Frank Castorf, Kent Nagano und Alexander Tsymbalyuk führen Mussorgskys Oper Boris Godunow auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper zum ungetrübten Erfolg

Boris Godunow, Oper von Modest P. Mussorgski  Staatsoper Hamburg, 16. September 2023 PREMIERE

Chor und Solisten beim Schlussbild: Jürgen Sacher (Missail), Olivia Boen (Xenia), Florian Panzieri (Gottesnarr), Marta Swiderska (Schenkwirtin), Alexey Bogdanchikov (Schtschelkalow), Vitalij Kowaljow (Pimen), Dovlet Nurgeldiyev (Grigory/Dimitrij), Alexander Tsymbalyuk (Boris Godunow), Matthias Klink (Schuiskij), Ryan Speedo Green (Warlaam), Hubert Kowalczyk (Polizeioffizier), Kady Evanyshyn (Fjodor), Julian Arsenault (Mitjucha), Renate Spingler (Xenias Amme), Mateusz Lugowski (Leibbojar) (Foto: RW)

Castorf verzichtete weitestgehend auf proletarisch-sozialistische Optik. Diese spiegelte sich eher im Dekorativen der Bühnenaufbauten wider. So ersetzte er im vorletzten Bild das Kirchlein durch eine recht monströse sozialistische Heldenplastik, die im abschließenden Bild, nach dem Tod des Zaren Boris, einer überdimensionierten Coca-Cola Flasche mit buntem Strohhalm wich.

Staatsoper Hamburg, 16. September 2023
Boris Godunow, Oper von Modest P. Mussorgski, Fassung von 1868/69

Musikalische Leitung: Kent Nagano
Chor sowie Kinder- und Jugendchor: Eberhard Friedrich, Luiz de Godoy

Inszenierung: Frank Castorf
Bühne: Aleksandar Denić
Kostüme: Adriana Braga Peretzki

Staatsoper Hamburg, 16. September 2023 PREMIERE

von Dr. Ralf Wegner

Es gibt Opern, die hinterlassen einen gewaltigen Eindruck. Ich habe Mussorgskis bedeutendstes Werk dreimal auf der Hamburger Opernbühne (mit Moll, Talvela, Burchuladze als Boris) gesehen und einmal konzertant. In Erinnerung blieb ein gewaltiger Bass und fast noch gewaltigere Chöre. Etwas gab es aber auch noch, eine dominante Frauenrolle mit tiefer Stimme namens Marina, der Geliebten des falschen Dimitrij. Diese Frauenrolle wurde bei der jetzigen Aufführung musikalisch gestrichen mitsamt dem gesamten Polenakt. Damit entfiel auch die Rolle des Jesuiten Rangoni (Bariton).

Der Polenakt stammt zwar auch von Mussorgski, wurde von ihm aber erst später eingefügt, nachdem, wie es im Programmheft heißt, das Komitee des Kaiserlichen Theaters die Aufführung der Urfassung u.a. wegen Fehlens einer zentralen weiblichen Rolle abgelehnt hatte. Warum auf diesen Akt in der jetzigen Hamburger Aufführung verzichtet wurde, erschließt sich im Nachhinein nicht wirklich. Denn der Regisseur zeigte uns über lange Zeit Videoausschnitte zum Aufenthalt Grigorijs in Polen und sein Verhältnis zur Fürstin Marina.

Die verbliebenen 7 Bilder der Oper wurden in vier Akten (Teilen genannt) in gut zwei Stunden ohne Pause abgehandelt. Worum ging in dieser Oper: Der aus dem Kleinadel stammende Fürst Boris Godunow (Bass) wird zum Zaren gekrönt. Aus durchsichtigen Gründen wird ihm mit Hilfe des Fürsten Schuiskij (Tenor) der Mord an dem letzten Zarewitsch namens Dimitrij zur Last gelegt. Ob zu Recht oder Unrecht, bleibt unklar. Mit Unterstützung anderer Fürsten fällt ein falscher Dimitrij (Tenor) in das Land ein, um die Herrschaft zu ergreifen. Boris Godunow verfällt immer mehr dem Wahn und stirbt.

