Das Schönste dieses erinnernswerten Gala-Abends: Niemand fiel aus dem Rahmen

Foto: Yusif Eyvazov (Tenor), Anna Netrebko (Sopran), Mozarteumorchester Salzburg © SF / Marco Borrelli

Elbphilharmonie, Hamburg, 7. September

Anna Netrebko und Yusif Eyvazov
von Verdi bis Puccini

Anna Netrebko  Sopran
Yusif Eyvazov  Tenor
Elena Zhidkova  Mezzosopran

Philharmonie Baden-Baden
Jader Bignamini, Dirigent

von Harald Nicolas Stazol

„Stoppt die Mörderin, stoppt die Mör-de-rin“ höre ich vor der Elphi von den 80 Ukrainern, die Anna Netrebko wegen vor der Elphi diesen Mittwochabend demonstrieren, und ich rufe, „Medea steht doch heute Abend gar nicht auf dem Programm“, – da weist mich meine traumbegleitende Muse darauf hin, es nur „Friend of Putin!“ heißt, und ich bin ein wenig enttäuscht, dass in dem spärlich besetzten Saale keine nacktbrüstigen „Free Ukraine“-Pussy-Riots das Konzert unter- ja abbrechen könnten.

Stattdessen sich Anna Netrebko, von Arie zu Arie in Orangerot von Goldflammen durchsetzt mit ungeahnt schauspielerischem Talent zu den gewohnten Höhen, dem satten Ton, dennoch voller Leichtigkeit, die so nur sie hinkriegt, – allein, politisch geschickt ist sie nicht gerade, Anna Netrebko, doch dazu später mehr.

Als Thyssen und Krupp fusionieren, gehen die Arbeiter vor den Frankfurter Türmen an der Taunusanlagen der Deutschen Bank, „Soll und Haben“, auf die Straße. „Und von hier oben“, sagt mein Onkel, als er in grüner Krawatte von 20 anderen Anwälten das entsprechende Dokument unterzeichnet, nehmen sie sich wie Ameisen aus.

Demo? Welche Demo? Fragt man sich an diesem Abend, in den elysischen Höhen, der ganz der Liebe gewidmet ist – hier siegt die Kunst über die Politik, hier zeigt sich die Erhabenheit dreier russischer Stimmen, die offenbar Spaß haben an der Sache, auch wenn der Gatte der Netrebko etwas presst, was ihm, wenn Maman sich richtig erinnert, schon an der Scala Kritik einbrachte.

Anna Netrebko kenne ich noch aus Salzburg, wir beide blutjung, 2002??, unter Nicolaus Harnoncourt, und es ist die Inszenierung, in der das gesamte Ballett in Strümpfen eines österreichischen Strumpf-Imperiums, „Palmers“, eingekleidet ist, es war „Don Giovanni“ – seit diesem Abend ist mir die Netrebko ein Begriff. Und damals bin ich noch im liberalen Flügel der SPD. So einen gibt es in ihrer Heimat, Russland, schon da nicht mehr, wenn, dann versteckt.

Dass sie sich in manch Arena überstrapaziert, ein wenig abgesungen hat, – an diesem Abend kein Gedanke! Man mag sich an Hilde Güden erinnern, die Karajan an der Wiener Oper festhielt, dieselbe, an dem sie am Montag zu wenigen Buh-Rufen die Mimì sang, dieselbe, von der Elena die Muse anruft, „jetzt haben sie mich rausgeworfen, weil ich Russin bin“, nur natürlich viel höflicher formuliert.

Noch am Morgen trifft man die beiden an der Binnenalster, lachend, Anna in einem Leopardenensemble, und ja, sie äußert sich manchmal überraschend. Eine Russo-Faschistin aber kann ich in ihr nicht einmal vermuten, geschweige denn, beim schlechtesten Willen, erkennen.

Denn sowenig eine Sängerin politisch sein kann, wird ein Politiker Arien singen (abgesehen von jenen natürlich, die wir nicht mehr hören können…!).

