Foto: Neujahrskonzert, Lübeck 2023 © Dr. A. Ströbl
Neujahrskonzert
Ludwig van Beethoven, Symphonie Nr. 9 d-Moll op. 125
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
Stefan Vladar, Dirigent
Evmorfia Metaxaki, Sopran
Laila Salome Fischer, Alt
Noah Schaul, Tenor
Rúni Brattaberg, Bass
Chor und Extrachor des Theaters Lübeck sowie Mitglieder des Phemios Kammerchores
Musik- und Kongresshalle Lübeck, 1. Januar 2023
von Dr. Andreas Ströbl
Ein unbekannter Wiener wurde am ersten Tag des Jahres in einem der führenden deutschen Kultursender mit den Worten zitiert, „Wenn man das Neujahrskonzert hört, dann weiß man, dass das Leben weitergeht.“
Das klassische Neujahrskonzert mit Wiener Repertoire gab es zwar zum diesmaligen Jahresanfang in der Lübecker Musik- und Kongresshalle nicht, aber das Leben und die weltumfassende Freude wurden strahlend mit Beethovens „Neunter“ gefeiert. Nun kennt die Gemeinde der Klassikliebhaber jede Note dieses Werks, das man etwas bescheiden als „Symphoniekantate“ bezeichnen darf; das Hauptthema des Finalsatzes – seit 1972 offizielle Europahymne – dürfte mittlerweile sogar Außerirdischen vertraut sein. Nichts weniger ist ja diese Tonschöpfung: Eine universelle Umarmung in Beschwörung der Verbindung des Himmlischen und aller Menschen, die in Freude und Frieden miteinander leben sollen. Die Erfüllung dieser wundervollen Utopie allerdings scheint im Rückblick auf ein Jahr voller Katastrophen und eines zuvor unvorstellbaren europäischen Krieges in noch weitere Ferne gerückt zu sein.
Umso wichtiger ist, das „jetzt erst recht!“, das sich in dieser Musik so freudetrotzig erhebt, mit überzeugtem Optimismus zu zelebrieren und den Glauben an ein doch noch mögliches Miteinander nicht aufzugeben. Alle Mitwirkenden bewiesen grandios diesen Glauben, der in vollendeter Umsetzung zur Überzeugung wuchs. Bei der Begrüßung ließen die Geschäftsführerin Ilona Jarabek und GMD Stefan Vladar keinen Zweifel daran, auch 2023 die Botschaft der Freude durch die Musik übermitteln zu wollen und zu können.
Vladar beschrieb sein Amt für dies Konzert bescheiden damit, „Bilder in die Luft zu malen, die dann zu Tönen werden“. Und so schuf er mit Orchester, Chor, Solistinnen und Solisten ein riesenhaftes Gemälde in leuchtender Strahlkraft. Nach dem charakteristischen, spannungsreichen Beginn beherrschte ein energisch bestimmter Duktus den ganzen ersten Satz, der Dirigent trug die Farbe pastos auf, berücksichtigte aber auch angemessen sensibel die reduzierten Stellen in geradezu heimeliger Trautheit, mit zarten Farbtupfern und feiner Strichführung. Mühelos schwenkte er dann rasch zum breiten Quast um und schmiss mit ganzem Körpereinsatz im Fortissimo das satte Pigment auf die imaginierte Leinwand.
Lichtvoll endete dieser Satz und zackig wurde der zweite eröffnet, bald in die Fuge übergehend, mit klaren und akkuraten Pinselstrichen. Schnell trieb Vladar dann das Orchester an, um in mitreißender Rhythmik die Bilder das Laufen zu lehren, und so entstand der typisch freudvolle gelb-orange Beethovenduktus in wunderbarem Original-Tempo, weitab von jeder weihevollen Schwere, mit der jahrzehntelang die „Neunte“ zum Neujahr in die deutschen Wohnstuben-Radios gewälzt wurde. Strukturierend bildeten die Generalpausen kleine Inseln der Stille, was eine ungemeine Spannung erzeugte. Vladar strich mit weiten Armbewegungen über weite Klangfelder und entwarf den Blick in lichte Fernen, die immer näherrückten. Auf den Gesichtern der Musikerinnen und Musikern blitzte konzentrierte Freude auf; die enge Verbindung zwischen Dirigent und Orchester war greifbar.
In sanfter Gemächlichkeit entwickelte sich der dritte Satz, gleichsam die Hörerschaft schmiegsam einhüllend in den warmen Mantel freundschaftlicher Wärme. Die Umarmung der Menschheit im Finalsatz bereitet sich hier vor, allerdings in manchmal fast kammermusikalischer Reduktion. Sehnsucht nach Frieden spricht aus dieser Musik, die in feierlichem und sanftem Leuchten ausklingt. Für den Dirigenten war dieser in sich ruhende Satz sichtlich willkommen, denn Vladar schonte bei diesem Konzert weder sich noch die Mitwirkenden.
Um Spannung und Feierlichkeit nicht durch einen Zwischenauftritt zu stören, hatten Chor und Solisten bereits von Anfang an ihre Plätze bezogen, um im Finalsatz nun diese Symphonie zum Erblühen zu bringen. Wuchtig und kantig begann dieser berühmte Satz, um dann das markante Hautthema vorzustellen und zu variieren. In Bernard Roses Film „Ludwig van B. – Meine unsterbliche Geliebte“ von 1994 wundert sich Beethovens Familie, was er nur immer mit diesen Kindermelodien will, wie derjenigen, die dann zur „Ode an die Freude“ heranwuchs. Das ist ein Teil der Genialität dieses Komponisten – aus dem Einfachsten das Größte zu schaffen.
Nach den bewusst chaotischen Dissonanzen bereitete der voluminöse, satte Bass von Rúni Brattaberg den ersehnten Hauptteil vor. Noah Schauls klarer Tenor durchdrang mühelos den gewaltigen Klangkörper, die Altistin Laila Salome Fischer übernahm mit ihrer warmen, schönen Fülle, harmonisch ergänzt durch die Sopranistin Evmorfia Metaxaki mit starken, kristallklaren Höhen. Das Textverständnis war bei allen makellos, desgleichen beim Chor – die Haus- und Extrakräfte unterstützte der Phemios Kammerchor, ebenfalls aus Lübeck.
Wie eine goldene Sonne auf den Portalen barocker Schlösser erstrahlte das Finale, der Freude sanfter Flügel wuchs zu starken, all-umarmenden Schwingen und mit ganzer Farbenpracht der Variationen – zauberhaft-liebenswert der Alla Marcia-Einschub! – und charakteristischen vielfarbigen Wendungen erhob sich Beethovens Beste in die Höhe, weit über die Dächer der Hansestadt hinweg.
Jubelnder, begeisterter Applaus belohnte eine besondere Gesamt-Leistung, verbunden mit der Hoffnung auf ein besseres Jahr, als es das alte war. Freude und Hoffnung, gekleidet in Musik – was kann es Schöneres geben?
Prosit Neujahr!
Dr. Andreas Ströbl, 2. Januar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Neujahrskonzert Wiener Philharmoniker, Franz Welser-Möst Musikverein, Wien, 30. Dezember 2022
Silvesterkonzert am 31. Dezember 2022 im Auditorium Grafenegg Grafenegg, 31. Dezember 2022