Gustav Mahlers „Dritte Sinfonie“: John Neumeiers Choreografie ist und bleibt ein zeitloses Juwel der Ballettgeschichte

Hamburg Ballett, Dritte Symphonie von Gustav Mahler  Staatsoper Hamburg, 19. September 2022

Foto: Voigt-Komponierhäuschen Steinbach Attersee

Staatsoper Hamburg, 19. September 2022

John Neumeier: „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“
Hamburg Ballett, Wiederaufnahme

von Dr. Holger Voigt

Ein Blick in die Vergangenheit ist ein Blick in die Zukunft der Gegenwart:  Die Choreografie John Neumeiers zu Gustav Mahlers allegorischer Dritter Sinfonie ist nunmehr fast ein halbes Jahrhundert alt und wirkt jung und vital wie eh und jeh.

Mit diesem „sinfonischen Ballett“ kreierte der mittlerweile 83-jährige Ballettintendant einen Meilenstein der Ballettgeschichte und legte ein unübersehbares Fundament für seine bis heute anhaltendende beispiellose Karriere als kreativer Ballettdirektor und künstlerischer Schöpfer ingeniöser Werke, deren Fülle und Inspirationsreichtum  kaum noch zu überblicken ist.

Zu Beginn seiner 50., nunmehr letzten Spielzeit wollte John Neumeier den historischen Bogen zu seinen Anfängen in Hamburg schlagen und plante dafür die Wiederaufnahme des am 14. Juni 1975 uraufgeführten Werkes, dessen Erfolg mit weltweit fast 200 Aufführungen als legendär bezeichnet werden kann. Mit dem Ballett „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ löste John Neumeier, von August Everding an die Hamburgische Staatsoper verpflichtet, in den Siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts einen wahren Ballett-Boom aus und gewann ein ihm bis heute treues Stammpublikum, dessen Begeisterungsfähigkeit über Jahrzehnte unverbrüchlich anhält. Aufführungen des Hamburg-Ballett sowie die von John Neumeier eingeführten „Ballett-Werkstatt“-Veranstaltungen sind heute in aller Regel monatelang im Voraus ausverkauft. An Karten für seine alljährliche „Nijinsky-Gala“ heranzukommen trägt geradezu Bayreuther Züge.

Für mich persönlich begann mit dieser Ballett-Choreografie meine große Liebe und Begeisterung für das moderne Ballett der Gegenwart – und so dürfte es vielen anderen Besuchern auch gegangen sein, die sich mittlerweile fast wie eine „Ballett-Gemeinde“ fühlen können.

Gleichwohl ist es aber wichtig darauf hinzuweisen, dass der bis dato inhaltlich rätselhafte Begriff eines „sinfonischen“ Balletts keine deskriptive Beliebigkeit darstellt – also keinesfalls eine Art „Ballett mit Musikuntermalung“ bedeutet – das gab es bei abendfüllenden Handlungsballetten ja auch. Vielmehr war eine eigenständige Ballettkunstform gemeint, die ihre emotionale Sogwirkung aus der Musik selbst bezieht, die sich in choreografischen Ausdruck und Bewegungsbildern erweitert und verdichtet. Musik und Choreografie bedingen und ergänzen einander: Das Eine ist ohne das Andere nicht vorstellbar.

Wenn die Musik eine dergestaltige Bedeutung hat, ist verständlich, dass eine vorangehende Befassung mit der Musik die Voraussetzung dafür ist, ein „sinfonische Ballett“ mit emotionaler Perzeption erleben zu können. Die Musik spricht die Seele direkt an und lässt in ihrer Resonanz im Betrachter choreografische Bilder des Balletts erst entstehen. Genau das hat John Neumeier immer wieder ausgeführt: Es geht nicht darum, der Choreografie ein „Erklärgerüst“ hinzuzufügen, das als eine Art Leitfaden aufgefasst werden könnte und dem Betrachter Deutungen vermitteln soll. Vielmehr weist Neumeier darauf hin, dass die Choreografie der Dritten Sinfonie seine persönliche emotionale Resonanz widerspiegelt, die in ihm beim Hören der Musik als choreografische Bild- und Bewegungssprache entsteht. Da bei jedem Menschen individuell andere Bilder aufsteigen, ist es jedem Betrachter überlassen, sich für sich selbst auf Spurensuche zu begeben.