„Freundin von Putin“ haben sie unten wie die Ameisen noch skandiert, naja, das waren Schröder und Steinmeier auch, nur singen können die eben nicht. Und deswegen bin ich hier.

Doch wie an die Karte kommen? Die Agentur River Concerts ist telefonisch nicht zu erreichen schon vor zehn Tagen, man reagiert nicht auf Emails. „Jede Note eine Bombe“, heißt es, nun denn, ich glaube, der Erlös dieses einen Abends von Welt dürfte von 80-450 Euro-Tickets Ungemach und Unterbrechung unterbunden haben.

Ich höre, eine Bombe kostet etwa 8500 Euro, also einmal die ganze erste Reihe. Doch erstmal muss man das Ticket ja aber HABEN!!!

In meiner zunehmenden Nervosität lasse ich meine Kontakte spielen. Michele Pronto, ein befreundeter Anwalt vielleicht, der zwei Abos laufen hat für Freunde und mich schon manches Mal mitnahm? „Natürlich nicht! Ich habe auch keins!“ whatsappt er. Donnerwetter, denk ich da noch, da liegt etwas im Busche, nein, der Busch brennt schon, und der HERR ist nah…

Wie ich aber dann doch erlöst wurde und hineindurfte, um der lieb-zarten, jahrelangen Freundschaft dreier überragenden SängerInnen, der Netrebko, der dem wundervollen Mezzosopran, Elena Zhidkova, fast karamelig und satt, und des Gatten der Diva, des wohltönenden Tenors Yusif Eyvazov. Man sieht den dreien ihre Freude an der Aufführung an – und ist denn nicht Freundschaft und Freude ohne Grenzen, ja grenzenlos?

Doch zunächst zu Tschaikovsky: Die Ouvertüre zu »Pique Dame« op. 68, steht an, und Anna, unsere, kosmopolitische, mit ihrer Stimme all Grenzen übertrahlende, gibt, nein, schenkt uns die Arie der Lisa aus der Oper »Pique Dame«.

„Bald ist es Mitternacht“, da fällt das Orchester Baden-Baden in das unheimliche, tiefe Thema, das erst diese Anna Netrebko zum Leuchten bring, wie weiland nur die große Galina Vishnevskaja, denn bei beiden reißt es einen vor lauter Inbrunst und warmen Tönen zu höchsten Höhen, von beiden ähnlich virtuos-herrschend-ehrfuchtgebietend, und der Rezensent schätzt sich erkoren, zu der Netrebko Lebzeiten geboren zu sein.

Pause. Die braucht man jetzt auch. Über die durchs Foyer Flanierenden hat sich etwas fast Andächtiges gelegt, aber das mag auch die Hingerissenheit des Verfasser bewirken, während sich die Muse mit einer Kennerin unterhält, ja das Gespräch mit Erlaubnis mitschneidet.

Doch da, wieder ohne Zwischenfälle, der Chronist ist enttäuscht, wir setzen uns, das Licht dämmt sich, Jader Bignamini wird mit korrektem Applaus bedacht, sein Dirigat ja auch bedächtigt und korrekt, die Philharmonie Baden-Baden eine Kur für Auge und Ohr.

Doch vorher an die Karte kommen! Schließlich hilft nur noch preussische Geheimdiplomatie, denn die Muse, ja mit Elena befreundet, trifft die beiden Diven, die Netrebko im Leopardenensemble, an der Binnenalster, auch Elena liebt Rachmaninoff, die Muse sagt, „mein bester Freund, ein Konzertkritiker auch, er bekommt keine Karte“ – „Warum hast Du das nicht gleich gesagt?“, ist, glaube ich die Antwort. Und das Wunder geschieht. Es ist ein Traum.

Isoldes Liebestod folgt (wieder die Liebe…), »Mild und leise wie er lächelt«, aus der Oper »Tristan und Isolde« WWV 90, was soll man sagen, selbst bei geschlossenen Augen wird die ganze Tragödie offenbar, und man wünschte sich, dass das Ganze auf einer Großbildleinwand über den ukrainischen Demonstranten vorgeführt würde, auf dass sie zur Vernunft kommen. Aber wegen eines Wagner-Fans hatte ja auch ein Furtwängler, ja, ein Karajan Berufsverbot einige Jahre lang. Soweit ist es ja nun glücklicherweise noch nicht.

