Interview mit Gaetano D’Espinosa: „Wir sind ja alle ewige Anfänger!“

Interview mit Gaetano D’Espinosa  klassik-begeistert.de, 15. September

Gaetano D’Espinosa © Carmen Kronspiess

Gaetano D’Espinosa kann sicher als einer der mutigsten Männer im klassischen Musikbetrieb unserer Zeit bezeichnet werden. Der gebürtige Sizilianer, der seit 2001 in Dresden lebt, gab 2008 seine Stelle als Konzertmeister der Sächsischen Staatskapelle Dresden auf (eine Stelle für die mancher Geigenstudent wohl töten würde), um sich auf eine Dirigierkarriere als freischaffender Kapellmeister zu fokussieren. Und es zahlte sich aus:  Er legte seitdem eine steile Karriere hin, und ist auf Besetzungszetteln der ganz großen Häuser dieser Welt anzutreffen. So dirigierte er zum Beispiel in Venedigs La Fenice oder in der Suntory Hall in Tokio. Aber auch an seine alte Wirkungsstätte, die Dresdener Semperoper, zieht es ihn regelmäßig zurück. Was gerade deren „Wunderharfe“ – so nannte Richard Wagner einst die Staatskapelle – ausmacht und wie sich der Perspektivwechsel anfühlt, nun auf einmal auf der anderen Seite des Pultes zu stehen, darüber sprach Gaetano D’Espinosa im Interview mit Willi Patzelt.

klassik-begeistert: Lieber Herr D’Espinosa, Sie haben gleichsam die Fronten gewechselt und sind mittlerweile nun schon länger Dirigent, als Sie Orchestermusiker waren. Hat dieser Bruch zu einem Kontaktverlust mit den eigenen Wurzeln geführt, oder blüht gleichsam etwas ganz Neues aus ihm?

D’Espinosa: Nein, es blühen – um im Bild zu bleiben – ganz viele Blätter und Blüten. Es hat mich ja vor allem interessiert, in den musikalischen Kreativprozess stärker involviert sein zu können. So ein Orchester hat ja eine extreme Anpassungsfähigkeit – trotz einer so starken Musikergemeinschaft – „stark“ im Sinne der Fähigkeit, aber auch im Sinne der großen Menge. Dennoch kann ein Orchester auch eine unheimliche Flexibilität haben. Und das fand ich immer faszinierend.
Es ist ein Körper, der unglaublich verwandelbar sein kann. Ich habe wirklich oft erlebt, dass dann alle in einem Gemeinschaftserlebnis über sich hinauswachsen. Unter manchen Dirigenten habe ich solche Situationen ganz besonders intensiv erlebt. Aber für meine Begriffe war das immer noch zu selten. Und mein Ziel als Dirigent war, solche Situationen so oft wie möglich selbst zu erzeugen.

klassik-begeistert: Und – ganz platt gefragt – ist das gelungen?

D’Espinosa: Naja, man hat dann natürlich als Dirigent schon einen ganz anderen Einfluss auf das Gesamtergebnis, obwohl man ja die Leistungen der anderen Musiker ja nicht ersetzen kann. Aber trotzdem kann man ihnen helfen, das Beste aus sich herauszubekommen. Und in meinen ersten Jahren als Dirigent… (überlegt kurz) Anders: Die Anfangsphase ist ja schließlich ziemlich ausgedehnt. Viele Kollegen werden sagen, dass man aus dieser Anfangsphase eigentlich nie herauskommt, dass Herr Blomstedt auch im Grunde genommen noch ein Anfänger ist (lacht). Wir sind ja alle ewige Anfänger! Es ist ein Beruf, in dem es fortlaufend darum geht, sich auszuprobieren. Am Anfang hilft vor allem der Enthusiasmus und das Ziel, das man immer vor Augen hat. Man weiß, man hat einiges in der Hand; aber dirigieren lernen heißt auch, mit den Grenzen dieser Kunst leben zu lernen. Aber um diese beschriebenen Situationen zu erreichen, ist vor allem auch eine persönliche Basis mit dem Orchester notwendig.

klassik-begeistert: Hat man als ehemaliger Orchestermusiker dann, wissend um manche Eigenheiten eines Orchester-Innenlebens, bessere Voraussetzungen, eine solche Basis mit dem Orchester zu schaffen? 

D’Espinosa: Ja, sicherlich! Als Dirigent kann man da gleich einige Sympathiepunkte gewinnen, sobald das Orchester erkennt, dass der Dirigent weiß, wie es sich auf der anderen Seite des Pultes anfühlt – das schafft immer eine ganz tolle Basis. Ich habe in meiner Zeit als Orchestermusiker schon sehr viele Fälle erlebt, wo eine solche Basis nie auch nur annähernd erreicht wurde. Dann läuft es immer nur auf eine Zufallsleistung heraus.

klassik-begeistert: Kann man verallgemeinert sagen, dass es für einen Dirigenten insofern von Vorteil ist, selbst im Orchester gespielt zu haben?

D’Espinosa: Naja, alles hat Vor- und Nachteile. Ich glaube, wenn man selbst im Orchester gewesen ist, weiß man vor allem schneller um die Probleme und Schwierigkeiten, die es in einem Orchester geben kann, als wenn man von der Korrepetition, also vom Klavier, kommt. Ich weiß vielfach schneller, wo ich den Hebel ansetzen muss. Ich kann vielleicht auch schneller als andere merken, wie weit ich gehen kann und auch wie weit ich gehen muss, um herauszuziehen, was alles in den Menschen steckt. Und dann natürlich ist es ein großer Vorteil, dass ich verhaltenstechnisch mit dem Konzertmeister oder Solocellisten quasi von gleich zu gleich sprechen kann.

Gaetano D’Espinosa © Amac Garbe

klassik-begeistert: Woher wussten Sie, dass Ihnen das Dirigieren womöglich gut liegen könnte? Es ist ja schon ein sehr plötzlicher, riskanter Sprung gewesen…

D’Espinosa: Oh ja! Als ich diesen Sprung gemacht habe, habe ich natürlich auch mit meinen Mentor Fabio Luisi gesprochen. Ich habe ihn gefragt: „Was hältst Du davon? Soll ich das machen? Kann ich das machen? Darf ich das machen? Muss ich das machen? – Wie lautet Deine Diagnose?“ (lacht). Er hat mich dann viel in dieser Zeit in seine Arbeit eingebunden.  Aber er hatte in der Zeit auch sehr viele Engagements, und deswegen war er bei dieser ersten Produktion, wo ich ihm assistieren durfte – das war Mozarts La finta semplice bei den Wiener Festwochen – nur einige wenige Male bei den Anfangsproben da. Somit durfte ich bereits sehr früh ziemlich viel Verantwortung übernehmen. Er war somit auch gewissermaßen auf die Ergebnisse meiner Arbeit angewiesen. Als er zurückkam, waren bereits die ersten Bühnenorchesterproben angesetzt – da musste es schon halbwegs sitzen. Und es hat auch alles gut geklappt. Und wohl auch auf Grund dieses positiven Ergebnisses hat es ihn dazu bewogen, mir zu raten, so schnell wie möglich meine Stelle in Dresden aufzugeben und wirklich die ganze Energie in die Dirigierkarriere zu stecken.

klassik-begeistert: Wann haben Sie das erste Mal gespürt, dass Sie die andere Seite des Pultes auch interessieren würde?

D’Espinosa: Das waren wohl die ersten Begegnungen mit Daniel Harding. Ich kenne ihn, seit ich vielleicht 21 Jahre alt bin. Damals war ich beim Mahler Chamber Orchestra. Er war einer der ersten Dirigenten, an dem ich gemerkt habe: „Oh, das würde mich vielleicht reizen“.

klassik-begeistert: Was machte Daniel Harding als Vorbild aus?

D’Espinosa: Vitalität, Kreativität, hohe gestalterische Intelligenz und Teamgeist. Er war ja ungefähr im selben Alter wie die meisten Spieler. Ich war etwas jünger; aber einige waren auch älter als er. Aber dadurch, dass er mit den ganzen Abbadiani („Abbado-Zöglinge“) aufgewachsen war, war er mit jedem per Du, weswegen er diese klassische Distanz so nicht aufbauen konnte, die man von der herkömmlichen Beziehung Dirigent-Orchester gewohnt war. Was mich also sehr beeindruckt hat, war, dass er trotz seiner Nähe und Freundlichkeit, ja fast Kumpelhaftigkeit, und auf Grund seines Talents und seines Idealismus eine große Autorität ausgestrahlt hat. Und das hat mir ein Gefühl von einer wirklich zukunftsweisenden Arbeitsweise gegeben.

