Foto: Elisabeth Schwarzkopf © Lillian Fayer
Wie unsere Suche nach geeigneten Begriffen und Ausdrucksweisen wie „sehnsuchtsvolle Stimme“, „Sym-Pathie“ und vor allem „Ausstrahlung (Emanation)“ zeigt, haben wir uns in diesem Feuilleton von der distanziert-kritischen apollinischen Seite der gefühlsbetonten dionysischen Seite zugewandt.
von Lothar Schweitzer
Bei einer Aneinanderreihung der Namen fiele auf, dass nicht ausschließlich weltberühmte Stars zu finden sind, obwohl meine Frau und ich mit vielen berühmten Persönlichkeiten wundervolle Abende erlebten. Eine Birgit Nilsson als Elektra, eine Leonie Rysanek als Ariadne, eine Anna Netrebko als Adriana Lecouvreur, weitere Namen und Partien würden die ganze Seite füllen.
Mit Elisabeth Schwarzkopf als Capriccio-Gräfin konnten mich Anfang des Jahres 1961 zum ersten Mal die Schönheiten einer Sopranstimme begeistern. Siehe auch Schweitzers Klassikwelt 40 „Der Reiz der Vielfalt der Stimmlagen“. Ein Jahr später fiel mir im Damenterzett der „Zauberflöte“ der Sopran einer Gundula Janowitz auf und in der nächsten Spielzeit verliebte ich mich in ihre sehnsuchtsvolle Stimme, als sie in Brittens „A Midsummer Night’s Dream“ als Helena zunächst unglücklich in Demetrius verliebt ist. Nicht konnte ich verstehen, dass Ottone durch Drusilla (gesungen von Gundula Janowitz) nicht von seiner unglücklichen Liebe in „L’incoronazione di Poppea“ geheilt wird. Auch ihre noch sehr konventionell und nicht emanzipiert aufgefasste Micaëla erlebte ich aufregend genug. Schritt für Schritt kamen dann ihre berühmten Mozart- und Strauss-Partien dazu. Ihre „Fiordiligi“ und ihre „Ariadne“ wurden maßgebend. Einen weiteren Höhepunkt bildete für mich ihre „Elisabeth von Valois“. „Für mich“, denn bemerkenswert, so sehr die Janowitz vom Wiener Publikum geschätzt wurde, als Verdi-Interpretin wurde sie abgelehnt, was im Vorfeld der Don Carlo Premiere am 25. Oktober 1970 zu voreingenommenen Protesten unschöner Art führte.
Ende der Sechzigerjahre brachte die Wiener Volksoper unter der Ära Albert Moser Cileas „Adriana Lecouvreur“ heraus. (Die Wiener Staatsoper folgte erst fast ein halbes Jahrhundert später!) Die Schallplattenaufnahmen mit Berühmtheiten wie Leyla Gencer, Magda Olivero, Renata Tebaldi, Giulietta Simionato, Mario Del Monaco, Franco Corelli, Ettore Bastianini und vielen anderen waren uns für einen Vergleich nicht so geläufig.
Wir feierten unsere lokalen Lieblinge Gertrude Jahn als Fürstin von Bouillon, Ion Buzea als Maurizio, Ernst Gutstein als Michonnet, Artur Korn als Fürst von Bouillon und Heinz Zednik als Abbé von Chazeuil, die teilweise schon an der Wiener Staatsoper aufgetreten oder von dort her ausgeliehen worden sind. Die Titelpartie sang die rassige, rothaarige US-Amerikanerin Marilyn Zschau, ausgebildet noch als Mezzosopran an der Juilliard School in New York. Zu der Zeit Albert Mosers (1963 bis 1973) gab es eine fruchtbringende Kooperation zwischen der Wiener Volksoper und dem Opernhaus Zürich. Als bei meinem ersten, zufälligen Besuch dieser Stadt mein erster Weg zum Opernhaus war, las ich dort zu meinem Entsetzen, dass am Abend des Vortags „Così fan tutte“ auf dem Programm stand, Fiordiligi: Marilyn Zschau. Dass mir als Wiener 1967 in Wien ihre Marietta in Korngolds „Die tote Stadt“ entging, ist mir heute unvorstellbar. Nach einem der zahlreichen wundervollen Adriana-Abende mit ihr vertraute sie mir im Juni 1973 an, dass sie eben von Zürich gekommen nach einem halben Jahr ohne Probe einsteigen musste. Zweimal erlebte ich sie in der Wiener Volksoper als Puccini-Sängerin. Einmal als temperamentvolle Giorgetta in „Il tabarro“, ein andermal als rührende Madama Butterfly. Sie kam auch zu Staatsopernehren als Färberin, Santuzza und Salome. Ohren- und Augenzeuge wurde ich, als sie für Teresa Stratas als Komponist einsprang.
