Wenn der soziale Aufstieg im Wahnsinn scheitert

Foto: Stuart Skelton, R.Willis-Sørensen, © W.Hoesl

Bayerische Staatsoper, 10. März 2022

Benjamin Britten    Peter Grimes 

von Dr. Lorenz Kerscher

Lange Zeit war Benjamin Brittens Oper „Peter Grimes“ nicht auf dem Spielplan der Bayerischen Staatsoper und man konnte nun sehr gespannt sein, wie Stefan Herheim die außergewöhnliche psychologische Detailzeichnung dieses Werks in Szene setzt. Die Charaktere sind nicht als gut oder böse eingeordnet, sie sind, wie wir alle, Individuen mit Eigenarten, und ihr Zusammenwirken entwickelt eine ähnlich schicksalhafte Dynamik wie das Wechselspiel der Natur, dem die symphonischen Interludien dieser Oper gewidmet sind.

Diese Parallele zieht auch Stefan Herheim, indem er die Menschenmasse wie die Gezeiten in den Saal und zum Szenenende wieder heraus strömen lässt und im Anklang an die energiegeladene Bewegung des Meeres choreografiert. Dies steigert sich im Laufe des Abends zu immer größerer Intensität und Dramatik. Das Bühnenbild ist als eine karge, aber wandlungsfähige Mehrzweckhalle zum Teil ein Theater im Theater, weitet sich aber oftmals in einen Ausblick auf Naturbilder, die wiederum die Entwicklung des Dramas abbilden. Tatsächlich verschmilzt für Peter Grimes der Kampf mit Wind und Meer unentwirrbar mit dem Kampf gegen eine ihn immer mehr ablehnende Dorfgemeinschaft, den er trotz größter Kraftanstrengung nicht gewinnen kann. Er ist besessen von der Illusion, dass er durch Reichtum gesellschaftliche Anerkennung erringen könnte und verlangt dafür seinen Lehrlingen Strapazen ab, denen diese nicht gewachsen sind. Im Prolog verhandelt das Gericht über den Tod eines Jungen auf hoher See und legt diesen ohne Beweisaufnahme als Unfall zu den Akten. Dies führt jedoch dazu, dass die öffentliche Meinung in Grimes den Schuldigen sieht. „Benjamin Britten, Peter Grimes,
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4. Akademiekonzert des bayerischen Staatsorchesters – Plädoyer für den Frieden

Vladimir Jurowski, Foto: © Wilfried Hösl

Bayerische Staatsoper, München, 7. März 2022

Vladimir Jurowski Musikalische Leitung
Sabine Devieilhe Sopran
Bayerisches Staatsorchester

von Frank Heublein

Die Bayerische Staatsoper in München reagiert am heutigen Abend auf die erschreckende Weltlage, in der Russland einen Krieg gegen die Ukraine führt. Es heißt in der Ankündigung des vierten Akademiekonzerts: „Als Kulturinstitution ist für uns der Respekt füreinander, Integrität zueinander und Dialog untereinander absolut essentiell. Nur so kann Frieden und Humanität gewährleistet werden. Um unserer aufrichtigen Solidarität Ausdruck zu verleihen, halten wir das 4. Akademiekonzert unter dem Titel: Plädoyer für den Frieden“

Vladimir Jurowski tritt ans Pult, dreht sich um und erhebt den Taktstock, um augenblicklich die ukrainische Nationalhymne zu intonieren. Das Publikum im Saal erhebt sich. Danach erläutert er, dass der Text 1862 entstanden sei. Die Melodie darauf wurde 1863 komponiert. Die erste Zeile der Hymne lautet übersetzt „Noch sind der Ukraine Ruhm und Freiheit nicht gestorben“. Wie fürchterlich aktuell.

Vladimir Jurowski ist Russe und hat, so sagt er, auch tiefe Verbindungen in die Ukraine. Russen und Ukrainer sind zwei unterschiedliche Völker. Die Ukraine sei ein international anerkannter unabhängiger Staat. Sein Appell: Wenn der Krieg jetzt nicht gestoppt wird, wird er auf ganz Europa übergreifen. Er verwendet das folgende Bild: Der Hunger Putins kommt beim Essen. „4. Akademiekonzert des bayerischen Staatsorchesters,
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Große Oper im Bayerischen Staatstheater: Tosca sorgt für Glückshormone in politisch dramatischen Zeiten

Foto: 2022 Tosca – P. Beczała, S. Hernández – © W. Hösl

Nationaltheater 
Bayerische Staatsoper München, Donnerstag, 24. Februar 2022

TOSCA

Melodramma in drei Akten – 1900

Komponist Giacomo Puccini. Libretto von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica nach dem Drama „La Tosca“ von Victorien Sardou.

von Dr. Petra Spelzhaus

Europa erlebt dunkle Stunden. Es ist der Tag des Angriffs Russlands auf die Ukraine. Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend und Beklemmungen im Brustkorb betrete ich die Bayerische Staatsoper. Es plagt mich ein wenig ein schlechtes Gewissen, ich vergnüge mich, während 1.000 km von uns entfernt die Bomben fliegen. Das versuche ich für zweieinhalb Stunden zu verdrängen.

