© Marie-Laure Briane
In der ersten Choreografie sehe ich lange Bewegungen in Zeitlupe, die mich nachdenken lassen, was das denn für eine Bewegung ist, die ich da sehe? In der zweiten wird die tänzerische Dynamik ausgelöst durch Berührungen der Köpfe der Tänzerinnen und Tänzer. Das sind – so sehe und verstehe ich das – keineswegs nur äußerliche Berührungen. Sie gehen tiefer, dringen in mich ein, verbinden mein Herz und Bauch tief mit den Künstlern.
Minutemade Act One
Choreografie von Mari Carrasco | Fernando Melo
Staatstheater am Gärtnerplatz, München, 21. November 2024
von Frank Heublein
Ballettdirektor Karl Alfred Schreiner hatte die Idee zu Minutemade vor zehn Jahren. Der Choreograf soll sich auf sein Herz verlassen, so sagt er vor der Aufführung von Minutemade Act One (of Three) der Dancesoap an diesem Abend. Dazu hat er weiter unten dargestellte zehn Regeln verfasst, die den Rahmen dafür vorgeben. Die eingeladenen Choreografen bekommen keine Information oder Vorgabe außer den Regeln vorab. Alles passiert in genau einer Woche des Erarbeitens vor der Aufführung.
Der zweite Choreograf Fernando Melo sagt im Gespräch mit Schreiner auf die Frage, warum er nicht nervös geworden wäre: das Team, die Tänzerinnen und Tänzer haben ihm Sicherheit gegeben. Die erste Choreografin Mari Carrasco nickt zustimmend. Die Tänzerinnen und Tänzer bringen sich ein, so entsteht eine kollaborative Kreation.
Die Choreografien sind ein- oder zweimalig zu sehen, siehe Regel Nummer 10. Der kleine Raum der Probebühne in den Katakomben des Gärtnerplatztheaters ist an diesem Abend ausverkauft. Ich berausche mich auch als langjähriger Minutemade Besucher an der intimen Einzigartigkeit des Moments. Diese beiden Choreografien sehen nur! genau! jetzt! die Menschen hier im Raum.
Die Regeln
- Jedem Choreografen steht exakt eine Woche Probenzeit zur Verfügung.
- Jede Folge muss mit dem letzten Bild der vorherigen Folge beginnen.
- Jeder Choreograf wählt die Musik für seine Folge selbst aus.
- In jeder Folge kann eine beliebige Anzahl von einem bis zu zwanzig Tänzern auftreten.
- Die Kostüme werden aus den Beständen des Theaters ausgewählt.
- Als Requisiten können alle Dinge genutzt werden, die schnell beschaffbar sind.
- Es gibt nur eine Bühnenprobe vor der Vorstellung.
- Jede Folge soll mindestens 15 Minuten und höchstens 35 Minuten dauern.
- Der Choreograf darf während der Vorstellung Teile seiner Choreografie wiederholen, verändern oder neu erarbeiten.
- Jede Folge wird zu Beginn der nachfolgenden Vorstellung wiederholt.
Am ersten Abend darf ich zwei mir unbekannte Choreografien entdecken. Mari Carrasco operiert mit der Langsamkeit. Dadurch offenbart sie mir die Entstehung von Bewegung, untermalt von wuchtigen Beats. Das schale Licht, langsame stroboskopartige Effekte eröffnen in mir die Frage: hat sich und wenn ja wie hat sich die Tänzerin gerade bewegt? Zugleich bemerke ich im Fokus auf einzelne Tänzer, dass das tänzerische Ganze mit erstaunlich schneller Dynamik verändert. Trotz aller Langsamkeit der einzelnen Bewegung. Toll gestaltete Ambivalenz, mit der Carrasco meine Rezeptionsannahmen pulverisiert und mir so eine neue Offenheit des Blicks gewährt.
Die zweite Choreografie von Fernando Melo ist sphärisch. Die Dynamik des Tanzes entwickelt sich durch die Berührung von Köpfen und Mündern. Melo und die Tänzerinnen und Tänzer nehmen mich mit in einen warmen Flow, der mein Herz öffnet. Meines mit denen der Künstlerinnen und Künstler verdrahtet. Diesen Moment nehme ich über die rechte Gehirnhälfte (konzeptuell, holistisch, intuitiv, non-verbal und einfallsreich) wahr. Der Moment fühlt sich über mich hinaus. Großartig.
Sollten Sie für den 28. November 2024 eine Karte vor der Türe des Theaters ergattern können, es ist bereits ausverkauft: an diesen traumschönen Moment muss Choreograf Giovanni Insaudo anschließen, er saß im Publikum.
Und ich? Nur eine Woche darf ich mich vorfreuen auf Minutemate Act Two. Erweiterung der Regeln, quasi elfter Punkt. Leider. Wunderbar. Bald.
Frank Heublein, 24. November 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Besetzung
Tänzerinnen und Tänzer: Jana Baldovino, Francesco Cuoccio, Montana Dalton, Joel Distefano, Douglas Evangelista, Willer Gonçalves Rocha, Alexander Hille, Marta Jaén Garcia, Mikayla Lambert, Amelie Lambrichts, Yunju Lee, Gjergji Meshaj, Elisabet Morera Nadal, Matthew Jared Perko, Alexander Quetell, Ethan Ribeiro, Micaela Romano Serrano, David Valencia, Emily Yetta Wohl, Chia-Fen Yeh
Stuttgarter Staatsballett, Novitzky / Dawson Staatsoper Stuttgart, 4. Oktober 2024
Uraufführung Ballettoper „Amors Fest“, Gärtnerplatztheater, München, 14. Oktober 2021