Alexander Tsymbalyuk verfügt über eine der schönsten Bass-Stimmen, der man heute auf der Opernbühne begegnet. Mit großer Farbigkeit und beeindruckendem Höhenglanz sowie perfektem Legato vermag er angenehme Charaktere wie etwa den Fürsten Gremin in Tschaikowskys Oper Eugen Onegin stimmlich perfekt zu interpretieren und das Publikum mit seiner Interpretation zu begeistern. Auch als Boris verfügt er über die nötige Stimmpracht, um zum Beispiel bei der Ansprache vor dem versammelten Volk oder im Zwiegespräch mit seinen Kindern zu beeindrucken. Was ihm aber fehlt, ist nicht die Pracht, sondern die Macht der Stimme. Anders als die eingangs Genannten, die schon vom körperlichen Umfang mehr Schwergewicht auf die Bühne brachten, vermisste ich bei Tsymbalyuk das hinter der Stimmschönheit Lauernde, den aggressiv-gewalttätigen Unterton, jener, der die Untergebenen erzittern oder erschauern lässt.

Matthias Klink verfügte als intrigierender Gegenspieler Schuiskij über diese das Aufbegehren und gleichzeitig das Unterwürfige charakterisierende Zwischentöne. Vitalij Kowaljow hatte es als geradliniger Pimen leichter, seinen prächtigen Bass nach vorn zum Publikum hin auszustellen. Dovlet Nurgeldiyevs mehr lyrischer als heldischer Tenor wurde durch die Streichung des Polenaktes um seine Wirkung gebracht, die er als Lenski oder Macduff immer entfalten konnte. Weitgehend hatte er Dialogszenen zu absolvieren, ohne die Schönheit seiner Stimme wirklich zeigen zu können. Von den kleineren Rollen sei noch Hubert Kowalczyk erwähnt, der mit seinem weit in den Raum tragenden Bass nicht nur das umherstehende Volk, sondern auch die Zuhörenden beeindruckte. Florian Panzieri brachte das Liedhafte des Gottesnarren schön zum Ausdruck und Ryan Speedo Green glitt mit Macht durch das stakkatohafte Sauflied des Mönches Warlaam.

Vorletztes Bild der Oper Boris Godunov (Foto: Brinkhoff/Mögenburg)

Frank Castorf ließ auf der Drehbühne der Hamburgischen Staatsoper von Aleksandar Denić ein gewaltiges, nach hinten gestaffeltes Bühnenbild aufbauen, welches mit überkuppeltem Kirchlein, der Fassade eines Elektrizitätswerkes oder eines Panzerkreuzers beeindruckte und immer wieder neue Ansichten fürs Auge bot.

Leider ließ das Bühnenbild dem gewaltigen Aufwand an Statisterie, Chor, Sonderchor und den Alsterspatzen, insgesamt fast 150 Mitwirkende, wenig Raum, so dass alles ziemlich statisch geriet, vor allem die Auf- und Abgänge an den Seiten. Zwischen den wechselnden Bildern blieb der Vorhang offen, so dass dieses wenig dem Inhaltlichen des Stück dienende logistische Moment störend blieb. Die zum Teil prächtigen Kostüme waren schön anzuschauen.

Castorf verzichtete weitestgehend auf proletarisch-kommunistische Optik. Diese spiegelte sich eher im Dekorativen der Bühnenaufbauten wider. So ersetzte er im vorletzten Bild das orthodoxe Kirchlein durch eine recht monströse sozialistische Heldenplastik, die im abschließenden Bild, nach dem Tod des Zaren Boris, einer überdimensionierten Coca-Cola Flasche mit buntem Strohhalm wich. Meine Frau fühlte sich an den aktuell noch in den Kinos laufenden Film Barbie erinnert. Die Metapher war klar, die Kirche stand für einen übermächtigen Gott, dem sich selbst der Zar Boris noch reumütig unterwarf, die Colaflasche für Gottesersatz im Sinne von Gier und unbeschränkter Befriedigung jeglicher Gelüste, einschließlich Lüge, Heuchelei, Mord oder völlig bedenkenlos angezetteltem Krieg.

Der herzliche, langandauernde Beifall des Publikums galt allen Mitwirkenden, vor allem aber dem Chor, der Orchesterleistung unter Kent Nagano und den Hauptprotagonisten dieser Oper, vor allem natürlich Alexander Tsymbalyuk. Weitere Aufführungen gibt es am 20./23./26./28. 09. und am 04. sowie am 07. 10. 2023.

Dr. Ralf Wegner, 17. September 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Blu-ray-Rezension: Mussorgsky, Boris Godunow klassik-begeistert.de, 1. August 2023

Modest Petrovich Musorgsky, Boris Godunov, The Royal Opera (ROH) Covent Garden, London, 19. Juni 2019

Vorschau: Konzert „Träumereien“: Poesie und Musik, Leon Gurvitch mit Olga Peretyatko ELBPHILHARMONIE, Sonntag 24. September, 19.30 Uhr

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert