Foto: Gré Brouwenstijn (1968) © Ron Kroon / Anefo / CC BY-SA 3.0 NL (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/nl/deed.en)
„Halte ich heute diese alte Schallplatte, die ich mangels eines Plattenspielers derzeit nicht zum Leben erwecken kann, in den Händen, so höre ich unwillkürlich Stimmen, die nicht aus meiner Erinnerung weichen. Da klingen der dunkel timbrierte Sopran der Brouwenstijn und ein heller Sopran (Dodi Protero), wie das sprichwörtliche Licht am Ende des Tunnels.“
von Lothar Schweitzer
Jeden Monatsanfang ging ich als Fünfzehnjähriger nach Erhalt des Taschengelds in ein Schallplattengeschäft, um mir eine LP auszusuchen. In der Regel waren es Opernquerschnitte. Warum ich gerade diese mir noch unbekannte Oper ausgesucht habe, ist mir heute ein Rätsel. Das düster gehaltene Layout zeigt das Schwarzweiß-Foto eines nicht gerade attraktiven Gebirgsdorfs. Der Rand des Umschlags ist in nicht sehr farbenfrohem Violett gehalten. Die Besetzung ist schwarz auf ebenfalls violettem Hintergrund aufgedruckt, Namen, die mir damals nichts bedeuteten. Ausnahme allein Paul Schöffler, den ich Monate zuvor an der Wiener Staatsoper in der Titelpartie von Hindemiths „Mathis der Maler“ gehört hatte und dessen Timbre mir trotz Höhenschwierigkeiten an dem Abend ausnehmend gut gefiel. Vielleicht war Schöffler der Grund meiner Wahl.
Nach der Lektüre vieler Rezensionen gewann ich später den Eindruck, dass diese Oper Eugen d’Alberts bei den Journalisten nicht sehr beliebt ist. Im Gegensatz dazu trifft man immer wieder bei den Aufführungen auf „Tiefland“-Fans, die sich brüsten, beispielsweise zum 38. Mal dieses Werk zu sehen.
Eine interessante Erfahrung konnte ich einmal machen. Unruhige Zehn- bis Zwölfjährige, wahrscheinlich mit Schülerabonnementkarten, ließen einen nicht störungsfreien Opernabend befürchten. Doch mucksmäuschenstill und immer gebannter verfolgten sie mit der Zeit das Bühnengeschehen.
Gré Brouwenstijn singt eine der Partie entsprechend dunkel getönte Marta. Ihr „Ja, ja, ich bin bereit“ (zu einer Scheinehe mit Pedro), ihrem Stiefvater und Liebhaber noch total hörig, ist unübertreffbar. Diese Szene vor der Hochzeit mit Pedro im Mittelteil der Oper ist musikalisch und dramatisch der Höhepunkt, an den der zweite Akt und das Finale nicht heranreichen. Wir befinden uns noch vor der Möglichkeit digitaler optischer Datenspeicherung. Wenn Marta sich an Sebastiano wendet und singt: „Schau her, ein unschuldiges Kind war auch ich einmal. So kam ich her in diese Mühle.“, gehört die Gestik dazu, dass Marta Nuri vor sich ihrem Herrn gegenüberstellt.
Martas ihr nahestehende, naive Magd Nuri, gesungen von Dodi Protero, fällt rein akustisch als zweite bedeutende weibliche Partie auf, wird aber im Unterschied zur Brouwenstijn in meiner Erinnerung durch die späteren Live-Opernerlebnisse mit einer Ina Dressel (Wiener Volksoper) und einer Annelies Hückl (Tiroler Landestheater) überdeckt. Wenn die Aufnahme nach dem Vorspiel erst die vierte Szene im ersten Akt auswählt, fehlt die mit nahezu religiöser Inbrunst vorgetragene Erzählung Nuris, wie der alte, noch gutgläubige Tommaso auf Feld, Wald und die Häuser mit den Menschen weist und ihr erklärt, das alles gehöre dem Herrn Sebastiano. Nuri fragt, wie es dann sein könnte, dass sie den Herrn zu Marta sagen hörte: „Ich bin dein.“
Hans Hopf singt einen passend heldentenoralen Hirten Pedro. Sein Abschied von den Bergen ist ein vorweggenommener Höhepunkt, an welche die „Wolfserzählung“ vom siegreichen Kampf gegen den Wolf und Pedros Belohnung dafür von der Komposition her an Dramatik nicht mehr herankommt. Als knapp erst „einjähriger“ Opernfan bekam ich durch die Aufnahme gezeigt, dass die Stimmlage Tenor durch verschiedene Typen bereichert wird. So lässt Waldemar Kmentt mit schöner lyrischer Stimme den ängstlichen, zaudernden und nicht draufgängerischen Charakter des Hirten Nando erkennen. Wenn Pedro in seinem Abschied von den Bergen ihn mahnt: „Nimm vor dem Wolfe dich in Acht“, zweifelt man, ob Nando seine ihm anvertraute Herde wird schützen können.