Vom Jahr 1975 an war ich häufiger Gast des Tiroler Landestheaters. Obwohl eine große Neigung zu dunkleren, volltönenden Frauenstimmen bestand, wurde meine neue Favoritin der lyrische Sopran Annelies Hückl. Ihre Laufbahn begann übrigens im Chor der Wiener Staatsoper mit kleinen solistischen Auftritten als adelige Waise beim Lever der Feldmarschallin im „Rosenkavalier“. Sie begeisterte als naive, unschuldige Magd Nuri in „Tiefland“. Rein stimmlich hervorragend als Micaëla würde sie heute unserer emanzipierteren Vorstellung dieser Rolle nicht mehr entsprechen. Neben der Pamina hatte sie interessanterweise im „Figaro“ den Cherubino im Repertoire. Ein Traum ging nicht in Erfüllung. Die Hückl in der Partie der Orffschen klugen Bauerntochter. Der damalige Intendant Helmut Wlasak verteidigte seine Entscheidung einer anderen Besetzung mir gegenüber mit der Überbeschäftigung meiner Favoritin. Als ich Annelies Hückl 1986 anlässlich der Uraufführung der Neufassung von Cesar Bresgens „Der Engel von Prag“, nach Motiven des Romans „Nachts unter der Steinernen Brücke“ von Leo Perutz, im Tiroler Landestheater wieder begegnete, stellte sie als Esther bereits eine reifere Frau dar. Einen Brief von ihr bewahre ich unter meinen „Schätzen“ auf, in dem sie dankbar schreibt, „nicht nur durch den momentanen Applaus, sondern auch durch liebe Worte“ belohnt zu werden. Zwischen den Zeilen erfährt man auch, wie viel Fleiß und Arbeit hinter der manches Mal so leicht erscheinenden gesanglichen Ästhetik steckt.
Wohl ist eine gut ausgebildete Technik Voraussetzung für den Sängerberuf, aber Stimme und Gesang verbinden wir mit „Ausstrahlung einer Persönlichkeit“. Der erste Auftritt einer unbekannten Sängerin oder eines neuen Sängers lässt noch nicht die Reichweite ihres Könnens erahnen, aber die Stimme kann spontan Sym-Pathie erwecken. Da genügen oft wenige Takte oder im Extremfall eine einzige Phrase. So mit meiner Frau erlebt in der Oper Basel. Bei unserem ersten Besuch dieser interessanten, im Schatten Zürichs und Genfs liegenden Stadt wählte meine Frau intuitiv Andrea Lorenzo Scartazzinis „Der Sandmann“ für einen Opernbesuch aus. Thomas Jonigk hat aus dem Olympia-Akt von „Hoffmanns Erzählungen“ ein geniales, modernes Textbuch entwickelt. Probleme der Virtualität, die hilfreichen und die gefährlichen Seiten von Lebenslügen, die Klippen der Partnerwahl werden zur Sprache gebracht und in eine den menschlichen Affekten nachgehende Musik verwandelt. Und da geschah es! Ich verliebte mich in die Stimme der Clara/Clarissa, nicht wie Hoffmann wahnhaft in eine Puppe, sondern als glücklich Verheirateter künstlerisch. Gemeinsam mit meiner Frau, aber gegenseitig unbeeinflusst, dachten wir dasselbe: „Da ist eine Richard Strauss-Sängerin im Werden.“
Nicht lange Zeit verstrich und wir fanden auf den Kulturseiten: Agneta Eichenholz als Zdenka, Agneta Eichenholz als Daphne. Endlich drei Jahre später konnten wir in der Opernzeitschrift „der neue Merker“ als Titel einer Rezension über Brittens „Peter Grimes“ am Theater an der Wien schreiben: „Daphne zu Gast in Wien“. Sie sang in dieser Oper die Ellen Orford, eine Seele von einem Menschen. Zwei Jahre danach kam dann ihre bereits am Royal Opera House London, am Teatro Real Madrid und in Rom erfolgreiche „Lulu“ auf die Bühne der Wiener Staatsoper. Knapp vor dem allerersten Lockdown konnten wir noch für „Klassik begeistert“ über den ersten Abend der schwedischen Sopranistin als Salome berichten, der an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf stattfand. Die „Kö“ in dieser eleganten Stadt war an dem Tag bereits ungewohnt menschenleer.
Wie unsere Suche nach geeigneten Begriffen und Ausdrucksweisen wie „sehnsuchtsvolle Stimme“, „Sym-Pathie“ und vor allem „Ausstrahlung (Emanation)“ zeigt, haben wir uns in diesem Feuilleton von der distanziert-kritischen apollinischen Seite der gefühlsbetonten dionysischen Seite zugewandt.
Lothar und Sylvia Schweitzer, 25. Januar 2022 für
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Lothar und Sylvia Schweitzer
Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“
Schweitzers Klassikwelt 40: Der Reiz der Vielfalt der Stimmlagen