Die Manon – Puccini setzt den Schlussstrich – legt die Ausnahme-Sopranistin ein wenig zu nervös an, schwingt sich aber dann zur stimmlichen Apotheose auf, was den Applaus im Anschluss, und den grazil-lächelnden Verbeugungen der Stimmvirtuosen einen würdigen, abschliessenden Rahmen verleiht.

Das schönste aber dieses erinnernswerten Gala-Abends: Niemand fiel aus dem Rahmen.

Harald Nicolas Stazol, 9. September 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

PROGRAMM

Gaetano Donizetti

Piangete voi? / aus der Oper »Anna Bolena«
Tombe degl’avi miei / Arie aus der Oper »Lucia di Lammermoor«

Francesco Cilea

Acerba voluttà, dolce tortura / Arie der Principessa aus »Adriana Lecouvreur«

Piotr I. Tschaikowsky

Ouvertüre zu »Pique Dame« op. 68
Arie der Lisa aus der Oper »Pique Dame«

– Pause –

Richard Wagner

Isoldes Liebestod
»Mild und leise wie er lächelt«, aus der Oper »Tristan und Isolde« WWV 90

Giuseppe Verdi

Forse la soglia attinse / Arie des Riccardo aus der Oper »Un ballo in maschera«

Georges Bizet

Farandole / aus: L’arlésienne / Suite Nr. 2

Giacomo Puccini

Donna non vidi mai / Arie des Des Grieux aus der Oper »Manon Lescaut«    In quelle trine morbide / Arie der Manon aus der Oper »Manon Lescaut« Intermezzo 3. Akt aus der Oper »Manon Lescaut«
Tu, tu, amore, tu? / Duett aus der Oper »Manon Lescaut«

 

So etwas gibt es nur in der Elbphilharmonie: Säugling schreit im teuersten Konzertsaal der Welt, es spielt das beste Orchester der Welt

Lieber Säugling: Schlafen Sie wohl, genießen Sie morgen Mamas Brust und feiern Sie mit ihr den jüngsten Messiaen-Besucher weltweit aller Zeiten. Respekt, dass Sie am Montag so lange durchgehalten haben. In der Elphi!

Foto: © Maxim Schulz

Elbphilharmonie, Hamburg, 5. September 2022

Wiener Philharmoniker
Betrand Chamayou (Klavier, statt der erkrankten Yuja Wang)
Cecile Lartigau (Ondes Martenot)
Esa-Pekka Salonen (Dirigent)

Olivier Messiaen
Turangalila-Sinfonie für Klavier, Ondes Martenot und Orchester

von Andreas Schmidt

Würden Sie mit Ihrer Partnerin / Ihrem Partner 400 minus 4 Euro für ein Konzert im von den Baukosten her teuersten Konzerttempel der Welt ausgeben, es spielt das anerkannt beste Orchester der Welt… moin moin, wir sind in der Elbphilharmonie an der Hafenkante der zweitgrößten deutschen Stadt, und ein Säugling, ca. ein Jahr alt, schreit während des Konzerts.

Dies ist kein Witz aus der wunderbaren, aber an Publikumspeinlichkeiten und -eklats bekannten Elbphilharmonie.

Dies ist Konzertrealität im September 2022. „Wiener Philharmoniker, Esa-Pekka Salonen
Elbphilharmonie, Hamburg, 5. September 2022“
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Die Elbphilharmonie vergrault ihr Publikum – Kulturverfall als Zeitphänomen

Foto: Elbphilharmonie © Daniel Dittus

Wenn nun zunehmend Menschen davor zurückschrecken, die Elbphilharmonie zu besuchen, dann sollte man sich überlegen, was hier schiefläuft. Es kann nicht darum gehen, diesen Konzertsaal von Weltrang stets gefüllt zu bekommen. Die Elbphilharmonie hat in der Tat etwas zu verlieren.

von Dr. Andreas Ströbl

Am kommenden Sonntag, 11. September, wird wieder der „Tag des offenen Denkmals“ begangen. Der Violinist und Moderator Daniel Hope wird sich an diesem Tag auf die Suche nach musikalischen Denkmälern machen. Das wirft die Frage auf, was denn den Denkmalcharakter eines Musikstücks, eines Konzerts oder einer Oper ausmachen könnte.

