ANTONIN DVORAK Aquarell Porträt – POSTER (c) easy.com
Irgendwann sollten eigentlich alle Klischees eines Genres erkannt sein. Doch die Klassische Musik beweist durch Vielseitigkeit und einen fast fundamentalistischen Hang zur Tradition, dass auch die Welt ihrer Klischees vielseitig ist. So zeigte unser Autor in der Vergangenheit bereits 50 Klischees in der Klassischen Musikkultur. Doch damit ist es noch nicht getan. Denn die Aufführungspraxis schafft stets neue.
Zehn neue Folgen widmen sich weiteren so genannten „Klassikern“, von denen man so übersättigt wird, dass sie zu nerven beginnen. Auch dies sind natürlich keine minderwertigen Werke. Doch durch ihre Stellung im Konzertbetrieb ist es an der Zeit, ihnen teils sarkastisch, teils brutal ehrlich zu begegnen, um zu ergründen, warum sie so viel Aufmerksamkeit erhalten.
Warum Antonín Dvoráks „Sinfonie aus der neuen Welt“ Paradebeispiel für mangelhaften Umgang mit Programmen ist.
von Daniel Janz
In der Ferne schwelgen, durch die Prärie reiten, die majestätische Schönheit einer „neuen Welt“ bestaunen: Kaum ein Werk fängt diese Idylle so anschaulich und vielschichtig ein, wie Antonín Dvoráks neunte Sinfonie. Buchstäblich – bis heute ist sie das meistgespielte Werk, dieses Komponisten. Aber warum eigentlich?
Dass Antonín Dvorák einmal in einer Kolumne über überrepräsentierte Klassiker erscheinen musste, ist eigentlich überfällig. Seine „Sinfonie aus der neuen Welt“ wird so oft gespielt, dass man schon von inflationärer Aufführungspraxis sprechen könnte. In einigen großen Konzerthäusern erklingt sie sogar mehrmals im Jahr – und das als einziges seiner Werke. Nicht etwa, weil seine anderen Kompositionen minderwertig wären. Viel entscheidender aber scheint zu sein, dass ihnen der Faktor fehlt, der seine neunte Sinfonie so reizvoll macht: Die fast intuitive Erschließbarkeit.
Natürlich kann man diskutieren, ob z.B. die anderen acht Sinfonien von Dvorák technisch an seine neunte heranreichen. Nach den programmatisch erschließbaren Sinfonien von Beethoven und darauf aufbauenden Werken von Berlioz ist Dvoráks Neunte eines der Kompositionen, die sich nicht nur über Form, sondern auch über Programm erklären lassen. Damit steht sie exemplarisch wie kein anderes seiner Werke für eine Annäherung ans Publikum, die in der klassischen Musik zu oft missachtet wurde und wird.
Musik wie diese kann sogar klassikfernes Publikum ansprechen. Ähnliches lässt sich auch bei anderen Klassikern der Konzertgeschichte beobachten. Seien es inflationär gespielte Werke, wie Bruckners vierte Sinfonie, die Schöpfungen von Schostakowitsch oder Mahlers allgegenwärtige Sinfonien, die selbst dann zu Orchesterklassiker erhoben werden, wenn sie misslungen sind. Fast so, als würde das Publikum nach einem Programm verlangen.
Das dürfte sicher auch der Grund sein, warum Dvoráks Neunte bis heute eine so herausragende Stellung einnimmt. Es darf tatsächlich bezweifelt werden, dass er uns noch präsent wäre, wenn es diese Sinfonie nicht gäbe. Ja, einige seiner Werke, wie sein Cellokonzert, haben ebenfalls eine gewisse Reputation und Aufführungstradition erfahren. Doch alleine bei der Anzahl der Aufführungen können sie nicht mit dieser Sinfonie mithalten.
Man könnte also versucht sein, das Programm dieser Sinfonie für ihr und auch Dvoráks kulturelles Überleben verantwortlich zu machen. Spinnt man diesen Gedanken weiter, stößt man aber vor ein Problem. Denn beschränkt man sich auf das Programm zur Vermittlung der Musik, ignoriert man in der Folge alles andere, was nicht aufgrund eines Programms entstanden ist.