Puccinis Tosca spielt in ähnlich unruhigen Zeiten. Im Juni 1800 haben in der Schlacht bei Marengo zunächst die österreichischen die französischen Truppen zurückgedrängt, was im ersten Akt gefeiert wird. Später wird im 2. Akt der Sieg Napoleons verkündet.

In der römischen Kirche Sant’Andrea della Valle arbeitet der Maler Cavaradossi an einem Altarbild, während der politische Gefangene Angelotti dort Zuflucht findet. Der durchtriebene Polizeichef Baron Scarpia riecht Lunte. Angelotti wird bei seiner weiteren Flucht entdeckt und nimmt sich das Leben. Der inzwischen von Scarpia gefangen genommene, gefolterte und zum Tode verurteilte Cavaradossi dient als Köder Scarpias, um dessen Geliebte, die Opernsängerin Tosca, zu einem Stelldichein zu bewegen. Diese stimmt zum Schein zu und ersticht den Despoten. Nachdem Cavaradossi erschossen wurde, stürzt sich Tosca von der Engelsburg in den Tod. „Giacomo Puccini, Tosca,
Nationaltheater  Bayerische Staatsoper München, Donnerstag, 24. Februar 2022“
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Belcanto-Festival in der Bayerischen Staatsoper: Clash der Kulturen in „Il turco in Italia“

Foto: 2022 Il turco in Italia – I. Lungu – © W.Hösl

Mittwoch, 9. Februar 2022, Nationaltheater

IL TURCO IN ITALIA

Opera buffa in zwei Akten

Komponist: Gioachino Rossini. Libretto: Felice Romani.
In italienischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln.

von Dr. Petra Spelzhaus

Als ich zum ersten Mal von „Il turco in Italia“ gehört habe, musste ich unweigerlich an Stings „Englishman in New York“ denken. Sicher handelt es sich hier um ein komplett anderes musikalisches Genre, zeigt es aber, dass der Stoff der 1814 in der Mailänder Scala uraufgeführten Opera buffa nichts an Aktualität eingebüßt hat. Seit Menschengedenken kommt es gerne zu Wirrungen, wenn unterschiedliche Kulturkreise aufeinanderprallen.

In Neapel feiern Zigeuner vor ihrem Wohnwagen ein Gelage, als Selim, ein reicher, Koloraturen schmetternder Türke, auf seinem fliegenden Teppich zur Landung am Hafen ansetzt. Er verdreht sogleich der sprunghaften Italienerin Fiorilla den Kopf, die – obwohl mit Don Geronio verheiratet – bereits eine Affäre mit dem Hausfreund Don Narciso pflegt. Selims Ex-Freundin Zaida befindet sich zufällig unter den Zigeunern und versucht den Türken zurückzugewinnen, während Fiorillas gehörnter Ehemann um seine Frau kämpft. Prosdocimo, ein Poet, der den Auftrag hat, eine Opera buffa zu schreiben, treibt die Protagonisten zusammen und auseinander auf der Suche nach dem perfekten Plot für sein Werk. „Gioachino Rossini, IL TURCO IN ITALIA,
Bayerische Staatsoper, Nationaltheater, 9. Februar 2022“
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Der Lamettawald und die große Frage nach dem Sinn: Die bayerische Staatsoper präsentiert ein fantastisches Schlaues Füchslein

Foto: 2022 Füchslein – A.Brower, E.Tsallagova – © W.Hösl

Bayerische Staatsoper, Montag, 7.Februar 2022
Nationaltheater München

DAS SCHLAUE FÜCHSLEIN (PŘÍHODY LIŠKY BYSTROUŠKY)

Oper in drei Akten von Leoš Janáček (1924)
Text vom Komponisten nach Rudolf Těsnohlídeks Novelle „Die Abenteuer der schlauen Füchsin“.
In tschechischer Sprache · Mit Übertiteln in deutscher und englischer Sprache. Neuproduktion.