Mit Sicherheit kann es nicht darum gehen, ehrfurchtsvoll vor verstaubten Werken vergangener Jahrhunderte zu verharren. Die Pflege musikalischer Denkmäler besteht darin, sich, ob ausführend oder hörend, mit Begeisterung dem hinzugeben, was die sogenannte „klassische“ Musik (die längst nicht mehr von modernen Strömungen wie Jazz, Blues oder Weltmusik zu trennen ist) an Emotionen, Erfindungen, Denkanstößen, Gesellschaftskritik oder blanker Lebensfreude zu bieten hat. Das kann aber nur gelingen, wenn man der Musik, den Ausführenden und dem Publikum gegenüber respektvoll begegnet. „Die Elbphilharmonie vergrault ihr Publikum
Klassik-begeistert.de 4. September 2022“
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The Cleveland Orchestra brilliert in der Elbphilharmonie mit Schubert

Elbphilharmonie, 1. September 2022
Foto: DanielDittus.com

The Cleveland Orchestra
Franz Welser-Möst

Wolfgang Rihm
Verwandlung 3 / Musik für Orchester
Verwandlung 2 / Musik für Orchester

Franz Schubert
Sinfonie Nr. 8 C-Dur D 944 („Große“)

Eines der weltbesten Orchester der Welt hat an zwei Tagen gezeigt, wo der Hammer musikalisch hängt: The Cleveland Orchestra, USA, unter Leitung ihres österreichischen Dirigenten und Musikdirektoren Franz Welser Möst. „The Cleveland Orchestra, Franz Welser-Möst, Rihm, Schubert
Elbphilharmonie, 1. September 2022“
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„This is not a small voice“: Werke aus den USA eröffnen furios die neue Elbphilharmonie-Saison

“This is not a small voice” – das gilt für all die Stimmen der Komponistinnen und der Solistin dieses zauberhaften, berauschenden Konzertabends!

Elbphilharmonie Saisoneröffnung 2022/23, Foto: Dr. R. Ströbl

Großer Saal der Hamburger Elbphilharmonie, 30. August 2022

The Philadelphia Orchestra
Angel Blue, Sopran
Yannick Nézet-Séguin, Dirigent

Saisoneröffnung mit Kompositionen von Gabriela Lena Frank, Samuel Barber, Valerie Coleman und Florence Price

von Dr. Andreas Ströbl

In Zeiten hitziger Diskussionen über vermeintliche oder tatsächliche kulturelle Aneignungen darf man dankbar sein, wenn sowohl durch Werke als auch Ausführende bewiesen wird, was für glanzvolle und für Alle verständliche Kulturerzeugnisse entstehen können, wenn man das Beste aus verschiedenen Ethnien und ihrer Schöpfungen kombiniert.

Das sensibel und klug zusammengestellte Programm für das Konzert zur Saisoneröffnung präsentierte neben einem Stück von Samuel Barber hierzulande unbekannte Werke von Gabriela Lena Frank und Valerie Coleman, beides zeitgenössische Komponistinnen, und die erste Symphonie der jüngst zu spätem Ruhm gekommenen Florence Price. Für die zu Unrecht vergessene Musik der ersten Afro-Amerikanerin, die als namhafte Komponistin in den USA bekannt wurde, setzt sich der Dirigent Yannick Nézet-Séguin leidenschaftlich ein und veröffentlichte 2021 eine Einspielung ihrer ersten und dritten Symphonien. „Saisoneröffnung in der Elbphilharmonie, Werke aus der USA
Hamburger Elbphilharmonie, 30. August 2022“
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Elbphilharmonie Hamburg: Ich weiß nicht, ob man ein Konzert als „politisch“ bezeichnen sollte