Dem steht nicht entgegen, dass Gustav Mahler in seiner musikalischen Werkvorlage der Sinfonie selbst eine Orientierungshilfe zur Verfügung gestellt hat, in der er in der Satzabfolge (er spricht von „Abteilungen“) den einzelnen Abschnitten hinweisgebende Titel gegeben hat, (Gestern: I. Pan erwacht. Der Sommer marschiert ein, Sommer: II. Was mir die Blumen erzählen, Herbst: III. Was mir die Tiere erzählen, Nacht: IV. Was mir die Menschen erzählen, Engel: V. Was mir die Engel erzählen, VI. Was mir die Liebe erzählt.), die er als assoziative Hinweise verstehen lassen wollte. Im Ballett ist es aber nach Neumeiers Einlassungen so, dass sich der Zuschauer der Musik öffnen und selbst herausfinden möge, welche Wirkung Musik und Tanz bei ihm entstehen lässt.

Gustav Mahler legt die Dritte Sinfonie als großes Naturgemälde an. Kein Wunder, denn die Sinfonie entstand zwischen 1893 und 1896 in seinem abgeschiedenen „Komponierhäuschen“ am österreichischen Attersee inmitten einer beeindruckende Naturkulisse. Legendär Mahlers Hinweis, als der Dirigent, Pianist und Komponist Bruno Walter ihn dort besuchte und noch am Schiffsanleger seinen Blick die Berghänge hinaufgleiten ließ, was Mahler mit der Bemerkung replizierte, er möge sich darüber keine Sorgen machen – das habe er schon alles wegkomponiert. Die Unmittelbarkeit der Naturgewalten ist in der Tat dort unvermittelt spürbar, wie ich selbst anläßlich zweier Besuche erleben konnte (der Gasthof der Familie Föttinger, in dem Gustav Mahler eingemietet war, existiert noch heute, und das Komponierhäuschen steht noch immer an Ort und Stelle).

Angesichts der unmittelbaren und oft bedrohlich wirkenden Natur – die Schönes und Schreckliches hervorbringen kann – findet sich in Mahlers Sinfonie der Mensch nur in Form eines naiv-unschuldigen, geradezu „Parsifal-esken“ Betrachters: Alles wird erstmals erlebt, kaum verstanden und doch bewundert (…„was mir die Liebe erzählt“): Der Mensch ist kleiner als das Ganze – und so singt die Alt- oder Mezzosopranstimme den mahnenden Klagehinweis „O Mensch! Gib Acht!“ (nach Friedrich Nietzsche), am heutigen Ballettabend mit hinreißend melancholischer Stimmfarbe von der Mezzosopranistin Katja Pieweck vorgetragen.

Das nachfolgende, nur scheinbar fröhliche „Bimm! Bamm!“ eines Knaben- und Frauenchors – Damenchor der Hamburgischen Staatsoper (Leitung: Eberhard Friedrich), Hamburger Knabenchor  (Leitung: Louis de Godoy) – mahnt erneut und wandelt sorgenvolle Erwartung in eine friedvolle, zutiefst harmonische sinfonische Klangwelt von betörender Schönheit, die sich in majestätischer Expression zum Finale der Sinfonie verstärkt, dabei atemberaubende Hebefiguren der Tänzerinnen und Tänzer entstehen lässt, die Musik und Bewegung verschmelzen lassen. Schade, dass das Philharmonische Staatsorchester an diesem Abend nur mit einer einzigen Pauke ausgestattet war! Die sehr Horn-sensible Sinfonie zeigte in der Tat einige leichtere Wackler, die aber den durchweg hochklassigen Gesamteindruck des Orchesters kaum trübten. Dass der Schlußakkord länger durchgehalten wurde, als oft gespielt, unterstrich die durchaus dramatisch wirkende sinfonische Schlußgeste des Werkes. Insgesamt ein sehr gutes Dirigat des finnischen Maestro Markus Lehtinen.

Anläßlich einer Wiederaufnahme ist es gut, sich in Dankbarkeit an die Tänzerinnen und Tänzer „der ersten Stunde“ zu erinnern: Mariana Eglevsky, Marianne Kruuse, Magalie Messac, Zhandra Rodriguez, Persephone Samaropoulo, Salvatore Aiello, Truman Finney, François Klaus, Tomislav Vukovic.

Das heutige Hamburg Ballett zeigt im stetigen Generationswandel zahlreiche neue Gesichter, was pure Freude auslöst, denn damit ist die Zukunft vorgegeben. Viele hochklassige Solistinnen und Solisten sind auf dem Zenit ihres Leistungsvermögen angekommen und bezaubern Mal um Mal mit ausdrucksstarken Darbietungen. Dazu gehören natürlich der brilliante Edvin Revazov, Karen Azatyan, Jacopo Bellussi, Christoper Evans, Alessandro Frola und Félix Paquet (I. Gestern).