Gaetano D’Espinosa © Carmen Kronspiess

klassik-begeistert: Nun aber mal ganz ehrlich (lacht): Ist es nicht womöglich auch der Drang zur Macht, der einen zum Taktstock greifen lässt?

D’Espinosa: Naja, das kann sehr gut sein! Es ist aber immer sehr schwierig, gleichzeitig Angeklagter und Richter zu sein. Man muss also auch bereit sein, solche Verdachtsmomente zu bedenken (lacht). Es sind aber Fragen, die man sich auch immer ernsthaft auch stellen muss: Lass’ ich mich also von Macht oder Möglichkeiten, die eine solche Dirigentenposition mit sich bringt – lass’ ich mich davon beeindrucken, gar verführen? Aber dazu muss man auch sagen, dass wir ja nicht mehr in den 1960er, oder gar 1920er Jahren sind. Also wegen des Machtgewinns würde ich diesen Job nun niemandem mehr empfehlen (lacht). Mittlerweile sind andere Qualitäten als Wille zur Macht viel gefragter. Zwar ist dieser auch irgendwo – das haben uns begabte Philosophen schon beigebracht – eine Notwendigkeit zum Überleben, und zum Überleben auf dem Podium ganz besonders. Aber heidnische Selbstbejahung ist heute vielleicht weniger gefragt als christliche Selbstentsagung.

klassik-begeistert: Braucht es aber nicht auch zwischen Dirigent und Orchester ein gewisses Machtgefälle, oder ist es so, dass der Dirigent schon als primus inter pares seine Aufgaben erfüllen kann?

D’Espinosa: Leider ist dieses Machtgefälle halt immer da. Ich musste aber erst reifen, um das zu erkennen, dass das Konzept eines primus inter pares so nicht gänzlich möglich ist. Viele Musiker haben auch einfach gewisse Erwartungen an einen Dirigenten. Sie wollen dazu gebracht werden, dass sie über ihre eigene Form herauswachsen. Und dafür braucht es schon dieses Gefühl: „Ach, da ist schon gleichsam ein Zaubertrick, den der Dirigent kann und den wir allein nicht können“. Trotzdem braucht es etwas von dieser Jugendlichkeit oder von diesem Ideal der paradiesischen Gleichheit oder der unmittelbaren Kommunikation, die etwas engelhaft ist. Es muss sich jeder auch einfach sicher und geborgen fühlen können, um wirklich das Beste aus sich geben zu können. Denn insgesamt muss ein Gefühl der Bruderschaft – oder besser der Geschwisterschaft – herrschen.

klassik-begeistert: Der Weg, den Sie gegangen sind, vom Orchestermusiker zum Dirigenten, ist sicher kein typischer. Natürlich gab es das schon, man denke beispielsweise an Toscanini oder Harnoncourt; aber die Regel ist doch eher die „Ochsentour“ über Kapellmeisterstellen an kleineren Häusern. Welchen Weg halten Sie für den gewinnbringenderen?

D’Espinosa: Es ist gut, dass es unterschiedliche Wege gibt! Und ich habe mich natürlich auch ein wenig probiert an dem anderen Weg, den ich natürlich nicht gänzlich gehen konnte, weil man hat ja nur ein Leben zur Verfügung – zumindest wovon wir bislang wissen (lacht). Und da war mehr als ein Hineinschnuppern in die Korrepetition nicht möglich. Ich habe natürlich als Assistent von Fabio Luisi auch korrepetiert und kann mich durchaus in die Perspektive hineinversetzen. In beiden Fällen sind aber vor allem die ersten Jahre wichtig. Man muss sich Grundlagen schaffen und ein paar Orchester abklappern, wo man gut ankommt und somit zumindest für die ersten Jahre eine Grundlage an Repertoire schaffen kann. Es sind dann natürlich nicht sofort die Berliner Philharmoniker. Aber ich hatte gerade in Italien sehr viel Glück, zum Beispiel mit dem Orchestra Sinfonica di Milano, vormals Orchestra Sinfonica Giuseppe Verdi. Riccardo Chailly hat es als Chefdirigent bis 2007 zu einem wirklich bedeutenden Klangkörper aufgebaut. Dort hatte ich eigentlich das für den Moment perfekte Orchester gefunden. Ich konnte da früh bereits Mahler-, Bruckner- oder Brahms-Sinfonien dirigieren. Ich kam somit wohl auch zu Repertoire, welches diejenigen, die lange Kapellmeister in Opernhäusern waren, nie so früh dirigieren konnten.

