Wiener Staatsoper: Eine "Carmen" mit Kraft

Vorbericht Carmen (21.2.2021.), Wiener Staatsoper

Vorbericht Carmen (21.2.2021.), Wiener Staatsoper

© Werner Kmetitsch: Andrés Orozco-Estrada

Am kommenden Sonntag, 21. Februar 2021, ist es soweit. Andrés Orozco-Estrada, 43, feiert sein Debüt am Pult der Wiener Staatsoper. Auf dem Programm: „Carmen“ von Georges Bizet. Zurzeit, wie könnte es anders sein, natürlich ohne Live-Publikum. Stattdessen zeigt der ORF den Live-Stream zeitversetzt am 21. Februar, ab 20:15 Uhr. Die Streaming-Plattform der Wiener Staatsoper überträgt live ab 18:00 Uhr.

von Jürgen Pathy

Eigentlich hätte die Premiere am 7. Februar stattfinden sollen. Wegen mehrerer positiver Covid-19 Testergebnisse wurde sie verschoben. Somit wird es mehrere Hausdebüts etwas verspätet geben. Nicht nur Andrés Orozco-Estrada wird zum ersten Mal an der Wiener Staatsoper zu hören sein, mit der Premiere von „Carmen“ ist auch zum ersten Mal eine Regie-Arbeit von Calixto Bieito im Haus zu sehen. Als eine von zehn angesetzten Premieren, die diese Saison über die Bühnen laufen sollen. Alle vier, die bislang angesetzt waren, konnte Bogdan Roščić, der die Wiener Staatsoper seit dieser Saison leitet, umsetzen. Trotz Corona, trotz der Schließung des Hauses. Mit „Carmen“ folgt nun der fünfte Streich. Wie der Großteil zuvor, zwar auch nur via Stream und TV-Übertragung, aber immerhin.

Andrés Orozco-Estrada freut es dennoch. Der gebürtige Kolumbianer, der in Wien wohnt, weiß zwar, dass es viele Vergleichsaufnahmen gibt, nimmt die Sache aber locker. Auf die Frage, ob das nicht unheimlich viel Druck sei, erwidert er im Ö1-Gespräch: „Vielleicht – ich weiß es nicht. Man versucht es einfach besser zu machen.“

Das Positive an der Pandemie

Zur Vorbereitung hatte Orozco-Estrada genügend Zeit. Die Pandemie, erzählt er, habe auch positive Aspekte: „Ich war noch nie so lange zu Hause wie jetzt.“ Normalerweise pendelt er regelmäßig zwischen Frankfurt, Texas und Wien. Der Grund: Als gefragter Konzertdirigent leitet Orozco-Estrada, der bereits mit 14 Jahren zum ersten Mal ein Schulorchester dirigierte, mehrere renommierte Orchester.

Seit 2014 ist er Chefdirigent des Houston Symphony Orchestra. Ebenfalls seit 2014 hat er die Leitung des hr-Sinfonieorchester inne. Und als wäre all das nicht schon genug, leitet er seit Anfang der Saison 2020/21 auch noch die Wiener Symphoniker. Weshalb? Vermutlich, weil er Musik immer schon als Spaß empfunden hat: „Schon als Kind war die Musik immer organisch da, ganz selbstverständlich.“

Aufgewachsen in Medellín, bei seiner alleinerziehenden Mutter, besuchte er eine kleine Klasse, die maximal 8 Schüler fasste. Der Unterricht war ganz ungezwungen. Neben der Musik habe er auch Fußball gespielt, wie er erzählt, und vor allem eines gespürt: „Dass Musik immer wichtig war, wichtiger als Mathematik oder anderes.“ Von klein auf ist er mit der europäischen Klassik groß geworden. Selbst in der kolumbianischen Musik gäbe es eine Menge Wiener Walzer, sagt er: „Melodik und Harmonik sind natürlich anders, aber der Grundrhythmus ist derselbe.“

Andrés Orozco-Estrada: eine Karriere wie im Bilderbuch

Nach Wien, wo er gemeinsam mit seiner Frau lebt, hat es ihn bereits früh verschlagen. 1997, als neunzehnjähriger, zieht er in die Musikhauptstadt. Studium bei Uroš Lajovic, einem Schüler des legendären Hans Swarowsky. Am 5. Juni 2003 gibt er sein Abschlusskonzert. Nicht irgendwo, sondern im Wiener Musikverein. Einem Ort, an den er große Erinnerungen pflegt. Dort hatte er, kurz nachdem er in Wien angekommen war, vom Stehplatz aus Claudio Abbado und die Berliner Philharmoniker mit Brahms Zweiter erlebt. „Die Magie war so unglaublich, dass ich zu Tränen gerührt war“, schildert er dieses Erlebnis. Nicht minder beeindruckt hat ihn auch sein Abschlusskonzert, bei dem er das ORF Radio-Symphonieorchester Wien dirigiert: „Ich ging runter auf eins – und es kam nichts.“

Wie einige große Orchester, zumindest in Deutschland und Österreich, reagiert auch das ORF Radio-Symphonieorchester Wien nicht direkt nach dem Schlag, sondern einen Tick später. Orozco-Estrada konnte es kaum fassen. „Ich habe mich immer gefragt, ob das nötig ist, wer das erfunden hat“, wundert sich Orozco-Estrada – aber das sei ein anderes Thema.