Atemberaubend, welche „Menschenknäuel“ John Neumeier auf die Bühne stellt, die sich in Windeseile auflösen oder plastisch umformieren. Manchmal weiss man nicht, wie sie sich überhaupt hatten entwickeln können.

Unter vielen fesselnden Eindrücken sind es doch die eher zurückgenommenen, lyrischen Partien, die im Gedächtnis bleiben. Dieses trifft insbesondere auf die letzten drei Abschnitte zu (IV. Nacht, V. Engel, VI. Was mir die Liebe erzählt). Der Abschnitt IV. Nacht ist dem Andenken des Stuttgarter Ballettdirektors John Cranko gewidmet. Anna Laudere, Jacopo Bellussi und Edvin Revazov erschaffen dabei eine beispiellos innige emotionale Verdichtung, bevor im Schlußbild VI. Was mir die Liebe erzählt die ehemalige Primaballerina des Bolschoi-Theaters Moskau, Olga Smirnova, ihren bewegenden Auftritt voller anmutiger Zerbrechlichkeit  hat. Sie hatte sich jüngst entschlossen, ihr Land und damit auch das Bolschoi aus aktuellen politischen Gründen zu verlassen und trat nun als Gastsolistin des Hamburg Balletts auf. Sie möchte man in Hamburg immer wieder sehen.

Frenetischer Beifall und stehende Ovationen für alle Mitwirkenden beendeten einen grandiosen Ballettabend, der Vergangenheit und Zukunft bravourös miteinander verknüpfte.

Dr. Holger Voigt, 22. September 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Besetzung:

Wiederaufnahme
Dritte Sinfonie von Gustav Mahler
Ballett von John Neumeier

Musik: Gustav Mahler
Kostume und Lichtkonzept: John Neumeier
Musikalische Leitung: Markus Lehtinen

Mezzosopran: Katja Pieweck
Damencher der Hamburgischen Staatsoper, Leitung: Eberhard Friedrich
Hamburger Knabencher, Leitung: Louis de Godoy
Hamburg Ballett

I. Gestern

Edvin Revazov, Karen Azatyan, Jacopo Bellussi, Christopher Evans, Alessandro Frola, Félix Paquet, Gabriel Barbosa, Borja Bermudez, Lasse Caballero, Francesco Cortese, Lennard Giesenberg, Nicolas Glasmann, Louis Haslach, Maria Huguet, Alfie McPherson, Javier Monreal, Louis Musin,  Matias Oberlin, Florian Pol, Pablo Polo, Artem Prokopchuk, David Rodriguez,  Torben Seguim, Emiliano Torres, Ricardo Urbina, Eliot Worrell, Illia Zakrevsky

II. Sommer

Ida Praetorius, Christopher Evans, Madoka Sugai, Alessandro Frola, Olivia Betteridge, Viktoria Bodahl, Paula Iniesta, Greta Jörgens, Charlotte Larzelere, Alice Mazzasette, Hayley Page, Madeleine Skippen, Priscilla Tselikova

III. Herbst

Xue Lin, Félix Paquet, Yun-Su Park, Florian Pohl, Emilie Mazoń, David Rodriguez, Ida Stempelmann, Yaiza Coll, Lizhong Wang, Giorgia Giani, Marià Huguet, Anna Torrequebrada, Emiliano Torres, Ghanima Choffat, Justine Cramer, Anita Ferreira, Carolin Inhoffen, Alice Mazzasette, Amelia Menzies, Hermine Sutra Fourcade, Lin Zhang, Borja Bermudez, Lasse Caballero, Lennard Giesenberg, Nicolas Glasmann, Louis Haslach, Ricardo Urbina, Eliot Worrell, Illia Zakrevsky

IV. Nacht

Anna Laudere, Jacopo Bellussi, Edvin Revazov

V. Engel
Olga Smirnova a.G.

VI. Was mir die Liebe erzählt
Olga Smirnova, Edvin Revazov

Das Hamburg Ballett tanzt Gustav Mahlers Dritte Sinfonie Hamburgische Staatsoper, 20. September 2022

„Tanzfeuerwerk“ von John Neumeier und dem Hamburg Ballett Hamburger Rathausmarkt Open-Air-Veranstaltung am 3. September 2022

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