Foto: © DanielDittus.com

Elbphilharmonie, 13. August 2022

Silvestrov / Chopin / Brahms – Elbphilharmonie Sommer

Ukrainian Freedom Orchestra
Ljudmyla Monastyrska Sopran
Anna Fedorova Klavier
Keri-Lynn Wilson Dirigentin

Valentin Silvestrov
Sinfonie Nr. 7

Frédéric Chopin
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 f-Moll op. 21

Ludwig van Beethoven
»Abscheulicher! Wo eilst du hin?« / Arie der Leonore aus der Oper »Fidelio« op. 72

Johannes Brahms
Sinfonie Nr. 4 e-Moll op. 98

von Harald Nicolas Stazol

„Sowas hat man seit dem 2.Weltkrieg nicht mehr gesehen“, schreit mir mein Begleiter, der Sohn eines Intendanten und einer Opernsängerin, ins Ohr, er muss es, denn die Ovationen an diesem Abend in der Elbphilhamonie erreichen Orkanstärke, „ein Orchester aus lauter Exilanten“. „UKRAINIAN FREEDOM ORCHESTRA, Silvestrov / Chopin / Brahms
Elbphilharmonie, 13. August 2022“
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Wenig Neues

Foto: © Maxim Schulz

Elbphilharmonie, 10. August 2022

Elbphilharmonie Sommer
Jazz in der Elbphilharmonie

Kenny Barron Quartet:

Kenny Barron piano
Peter Washington bass
Justin Faulkner drums
Jesse Davis saxophone

von Nikolai Röckrath

Magisch, diese Momente vor dem Konzert. Erwartungsvoll steht der glänzende Flügel im Raum, daneben der Bass in yogischer Tiefenentspannung, im „Savasana“. Alles ist bereit für den großen Moment, den Moment, in dem die Saiten in Schwingung versetzt werden und sich das gedämpfte Murmeln im Raum und die darauffolgende sehnsüchtige Stille in Klang verwandeln.

Auftritt der Musiker. Träge, beiläufig betreten sie den nahezu ausverkauften Saal der Elbphilharmonie, finden ihre jeweiligen Instrumente und – noch bevor überhaupt ein Ansatz von Stille den Raum verhüllt – beginnen sie das Murmeln, Husten und Rascheln mit Bill Evans‘ „Like Someone in Love“ zu umspielen. Verweben es mit subtilen, zarten sechzehntel Läufen, sind direkt mittendrin, ganz so als wäre das Publikum soeben ins zweite Set geplatzt. Wenig Raum bleibt da für Zauber.

Gedankensprung. Eine Frage, die mich das Konzert über nicht loslässt aber elementar ist, um darauffolgende Ausführungen einzuordnen: Muss Musik „Neues“ schaffen? Und weiter: Muss mit Kenny Barron ein fast 80-jähriger Pianist in einem seiner etlichen Konzerte womöglich am Ende seiner pianistischen Laufbahn „Neues“ schaffen? Oder Peter Washington, der in seiner langen Wirkenszeit bereits über 450 Titel eingespielt hat und damit womöglich der gefragteste Bassist unserer Zeit ist?

Wenn es die Beiden nicht tun, muss dann zumindest ein Funke „Neues“ von dem nur 31-jährigen Schlagzeuger Justin Faulkner überspringen, etwas Unerwartetes, etwas, das hinhorchen lässt? Etwas, was einen an die Kante des Stuhls rücken lässt, angeregt fragend, wohin die Reise geht und was um Steigerung, spannungsvolle Zerrissenheit und deren Auflösung fleht.
Kurzum, Musik, die bewegt.

Zumindest die übergeordnete Frage beantworte ich für mich mit: Ja. Wer dies nicht tut, möge diesen Eintrag getrost zur Seite legen, möge die einwandfrei vorgetragenen, technisch makellosen und wundervoll klingenden Jazzstandards an diesem Abend genussvoll nachwirken lassen. Denn daran gibt es keine Zweifel: alle hier anwesenden Musiker stehen fraglos mit größter Berechtigung seit Jahren an der Weltspitze und haben in der Jazzwelt dank großer, innovativer Einspielungen bereits ihren eigenen Fußabdruck hinterlassen.

