Das Ensemble im Bühnennebel (Foto: RW)
Eindeutig ja, wenn so fabelhaft getanzt wird wie in John Neumeiers neuer Ballettrevue
Der zweite, wie mit einem leichten Trauerflor überzogene Teil geriet tänzerisch in sich schlüssiger, der Hochschulseminarcharakter wurde deutlich zurückgedrängt. Miguel Alves Oliveira als Joe sowie Zofia Jablonska (Midnight Dancer) beeindruckten mit solistischen Glanzleistungen.
Shall we dance? Tanz zwischen den Kriegen
Ballettrevue von John Neumeier
Musik von George Gershwin (u.a. Oh Lady be Good, I got Rhythm, A Lonely Lullaby, Summertime, Rhapsody in Blue), Maurice Ravel, Camille Saint-Saëns (Der Schwan aus dem Karneval der Tiere) und Johnny Cash (Ballad of the Harp-Weaver)
Koproduktion des Bundesjugendballetts
mit dem Ernst Deutsch Theater, Hamburg, 19. Juni 2025 PREMIERE
von Dr. Ralf Wegner
John Neumeier hat nicht nur Ballette choreographiert. Es ist allerdings schon Jahrzehnte her, dass er sich in Hamburg mit Bernsteins West Side Story (1978) oder dessen On the Town (1991) befasste. Etwas Revue-haftes hatten auch seine Bernstein-Dances aus dem Jahr 1998. Allerdings wurde damals durchgehend getanzt. Sein Ballett Shall we dance nach Musik von George Gershwin ist dagegen schon etwas älter, die Uraufführung erfolgte 1986.
Auf letzterem Werk basiert die jetzt für ein 17-köpfiges Ensemble geschaffene Neufassung im Ernst-Deutsch-Theater. Es tanzten das Bundesjugendballett, ergänzt um die Gäste Nicolas Gläsmann, Ayumi Kato und Milla Loock, sowie das Hamburger Kammerballett.
Neumeiers Choreographie nennt sich nicht mehr nur Shall we dance?, sondern firmiert mit dem Zusatz Tanz zwischen den Kriegen. Es handelt sich auch nicht mehr um ein reines Tanzstück. So werden u.a. historische Statements abgegeben und Gedichte vorgetragen. Und eine Tänzerin mit roter Baseballkappe erinnert mehrfach mit dem Ruf Make Amerika great again an das tagespolitische Geschehen in den USA. Der zweite Teil nach der Pause war davon weniger belastet, geriet lyrischer, poetischer.

Der erste Teil beginnt mit einer Kriegscollage. Ein Kriegsversehrter (Oskar Weissel-Hetzel) durchlebt im Lazarett alptraumhaft die Schrecken vergangener Schlachten. Dazu tobt und springt das Ensemble eindrucksvoll wie in Neumeiers Nijinsky-Ballett. Wenig später wird Anna Pavlova (Hannah McCloughan) als sterbender Schwan wiedererweckt und Isadora Duncan (Ayumi Kato) zeigt mit wallenden Tüchern ihre Auffassung von Tanz. Am eindrucksvollsten und weniger theatralisch geriet ein längeres, von sechs Tänzerinnen fabelhaft interpretiertes Porträt der US-amerikanischen Tänzerin Marylin Miller (Bronte Barnett, Zofia Jablonska, Ayumi Kato, Milla Loock, Hannah McCloughan, Taissa Pache Pimentel). Mit dem US-amerikanischen Romanautor Francis Scott Fitzgerald (Nicolas Gläsmann) oder der Dichterin Edna St. Vincent Millay (Kristina Nadj) wurden weitere historische Persönlichkeiten der Zwischenkriegszeit zum Leben erweckt.
Der zweite, wie von einem leichten Trauerflor durchzogene Teil geriet tänzerisch in sich schlüssiger, der Hochschulseminarcharakter wurde deutlich zurückgedrängt. Miguel Alves Oliveira als Joe sowie Zofia Jablonska (Midnight Dancer) beeindruckten mit solistischen Glanzleistungen. Auch Caroline Bruker trug mit ihrem schön klingenden, stellenweise etwas zu vibratoreich geführten Sopran zur insgesamt sehenswerten Aufführung bei.
Wie immer bei John Neumeier beeindruckten das Bühnenbild – mit Backsteinwand und geschwungener Freitreppe im Hintergrund – sowie die fabelhaften Kostüme der Tänzerinnen (Mitarbeit Kostüm: Sonja Kraft). Auch die Freitreppe wurde genutzt. Mit hoher Federboa und langer Schleppe zog Hannah McCloughan beim Herabschreiten die Blicke auf sich.

John Neumeier-Preises für Choreographie Silas Farley (Foto: RW)
Dr. Ralf Wegner, 20. Juni 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Ein Besuch dieses einschließlich einer Pause knapp dreistündigen Werkes lohnt sich auf jeden Fall. Aufführungen gibt es bis zum 18. Juli 2025, und die Preise liegen mit 24-44 Euro auch deutlich niedriger als in der Staatsoper.
Verleihung des John Neumeier-Preises für Choreographie Ernst-Deutsch-Theater Hamburg, 19. Juni 2025