Sommereggers Klassikwelt 42: Evelyn Lear, meine erste Lulu

Sommereggers Klassikwelt 42: Evelyn Lear, meine erste Lulu

„Dass diese von Otto Schenk inszenierte Produktion zum Sensationserfolg wurde, war bestimmt nicht zum kleinsten Teil der sängerischen und darstellerischen Leistung Evelyn Lears geschuldet. Die Aufführung war Stadtgespräch, ich konnte gerade noch eine auch für einen Schüler erschwingliche Karte ergattern.“

von Peter Sommeregger

An diesem 1. Juli sind es bereits acht Jahre, dass die große Sängerin Evelyn Lear gestorben ist. Wenn ich ihrer gedenke, steigen wieder Erinnerungen an meine frühen Opernerlebnisse der 1960er Jahre auf. Dass diese Erinnerungen noch so leicht abrufbar sind, hat sicher auch mit den damals noch viel ausgeprägteren Persönlichkeiten und Eigenheiten der Künstler zu tun. Perfekt war auch damals nicht alles, aber man liebte manche Künstler vielleicht gerade wegen bestimmter Eigenheiten. Der heute vorherrschende Trend zur Selbstoptimierung und Perfektionierung hat Individualität weitgehend ausgemerzt.

Eine kleine Sensation löste 1962 in Wien die österreichische Erstaufführung von Alban Bergs unvollendeter Oper Lulu aus. Die Staatsoper hatte sich bis dahin noch nicht an das immens schwierige Werk gewagt, obwohl Bergs erste Oper Wozzeck ab 1955 dort regelmäßig und erfolgreich gespielt wurde. Für die Erstaufführung der Lulu wählte man das Theater an der Wien, wo Karl Böhm mit den Wiener Symphonikern eine Aufführungsserie dirigierte.

Für die männlichen Hauptrollen konnte man den bewährten Paul Schöffler als Dr. Schön, und Rudolf Schock als dessen Sohn Alwa gewinnen. Als Lulu wählte Böhm die bis dahin in Wien völlig unbekannte Amerikanerin Evelyn Lear, die er wohl von seiner Tätigkeit an der Deutschen Oper Berlin her kannte, Lear war dort in ihrem ersten europäischen Engagement.

Die 1926 in Brooklyn geborene Tochter russisch-jüdischer Einwanderer hatte zuerst an der Juillard-School of Music studiert, später ihre Studien an der Musikhochschule Berlin fortgesetzt. Dass diese von Otto Schenk inszenierte Produktion zum Sensationserfolg wurde, war bestimmt nicht zum kleinsten Teil der sängerischen und darstellerischen Leistung Evelyn Lears geschuldet. Die Aufführung war Stadtgespräch, ich konnte gerade noch eine auch für einen Schüler erschwingliche Karte ergattern.

Die Wiener Staatsoper reagierte schnell, bereits im Mai 1962 hatte Lear als Fiordiligi im Haus am Ring debütiert, im Oktober trat sie als Octavian und als Komponist in Ariadne auf Naxos auf, Eine dieser Ariadne-Aufführungen erlebte ich vom Galerie-Stehplatz. Leider wurde Evelyn Lear an der Wiener Oper nicht dauerhaft heimisch, sie trat hier noch bis 1971 auf, am häufigsten als Cherubino in Figaros Hochzeit.

Schallplattengeschichte schrieb sie als Marie im Wozzeck und als Lulu unter Karl Böhm bei den ersten Stereo-Einspielungen dieser Opern. Ich erinnere mich noch gut an die feierliche Präsentation der Wozzeck-Aufnahme in den Räumen der Österreichischen Gesellschaft für Literatur. Das Masterband der Aufnahme wurde auf einem für damalige Verhältnisse geradezu futuristischem Gerät abgespielt, unter den Gästen der Veranstaltung befand sich auch Bergs Witwe Helene, die einen sichtlich gerührten Eindruck machte.

Erst 50 Jahre nach der denkwürdigen Lulu-Aufführung wurde diese 2013 auf DVD veröffentlicht. Auch beim Wiedersehen nach so langer Zeit hat die Produktion nichts von ihrer Faszination verloren.

Verheiratet war Evelyn Lear seit 1955 mit dem Bassbariton Thomas Stewart, der wie seine Frau an der Deutschen Oper Berlin sein erstes europäisches Engagement hatte . Es war die sympathische Eigenheit dieses Künstlerehepaares, jeweils dem erfolgreicheren den Vortritt zu lassen. Während Lears Karriere in den 1970er Jahren allmählich stagnierte, konnte Stewart speziell im Wagner-Fach eine große internationale Karriere beginnen, speziell bei den Bayreuther Festspielen konnte er wahre Triumphe feiern.

Nach dem Rückzug von der Bühne zog das Ehepaar zurück in die Vereinigten Staaten, lebte zuletzt in Maryland. Stewart starb 2006 an einem Herzinfarkt, der ihn beim Golfspiel ereilte. Evelyn Lear lebte zuletzt in einem Pflegeheim, wo sie am 1. Juli 2012 mit 86 Jahren starb.

Thomas Stewart ist vor allem in seinen Wagner-Partien reichlich auf Ton-und Bildträgern dokumentiert, Evelyn Lear neben den beiden Berg-Opern und Böhms Zauberflöte mit Wunderlich auf diversen Lieder- und Arienaufnahmen, auch eine Duett-Platte hat das Ehepaar eingespielt. In einer Rosenkavalier-Einspielung unter Edo de Waart verkörpert Lear die Marschallin, aber Lears Stärke lag auch im Spiel, Tonaufnahmen geben ihre Persönlichkeit nur eingeschränkt wieder.

Peter Sommeregger, 29. Juni 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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Peter Sommeregger

Der gebürtige Wiener Peter Sommeregger (Jahrgang 1946) besuchte das Humanistische Gymnasium. Er wuchs im 9. Gemeindebezirk auf, ganz in der Nähe von Franz Schuberts Geburtshaus. Schon vor der Einschulung verzauberte ihn an der Wiener Staatsoper Mozarts „Zauberflöte“ und Webers „Freischütz“ – die Oper wurde die Liebe seines Lebens. Mit 19 Jahren zog der gelernte Buchhändler nach München, auch dort wieder Oper, Konzert und wieder Oper. Peter kennt alle wichtigen Spielstätten wie die in Paris, Barcelona, Madrid, Verona, Wien und die New Yorker Met. Er hat alles singen und dirigieren gehört, was Rang und Namen hatte und hat – von Maria Callas und Herbert von Karajan bis zu Ricardo Muti und Anna Netrebko. Seit 25 Jahren lebt Peter in Berlin-Weißensee – in der Hauptstadt gibt es ja gleich drei Opernhäuser, die er auch kritisch rezensiert: u.a. für das Magazin ORPHEUS – Oper und mehr. Buchveröffentlichungen: „‘Wir Künstler sind andere Naturen.‘ Das Leben der Sächsischen Hofopernsängerin Margarethe Siems“ und „Die drei Leben der Jetty Treffz – der ersten Frau des Walzerkönigs“. Peter ist seit 2018 Autor bei klassik-begeistert.de.

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