Handwerklich spielen die vier Musiker jeder für sich einwandfrei, spicken ihr Spiel mit schönen melodischen Linien, perlenden Läufen und konstanten, ungehetzten Tempi. Faulkner darf dabei in schnelleren Stücken voranschreiten, wird jedoch stets durch den unaufgeregten Peter Washington auf Linie gehalten, Jesse Davis kreiert besonders in den Balladen wärmste Klänge und schnörkellose Melodielinien auf seinem Saxophon.

Innovative Ideen werden jedoch bei so viel trockener Abgeklärtheit im Keime erstickt. Pflichtbewusst, wenig ambitioniert, ja geradezu eingestaubt wirkt das. Wenig Platz bleibt für die gemeinsame Exploration und das Suchen nach Antworten. Fast schon karikativ, wie Faulkner alle seine explosiven Kräfte zu bündeln scheint vor seinen phlegmatischen Kollegen und sie in seinen Soli immer wieder ansatzweise entflammen. Lichtblick dabei der Auftakt zu Thelonious Monks‘ „Well You Needn’t“, bei dem Barron und Faulkner im Duo einsteigen. Es entsteht kurzzeitig der Eindruck, da säßen sich Lehrer und Schüler gegenüber, wobei der Lehrer diesmal durchaus gewillt ist, seinem engagierten Schüler Gehör zu schenken und dessen Ideen fortzuspinnen. Diese Lebendigkeit und das gegenseitige Eingeständnis zu Fehlern sind an diesem Abend jedoch Mangelware.

Wer vor knapp vier Monaten besagten Justin Faulkner in der Laeiszhalle an der Seite von alten Jazzgrößen wie Branford Marsalis und Joey Calderazzo gehört, gesehen und erlebt hat weiß mit Sicherheit: selbst ein über 30 Jahre hinweg bestehendes Quartett kann sich ständig neu erfinden und sich an einem Abend in absolute Ekstase spielen. Was es dazu braucht: Das absolute Eingeständnis von Experimentierfreude, Lust auf das Neue, das Bedürfnis, mit der Musik etwas auszudrücken, etwas, das unmittelbar von Innen kommt.

Dieses Wagnis geht der heutige Abend nicht ein. Er strebt nach Perfektion und stürzt dadurch ins Klischeehafte. Auch der unerschöpfliche und unübertroffene Ideenreichtum von Kenny Barrons Spiel sowie dessen schlichte Eleganz in den großartigen Alben wie „Live at Bradley’s“, „What if?“ oder „Landscape“ bleiben am heutigen Abend ein uneingelöstes Versprechen.

Nach Blue Mitchells‘ „Fungji Mama“, dem siebten und letzten Stück vor der Blueszugabe treten die Musiker schließlich ganz physisch in Interaktion, etwas ungelenk wirkt die Verbeugung vor den sich genügsam zeigenden, applaudierenden und sich langsam leerenden Rängen.

Kenny Barron merkte gleich zu Beginn über die seit den 80ern nicht mehr besuchte Hansestadt an: „It changed a lot“. Vielleicht ist zu viel Wandel auch gar nicht unbedingt wünschenswert. Zumindest hier und heute bleibt alles beim Alten. Und damals war ja auch nicht alles schlechter, mögen sich einige denken.

Nikolai Röckrath, 12. August 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Branford Marsalis Quartet, »The Secret Between the Shadow and the Soul«, Laeiszhalle,  4. April 2022

SWR Symphonieorchester, Antoine Tamestit, Viola, Teodor Currentzis, Elbphilharmonie, 2. April 2022

Branford Marsalis Quartet, Elbphilharmonie Hamburg, 9. März 2019

Cello und Klavier im Unisono – was für ein großartiger Auftakt in die neue Konzertsaison!