von Barbara Hauter

Der Sinn des Lebens liegt im Werden und Vergehen, im Erleben des Hier und Jetzt. Diese plakative Antwort gibt die Münchner Neuinszenierung von Janáčeks „Das schlaue Füchslein“ auf die gewaltige Frage unseres Daseins. In einem prächtigen, mystischen Wald aus überdimensionalem Lametta krachen die Sphären von Mensch und Tier aufeinander, existieren nebeneinander, berühren sich und erklären sich gegenseitig. Die Menschen, der Förster und seine Frau, der Schulmeister, der Pfarrer, ganz in schwarz gekleidet, sind durchweg deprimiert, verzweifelt, erstarrt, haltlos. Die glitzernde Lamettastränge wirken für sie wie Gefängnisstäbe. Die Tiere dagegen, bunt gewandet, bewegen sich leichtfüßig, gelöst und heiter durch das schillernde Dickicht. Es ist ihre Welt. Dabei ist diese Welt nicht durchtränkt von süßlicher Naturromantik. Putzig geht es nicht zu im Füchslein, auch wenn die Verniedlichung im deutschen Titel das scheinbar nahelegt. Es wird getötet und gestorben. „Leoš Janáček, DAS SCHLAUE FÜCHSLEIN (PŘÍHODY LIŠKY BYSTROUŠKY),
Bayerische Staatsoper, 7. Februar 2022“
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Klangfarbenopulenter Durst nach Leben besticht in München

Bayerische Staatsoper, München, 30. Januar 2022

Das schlaue Füchslein von Leoš Janáček

Foto: W. Hösl ©

von Frank Heublein

An diesem Abend wird in der Bayerischen Staatsoper in München erstmalig die Neuinszenierung von „Das schlaue Füchslein“ von Leoš Janáček der Spielzeit 2021/22 aufgeführt. Die Aufführung beginnt ohne den Auftritt der Dirigentin mit einem langen Moment purer stiller Dunkelheit. So dunkel und atmend still also kann ein Wald in meiner Vorstellung sein.

Mit dem ersten Erleuchten der Bühne sehe ich eine Begräbnisszene. Wer wird hier zu Grabe getragen? Ist es das schlaue Füchslein? Ist die Aufführung eine Erinnerung des Försters, der am Ende allein vor dem Grab steht? So interpretiere ich jedenfalls die Szene, die sich verbindet mit der letzten Szene der Oper, in der dem Förster der Nachwuchs des Füchsleins Schlaukopf begegnet. Diese Begegnung wird seine Erinnerungsreise angestoßen haben. „Das schlaue Füchslein von Leoš Janáček
Bayerische Staatsoper, München, 30. Januar 2022“
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Operette? Wer hat hier etwas von Operette gesagt?

Bayerische Staatsoper, München, 22. Dezember 2021

Giuditta von Franz Lehár

Foto: W. Hösl

von Frank Heublein

An diesem Abend wird in der Bayerischen Staatsoper in München die „musikalische Komödie“ Giuditta aufgeführt, so zumindest beschreibt Komponist Franz Lehár sein Werk. Nein, dieses Werk wird heute nicht aufgeführt! Denn das Regieteam um Christoph Marthaler mischt Dialoge aus Ödön von Horváths Sladek oder Die Schwarze Armee und Lieder von Zeitgenossen mit Lehárs Komposition.

Diese Vermengung anderer künstlerischer Werte führt zu meinem inneren Eindruck, dass jedes nur ansatzweise innere operettenhafte Beschwingen im Keim erstickt wird. Lehárs Melodien werden mit den darauffolgenden Nummern radikal gebrochen und ernsthaft dramatisiert. Durch Horváths Stück werden die beiden Nebenfiguren der Operette Anita und Pierrino umbenannt in Anna und Sladek und dem zur Operette abwechselnd auf der Bühne gezeigten unabhängigen Handlungsstrang ausgestattet. „Giuditta von Franz Lehár
Bayerische Staatsoper, München, 22. Dezember 2021“
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Oper unter dem Damoklesschwert eines drohenden Lockdowns: Münchens „Carmen“ begeistert dezimiertes Publikum

Bayerische Staatsoper, 24. November 2021
Nationaltheater München

Fotos: W. Hösl ©

CARMEN
Opéra comique in drei Akten (vier Bildern)