Bei Paul Schöffler muss man sein schönes Timbre von der Rollengestaltung abstrahieren. Man bekommt vom Herrn Sebastiano einen um eine Nuance zu altväterlichen Eindruck. In der schon begeistert oben erwähnten Szene vor der Hochzeit singt der Bassbariton Schöffler in hoher Lage, sehr lyrisch: „Heut nacht noch komm ich zu dir. Siehst du in deiner Kammer Licht, so weißt du, ich bin es.“
Oskar Czerwenka (Tommaso) hat wie Paul Schöffler eine unverwechselbare Klangfarbe in der Stimme. Wenn Sebastiano mit dem Gemeindeältesten zum Gespräch mit Pedro auf die Alm kommt, ist zuerst Tommaso ganz still und hört nur zu. Bis er ganz ruhig beginnt: „Ich wohne viele Meilen weit dort über dem Gebirge.“ Er versucht mit seiner Autorität den Hirten Pedro zur Übernahme der Mühle, zum Verlassen der Berge und zu einer Hochzeit zu bewegen. „Schlag ein mein Freund.“ Seine Stimme wächst, wird immer dramatischer, erfüllt am Schluss die ganze Szene und endet mit dem Segen: „Und Gott, der über allem wacht und alles lenkt, wach über deinem Hause, lenke deinen Schritt zum Frieden.“ Gekrönt von einem tiefen G.
Die Partie des Gemeindeältesten ist eine mittlere Partie. Sie hat ohne extreme Tiefen aber eine typische Bass-Tessitur. Dies erkennt man bei Gesamtaufnahmen, auf der Bühne oder bei konzertanten Aufführungen in der dritten Szene des zweiten Akts im vertraulichen Gespräch zwischen dem Alten und Marta. Es erstaunte mich mehrmals, dass Bekannte, die mit Opern kaum bewandert sind, wenn ich einen „Tiefland“- Besuch kurz erwähnte, mich gerade auf diese Bass-Partie ansprachen.
Ein Opernquerschnitt bringt im Gegensatz zur Gesamtaufnahme nur die Highlights. Kleinere Rollen sind entweder gar nicht, selten bzw. nur ganz kurz zu hören. Das bedeutet für junge, aufstrebende Sänger einen Nachteil. Die Partie des Moruccio erscheint auf den zwei Seiten der Schallplatte mit 25 cm Durchmesser viel profilloser als auf einer Gesamtaufnahme. Eberhard Waechter kann in der Rolle des Mühlknechts hier keinesfalls zur Geltung kommen.
Der Staatsopernchor versteht es auch ohne optischen Eindruck, die gegenüber Pedro spöttischen Dorfbewohner leibhaftig zu gestalten. „Da ist er, seht nur!“
Der im Dezember 1958 sehr früh verstorbene Rudolf Moralt, ich lernte ihn erst durch die Traueranzeige in einem Programmheft der Wiener Staatsoper kennen, dirigiert die Wiener Symphoniker, zu der Zeit noch ein Mietorchester. Er hatte sich beim Wiederaufbau der Wiener Staatsoper nach der kriegsbedingten Zerstörung des Gebäudes am Ring große Verdienste erworben.
Halte ich heute diese alte Schallplatte, die ich mangels eines Plattenspielers derzeit nicht zum Leben erwecken kann, in den Händen, so höre ich unwillkürlich Stimmen, die nicht aus meiner Erinnerung weichen. Da klingen der dunkel timbrierte Sopran der Brouwenstijn und ein heller Sopran (Dodi Protero), wie das sprichwörtliche Licht am Ende des Tunnels. Weiter zu hören sind eine Stimme mit heldischer Strahlkraft (Hans Hopf), eine sehr sensible Stimme (Waldemar Kmentt) und ein tiefer Bariton (Schöffler sang einen bühnenreifen König Philipp), der auch lyrische Höhen konzentriert meistert. Schließlich ein Bass (Oskar Czerwenka) mit sehr originellem Timbre.
Ich werde diese heute nahezu historische Aufnahme stets sorgfältig aufbewahren.
Lothar Schweitzer, 15. Juni 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“