Elbphilharmonie Hamburg, Großer Saal, 08. August 2022

Foto: Sol Gabetta und Bertrand Chamayou in der Elbphilharmonie © Pressestelle Schleswig-Holstein Musik Festival

Felix Mendelssohn: Sonate für Violoncello und Klavier B-Dur op. 45

Johannes Brahms: Sonate für Violoncello und Klavier e-Moll op. 38

Felix Mendelssohn: „Variationes concertantes“ für Violoncello und Klavier D-Dur op. 17

Frederic Chopin: Sonate für Violoncello und Klavier g-Moll op. 65

Sol Gabetta Violoncello
Bertrand Chamayou Klavier

von Elżbieta Rydz

Das erste Konzert in der Elphi nach der Sommerpause. Nach zwei Jahren Einschränkungen, leeren Plätzen und Masken fühlt es sich befremdlich an, eng an eng, ohne Maske in dem ausverkauften Saal zu sitzen. Herr Kuhnt begrüßt herzerwärmend die Hörer und führt in seiner pädagogisch leicht verständlichen Art durch die Umstellungen im Programm, gibt Hinweise auf die mathematisch zu errechnende  Zusammensetzung der Stücke und die Gepflogenheiten bezüglich Klatschen, Husten, Handy abstellen.

Mit dem Allegro vivace der Sonate B-Dur von Mendelssohn wird das Konzert eröffnet: sanft aufsteigend schwingen die Instrumente zu ungeahnten Höhen heroischer Kraft. Das Hauptthema spaltet sich dialogisch zwischen der rechten Hand im Klavier und dem Streichinstrument, düster-heroisch herausgelockt, wehmütig drängend im weiteren Verlauf. Aus den beeindruckenden Triolen im Cello entwickelt sich ein Seitenthema: der zart pulsierende Dialog zwischen den Instrumenten steigert sich allmählich und führt zum strahlenden zweiten Thema. Das helle Leuchten ist kurz, fast ungreifbar, flüchtig. Nach der krönenden, brillant gespielten Coda legt schon mancher Hörer die Hände zum Klatschen zusammen…

Foto: Sol Gabetta und Bertrand Chamayou in der Elbphilharmonie © Pressestelle Schleswig-Holstein Musik Festival

Im zweiten Satz Andante legt ein wehmütiges Impromptu in g-Moll sanft wiegend, klanglich bezaubernd, geprägt von zartestem Klavieranschlag Bernand Chamayous und gezupften Cellosaiten Sol Gabettas den Grundstock. Lieblich melancholisch singende Ländlerweise, Pizzicato-Akkorde werden kurz von einem lichten Dur-Moment im Cello durchbrochen.

Das Finale im Allegro assai ist unendlich lyrisch, am Klavier auftrumpfend und schon fast überraschend sanft in dem zurückgenommenen Schluss. Sol Gabetta zieht aus dem 3. Satz die zarteste Konsequenz durch die scheinbar unendliche, konstant warme Bogenführung auf dem letzten Ton. „SOL GABETTA / BERTRAND CHAMAYOU Schleswig-Holstein Musik Festival
Elbphilharmonie Hamburg, Großer Saal, 08. August 2022“
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Gropius-Quartett begeistert mit seinem Programm an der Elbe

Foto: facebook Gropius Quartett @gropiusquartett Gesellschafts- und Kultur-Website

Elbphilharmonie Hamburg, Kleiner Saal, 3. Juli 2022

Camille Thomas, Violoncello
Lily Maisky, Klavier

Gropius Quartett: Friedemann Eichhorn (Violine), Indira Koch (Violine), Alexia Eichhorn (Viola), Wolfgang Emanuel Schmidt (Violoncello)

Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy, Frédéric Chopin, David Popper und Robert Schumann

Dieses Quartett spielt mit einer Seele vier Instrumente. Zwei Meisterwerke, zwei Raritäten, zwei Zugaben, die zusammen ein Spektrum an Emotionen wecken. So hat die Klassik wieder eine Zukunft!

von Johannes Karl Fischer

So ein begeisterndes, eklektisches Programm habe ich seit Jahren nicht mehr gehört. Zu Zeiten Mendelssohns und Schumanns standen Meisterwerke Seite an Seite mit Uraufführungen, Konzerte waren lebendige Ereignisse, über die die ganze Stadt plauderte. Das waren Zeiten… Solche Programme gehören zum Glück nicht nur der Vergangenheit an, auch 2022 kann man damit HörerInnen begeistern. Prompt bricht der Altersdurchschnitt im Publikum ein, Klassik ist plötzlich nicht mehr nur für alte, weiße Männer.