Foto: Andrés Orozco-Estrada ©  Werner Kmetitsch

Mittlerweile hat er sich daran gewöhnt. Nachdem er 2004 kurzfristig bei einem Konzert der Wiener Festwochen beim Tonkünstler-Orchester einspringt, schreibt der Standard vom „Wunder von Wien“. Von da an verläuft seine Karriere steil bergauf. Es folgt eine enge Zusammenarbeit mit den Tonkünstlern und mit der Saison 2009/10 übernimmt er deren Chefposten. 2010 springt er bei den Wiener Philharmonikern ein, mit denen er später noch öfters zusammenarbeitet.

Eine Erfahrung, die ihm nun bei seinem Debüt in der Wiener Staatsoper ebenfalls zugute kommen dürfte. Immerhin setzt sich ein Großteil des Wiener Staatsopernorchesters aus den Wiener Philharmonikern zusammen, die gespickt sind mit außergewöhnlichen aber ebenso emanzipierten Musikern. Eine Aufgabe, der nicht jeder Dirigent gewachsen ist.

Carmen an der Wiener Staatsoper

Mit „Carmen“ betritt Orozco-Estrada so gut wie Neuland. Zwar hat er als blutjunger Assistent in Kolumbien bereits an einer Neuproduktion mitgearbeitet, komplett dirigiert hat er Bizets Opéra-comique aber noch nicht – obwohl er kurz davor stand. Letzte Saison hätte er die Oper in Amsterdam leiten soll. Corona hat die Gelegenheit zunichte gemacht. Auf ein wenig Erfahrung kann er dennoch zurückgreifen. „Natürlich habe ich als Dirigent in vielen Konzerten Ausschnitte aus der Oper, Arien und Bearbeitungen geleitet, aber das waren alles eher zufällige Begegnungen“, ist in einem Interview in der neuen Ausgabe des Staatsopernmagazins „Opernring Zwei“ zu lesen.

Foto: Sie sind von der Umbesetzung nicht betroffen: Anita Rachvelishvili und Piotr Beczała in „Carmen“© Michael Pöhn / Wiener Staatsoper

Außerdem hatte er viel Zeit, um den Stoff tiefergehend zu erkunden. Dazu hört er sich im Vorfeld grundsätzlich ganz bewusst unterschiedliche Aufnahmen an. Im Ö1-Gespräch, das im Studio des Funkhauses in Wien aufgezeichnet wurde, wünscht er sich drei Aufnahmen, aus denen vorgespielt wird. Erstens das London Symphony Orchestra unter der Leitung von Claudio Abbado (1977). Zweitens die Berliner Philharmoniker unter Sir Simon Rattle (2012). Und drittens eine Aufnahme, die aus der Wiener Staatsoper (1978) stammt – am Pult: Carlos Kleiber.

Von Kleibers Aufnahme lässt er sich auch die Ouvertüre vorspielen. Nicht, weil sie unbedingt die Beste sei, sondern „weil ich sie bislang nicht gehört habe“, wie er sagt. Kein Wunder, ist diese doch nie offiziell auf Tonträger erschienen.

Ob das Hören anderer Aufnahmen nicht zu viel Einfluss auf seine Interpretationen nehme, wird er wiederum im Interview von Staatsoperndramaturg Oliver Lang gefragt: „Solange es zur Wahrnehmung der musikalischen Umgebung und Inspiration dient, ist das nicht schlimm. Wenn es mir authentisch und wahr erscheint, eine Stelle so oder so zu dirigieren, dann mache ich es. Egal, ob das schon einmal jemand vor mir gemacht hat oder nicht.“

Seine „Carmen“ in Wien wird viel Kraft haben. Davon ist Orozco-Estrada überzeugt. „Von der Bühne, vom Orchester, vom Chor und von den Sängern her“, sagt er. Dazu stehen ihm auch einige Größen des Geschäfts zur Verfügung: Anita Rachvelishvili singt die Titelpartie, KS Piotr Beczała den Don José und Erwin Schrott den Escamillo. Erwähnenswert auch andere Sänger, wie zum Beispiel das junge Ensemblemitglied Peter Kellner als Zuniga.

Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 18. Februar 2021, für
klassik-begeister.de und klassik-begeistert.at

2 Gedanken zu „Vorbericht Carmen (21.2.2021.), Wiener Staatsoper“

  1. Diese Neuproduktion von Bizets „Carmen“ an der Wiener Staatsoper war zwar musikalisch großartig gelungen, aber szenisch eine einzige Katastrophe! Hinhören ist daher besser als hinschauen! In der Schule würde man diese hässliche, brutale und ordinäre Interpretation als völlige „Themenverfehlung“ klassifizieren!

    Magister Herbert Michael Burggasser

  2. Wir kommen aus dem musikalischen Leben, die Inszenierung war hoch-spannend. Ausgezeichnete Sänger/innen. Emotional sehr bewegend passend zur Musik und Text. P. Beszala hervorragend!!! Michaela bezaubernd. Carmen schöne dramatische Stimme. Alle Mitwirkenden schön im Spiel.

    Sigrid Fentzahn

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