klassik-begeistert: Und auf einmal standen Sie als Dirigent vor Ihren alten Kollegen in Dresden, mit denen sie einige Zeit vorher noch gemeinsam am Pult saßen und sagten ihnen, wie sie zu spielen hätten…

D’Espinosa: Ja, das ist richtig! Deshalb ist es gar nicht schlecht, dass nun ein bisschen Zeit vergangen ist. Ich habe zwar schon das erste Mal das Orchester dirigiert, als ich gerade ein Jahr weg war als Konzertmeister. Und ja, damals im Sommer 2010 war es möglicherweise noch zu früh. Es waren zwar sehr schöne Traviata-Vorstellungen; aber so wirklich der Kreis geschlossen hat sich erst jetzt, wo ich auch viele andere Orchester dirigiert habe, die ganz anders ticken als die Staatskapelle.

klassik-begeistert: Was haben Sie in all den Jahren mit anderen Orchestern dann aber auch wieder über die Kapelle gelernt?

D’Espinosa: Ich habe in diesen acht Jahren Staatskapell-Pause viele andere Arten des Zusammenspielens erlebt. Orchester, die ganz anders waren, vor allem in unterschiedlichen Kulturkreisen. Ich habe sehr viel in Italien dirigiert, aber auch in Frankreich, Österreich, der Schweiz, und ganz viel in Japan.  Da bin ich wirklich jedes Jahr, und war dort neulich sogar vier Monate am Stück. Und das ist etwas, was einen Dirigenten ja wesentlich widerstandsfähiger macht, denn es geht ja immer darum, ein Orchester dazu zu motivieren, ein Klangbild zu produzieren bzw. zu erreichen, welches man selbst verinnerlicht hat. Und ich bin halt mit dem Klang der Staatskapelle aufgewachsen. Meine Klangidee, die so sehr von der Kapelle beeinflusst ist, in Japan oder Italien zu versuchen, hat mich sehr trainiert in meiner Körpersprache und Interpretation.

Gaetano D’Espinosa © Carmen Kronspiess

klassik-begeistert: Was ist der Klang der Staatskapelle, und lässt er sich in anderen Orchestern reproduzieren?

D’Espinosa: Das habe ich immer versucht, diesen Klang der Kapelle in die Welt zu tragen, diesen Klang aus anderen herauszuziehen. Aber das klappt natürlich nur bedingt, denn ein klares Rezept gibt es nicht. Niemand von uns, auch die, die schon ganz lange Jahre in dem Orchester gespielt haben, niemand kann genau wissen, wie er zustande kommt. Bei dem Geheimnis um das Rezept von Coca-Cola wissen es wenigstens wohl noch ein paar Leute, wie es genau lautet, aber beim Klang der Kapelle weiß es wirklich keiner ganz genau. (lacht)

klassik-begeistert: Aber genau das macht dieses Orchester ja so faszinierend. Sie sprachen davon, dass sich nun der Kreis mit der Staatskapelle geschlossen habe. Wie hat sich das deutlich gemacht?

D’Espinosa: Ja, es war mir eine unglaublich große Ehre, Musiker in der Kapelle, ja sogar Konzertmeister zu sein. Nun zurück zu sein und wieder an diese herrliche Zeit anknüpfen zu können, ist ganz wunderbar. Wir haben unlängst eine ganz tolle Norma-Neuproduktion zusammen auf die Beine gestellt unter wirklich schwierigen Bedingungen. Obwohl wir von Corona beeinträchtigt waren – gerade auch für Peter Konwitschny und seine szenische Arbeit – gab es einhellig  positive Resonanz von Kritik und Publikum.  (klassik-begeistert berichtete)

klassik-begeistert: Man wird sich also – um das Bild des Einstiegs nochmal aufzugreifen – noch auf weitere Blüten mit Ihnen in Dresden freuen dürfen?

D’Espinosa: Aber natürlich!

Willi Patzelt: Herzlichen Dank für das Gespräch!

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