Mal von dem künstlerischen Niveau ganz zu schweigen… Dieses Quartett spielt mit einer Seele vier Instrumente! Jeder Akkord saß sattelfest, als würde ein einzelnes Instrument fünf und zehn Töne spielen. Melodien verschmolzen zu einem farbenfrohen Klanggemälde, als hätte man eine köstliche Kartoffelcremesuppe im Mund. „Die holde Kunst, sie werde jetzt zur Tat“, hätte Wagner dazu wohl gesagt. Selbst der hartnäckige anti-Semit konnte der Magie eines Mendelssohn-Satzes bekanntlich nicht widerstehen. „Gropius Quartett, Camille Thomas, Violoncello Lily Maisky, Klavier
Elbphilharmonie, 3. Juli 2022“
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Wie sich Wiener Wahn mit italienischem Affekt mischt

Foto: Piotr Beczała © Julia Wesely

Elbphilharmonie, 30. Juni 2022

PIOTR BECZAŁA / KRISTIN OKERLUND / WIENER SOLISTENQUINTETT

Lehár / Strauß / Kálmán

von Jolanta Łada-Zielke

Zwar ist die Elbphilharmonie viel größer als ein Wiener Café; trotzdem habe ich mich an diesem Abend wie in einem solchen Kaffeehaus gefühlt.  Das Wiener Solistenquintett hat mir eine musikalische Melange serviert, die Klavierpartie von Kristin Okerlund war wie eine Portion Schlagsahne. Und ein großes Stück der leckersten Sachertorte war der Auftritt von Piotr Beczała, der eine breite Palette seines Repertoires, von Operetten über künstlerische (in dem Fall neapolitanische) Lieder bis hin zu Opernarien präsentiert hat.

WIEN, WIEN, ÜBERALL WIEN…

Richard Wagner sah eine Verbindung zwischen der Operette und der französischen opéra comique, vor allem in der Thematik: sie sei aus dem Volksleben genommen, die Texte hätten meist komischen Inhalt, voll vom derben und natürlichen Witz. In seinem Aufsatz „Über deutsches Musikwesen“ behauptet Wagner: „ Als vorzüglichste Heimat dieses Genres muss Wien betrachtet werden. Überhaupt hat sich in dieser Kaiserstadt von jeher die meiste Volkstümlichkeit erhalten; dem unschuldigen heiteren Sinne ihrer Einwohner sagte stets das am meisten zu, was ihrem natürlichen Witz und ihrer fröhlichen Einbildungskraft am fasslichsten war“.

Der spätere Schöpfer des „Ring des Nibelungen“ schrieb diese Worte in den Jahren 1840-41 in Paris. Die Operette lief noch in Kinderschuhen. Jacques Offenbach bereitete erst sein Debüt vor, und die größten Komponisten dieser Gattung – Franz Lehár, Emmerich Kálmán und Richard Strauss – kamen erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Welt. Wagner gibt als Beispiel das Singspiel „Dorfbarbier“ von Johann Baptist Schenk 1785, „das wohl geeignet war, bei größerer Ausdehnung mit der Zeit das Genre bedeutender zu machen“. Der Komponist vermutete, dass die Operette bei ihrer Verschmelzung mit der größeren Opernmusik untergehen könne. Heute wissen wir, dass sie sich weiter entwickelt hat und ihr Niveau Schritt für Schritt gesteigert ist. Was von Wagner Text bleibt immer noch aktuell? Natürlich WIEN!

„PIOTR BECZAŁA / KRISTIN OKERLUND / WIENER SOLISTENQUINTETT
Elbphilharmonie, 30. Juni 2022“
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