Komponist Georges Bizet
Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halévy nach der Novelle von Prosper Mérimée

von Dr. Petra Spelzhaus

Wir leben in düsteren Zeiten. Bereits in meiner letzten Rezension des „Troubadours“ an der Bayerischen Staatsoper vor drei Wochen war das ein Thema. Und die Zeiten sind noch düsterer geworden. Steigende Corona-Zahlen sorgen dafür, dass die Zuschauerzahlen auf ein Viertel zusammengeschrumpft werden. Jeder, der das Nationaltheater betritt, ist akribisch auf 2G+ überprüft. Wer keinen aktuellen Covid-Test mitgebracht hat, kann diesen in einer kleinen Teststation im Opernhaus nachholen. Das Angebot wird reichlich genutzt. Für den ein oder anderen wird die Zeit knapp, da die Auswertung bis kurz vor Aufführungsbeginn dauert. Übersichtlich ist es im Zuschauerraum, nachdem die 525 Gäste Platz genommen haben. Er fasst normalerweise über 2000. Staatsintendant Serge Dorny tritt vor den Vorhang und bedankt sich beim Publikum für die Mühe, die es für den Opernbesuch auf sich genommen hat. Das zeige, dass man weitermachen müsse. Applaus brandet auf. „Georges Bizet, Carmen,
Bayerische Staatsoper, 24. November 2021“
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Märchenhaft: die graziöse Anmut dieser Cinderella

Foto: Cinderella-Ensemble © Serghei Gherciu
Bayerische Staatsoper, München, 19. November 2021 (PREMIERE)

Ensemble des Bayerischen Staatsballetts
Bayerisches Staatsorchester

Sergej Prokofjew, Cinderella

von Frank Heublein

An diesem Abend wird in der Bayerischen Staatsoper in München Cinderella mit der dazugehörigen Musik von Sergej Prokofjew aufgeführt. Christopher Wheeldon hat dieses Ballett 2012 in Amsterdam inszeniert. Am diesem Abend ist die deutsche Erstaufführung. Es tanzt das Bayerische Staatsballett.

Der durchscheinende Wolkenvorhang öffnet sich. Ich sehe die junge Cinderella mit ihren Eltern. Ihre Mutter stirbt an Tuberkulose, die Tränen Cinderellas am Grab ergrünen, es erwächst ein Baum: welch schöner Einfall sind die aufspringenden grün leuchtenden Schirme.

Den ersten Teil empfinde ich über längere Strecken langatmig. Das Orchester hat für mich – noch – nicht die richtige Spannung. Dazu kommt die Entwicklung der Geschichte, die entsprechend der Musik drei für mich handlungstechnisch dünne und eher lange Szenen zeigt und die ich auch tänzerisch wenig intensiv empfinde. Die Gebrüder Grimm, so scheint es mir, haben das Märchen aufs Relevante und Ergreifende gekürzt. „Sergej Prokofjew, Cinderella, Inszenierung Christopher Wheeldon,
Bayerische Staatsoper, 19. November 2021“
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Entdeckungen voller Kreativität und Eigenwilligkeit: der junge Schostakowitsch

Foto: Vladimir Jurowski © Simon Pauly

In einem Interview hat Jurowski die Abkürzung GMD neu interpretiert: (als) Geburtshelfer (der) Musik (zu) dienen.

Bayerische Staatsoper, München, 7. November 2021

2. Akademiekonzert des Bayerischen Staatsorchesters

von Frank Heublein

Eine Sonntagsmatinee in der Bayerischen Staatsoper in München. Gespielt werden Kompositionen des jungen Dmitri Schostakowitsch, die er zwischen 1924 und 1929 kreiert hat. Orchesterleiter Vladimir Jurowski stellt dieses Akademiekonzert bewusst in den Zusammenhang mit der davor aufgeführten Oper Die Nase (Nos) vom selben Komponisten. Das Konzert gibt einen spannenden Einblick in die große Schaffensvielfalt des jungen sich entwickelnden Komponisten. Wie Jurowski im Laufe des Konzerts bemerkt, sind fast alle Stücke des Programms Münchner Erstaufführungen.

Frech soll der junge Schostakowitsch gewesen sein, bietet er doch seinem Lehrer im Konservatorium und arrivierten Komponisten Alexander Glasunow die Stirn, der ihm die falschen Harmonien aus den Werken streichen will. Er möge sie belassen, es seien seine, Schostakowitsch eigene Fehler, wird er zitiert.

Barbara Malisch, eine der Vorstände der Freunde des Nationaltheaters begrüßt die Zuschauer und Zuschauerinnen. Dieses Konzert wird vom Verein gesponsert und ermöglicht dadurch günstigeren Zutritt. Sie sieht darin ein Zeichen der Demokratisierung. Damit liegen der Verein und das neue Führungsteam der Bayerischen Staatsoper auf einer Linie. Die Musikform „Oper“ soll breiteren Bevölkerungsschichten zugänglich gemacht werden. Vorweg: mit diesem launigen doch nicht seichten Programm gelingt es ganz famos. „Dmitri Schostakowitsch, Akademiekonzert mit Vladimir Jurowski,
Bayerische Staatsoper, 07. November 2021“
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