: Meine Lieblingsoper: Ariadne auf Naxos.
Springen wir in die Achtzigerjahre zurück. Das Landestheater produzierte „Wozzek“ von Alban Berg im damals noch so genannten Kleinen Festspielhaus. Dort hörte ich den besten Hauptmann aller von mir gehörten Aufführungen in Person von Ernst-Dieter Suttheimer, welches Kompliment ich ihm aussprechen konnte, als wir einmal zufällig in der Wiener Staatsoper in der gleichen Loge saßen. Seine Darstellung war wie eine lebendig aus einem Bild heraussteigende Karikatur der neu aufgelegten, politisch-satirischen Zeitschrift „Simplicissimus“ (1954 – 1967).
Im Rahmen der Musiktheater-Werkstatt des Salzburger Landestheaters in Zusammenarbeit mit dem ORF fand im Jahr 1983 die österreichische Erstaufführung der Kammeroper „Der Leuchtturm“ im ORF Landesstudio Salzburg statt. Musik und Libretto von Peter Maxwell Davies. Mit Josef Köstlinger (Tenor), Matteo de Monti (Bariton) und Peter Branoff (Bass) war für den „Opernneuling“ eine repräsentable Besetzung aufgeboten.
Die Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit. Die Besatzung eines Versorgungsschiffs fand auf einer unbewohnten Insel der Äußeren Hebriden keine Spur von den Leuchtturmwärtern vor. Ihr Schicksal konnte nie geklärt werden. Peter Maxwell Davies verarbeitet Gerüchte und Spekulationen, die entstanden waren. Im Prolog stellt ein Horn-Solo im Rahmen einer gerichtlichen Untersuchung wortlos verschiedene Fragen an die drei Offiziere des Schiffs, auf die diese verunsichert mit subjektiven, widersprüchlichen Zeugenaussagen antworten. Im einen Akt treten die gleichen Sänger als die drei Leuchtturmwärter auf. Die Stimmung ist angespannt, mussten sie doch schon längere Zeit auf engem Raum zusammenleben. Aus ihren Erzählungen kommen teilweise die dunklen Seiten ihres früheren Lebens hervor. Jede der Erzählungen wird von individuellen Instrumenten begleitet. Sie erleiden Halluzinationen und sehen in den drei Männern, die zu ihrer Betreuung kommen, das apokalyptische Tier, das getötet werden muss. In diesem Moment verwandeln sich die drei Wärter in die Schiffsoffiziere. War es Notwehr oder hat es sich anders zugetragen?
Zum Schluss zwei Anekdoten, die sich um den „Leuchtturm“ ranken. Der damalige Intendant des Landestheaters und Regisseur der Aufführung Federik Mirdita sprach in einleitenden Worten mit sichtlichem Stolz, dass diese neue Oper über Salzburg hinaus auch bundesweit in den Kulturblättern großes Echo gefunden hätte. Nach der Vorstellung ging ich zu ihm hin und bemerkte, dass sich die Reise von Wien nach Salzburg wirklich gelohnt hätte. Verblüfft hielt er mich für einen meschuggen Enthusiasten.
Nach dem Besuch einer Aufführung vom „Leuchtturm“ im Posthof des Landestheaters Linz ließen meine Frau und ich den spannenden Abend in einem Restaurant ausklingen und sahen hoch erfreut, dass der Nebentisch für Peter Maxwell Davies und die drei Sänger reserviert war. Als diese erschienen, hatte der Kellner kaum mehr einen Blick für uns.
Lothar und Sylvia Schweitzer, 12. August 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“