Wie mit Dvoráks Vermächtnis (zumindest in Deutschland) umgegangen wird, ist Paradebeispiel dafür. Denn die meisten seiner anderen, immerhin über 100 Kompositionen, sind beim Publikum nahezu vergessen. Bewegt man sich nicht im ehemaligen Großkaiserreich Österreich-Ungarn erscheint Dvorák nur noch als Eintagsfliege der Klassik. Wer sich nicht aktiv mit dieser Musik beschäftigt, verbindet häufig nicht einmal etwas mit seinem Namen. Dabei ist Dvorák einer der wichtigsten Komponisten Tschechiens.
Schuld daran dürfte die Überrepräsentation dieser einen Sinfonie sein, zu der auch zig Legenden, Mythen und Erzählungen existieren. Ja, wer kennt sie nicht, die Berichte um Dvoráks Amerikaaufenthalt und sein Heimweh? Oder die Anekdote, dass der Tubist nur 12 Töne spielen darf als Rache dafür, dass Dvoráks Frau damals mit dem Tubisten des Orchesters eine Affäre hatte? Marketingtechnisch ist sind solche Geschichten Gold wert!
Versteift man sich aber auf Geschichten, bei denen nicht einmal sicher ist, wie viel davon wahr und wie viel Mythos ist, bleibt jene Musik außen vor, die sich in erster Linie über ihre Gestalt erschließt. Die eine Geschichte ganz für sich alleine erzählt. Man verliert das Wichtigste aus den Augen! Denn Hand aufs Herz: wie viele solcher Geschichten können Sie zu den anderen acht Dvorák-Sinfonien aufzählen? Selbst, wenn sie nicht alle an seine Neunte heranreichen, so sind sie aber doch genauso fantastische Musik.
Geschichten können das Erleben von Musik anreichern und sogar intensiver gestalten. Es gibt ja nicht umsonst Programmmusik. Aber wäre die Musik für sich nicht bereits gut, macht auch eine Geschichte sie nicht besser. Es ist ein Trugschluss, dass der Fokus auf Programme die Lösung für den ständig beklagten Publikumsverlust der klassischen Musik darstellt. Denn dadurch vergessen wir nicht nur zahlreiche Konzertjuwelen. Am Ende versteifen wir uns auch auf Werke, die nicht alle gut komponiert sein müssen, wie die bereits genannten Abscheulichkeiten von Hector Berlioz.
Erst im letzten Beitrag dieser Kolumne hatte ich demonstriert, wie zu viel Formversessenheit in der Musik auf Dauer zu Problemen führt. Dasselbe gilt aber auch für Programme. Wird Musik nur noch auf ihr (vermeintliches oder reales) Programm reduziert, spielt ab einem gewissen Zeitpunkt die Fähigkeit des Komponisten keine oder nur noch eine untergeordnete Rolle.
Der Lösungsweg kann nur eine Mischung aus beidem sein: Musik muss sich einerseits aus sich selbst heraus durch Wiedererkennungswert und Können erschließen, ohne einem Programm kompromisslos unterworfen zu sein. Andererseits sollte dieses Können in einer Vorstellung verankert sein oder sie vermitteln, anstatt abstraktes Gedankenturnen zu demonstrieren.
Zu oft versteift sich die Klassik auf eines der beiden Extrema. Bei Dvoráks Neunten gelingt der Spagat phänomenal gut, weil seine Sinfonie es uns mit der zugrundeliegenden Vorstellung leicht macht. Aber zur Musikrezeption gehört auch, Musik selbst eine Vorstellung zu verleihen. Wenn wir Dvoráks Neunte also so gut verstehen und erklären können, wieso versuchen wir es nicht mit seinen anderen acht Sinfonien? Und das exemplarisch für so viele andere geniale, aber vergessene Kompositionen? Klassische Musik wird nur überleben, wenn wir zeigen, dass sie mehr ist, als die üblichen 50 oder 60 Werke. Dies zu berichten und es mitzugestalten – da sind wir alle gefragt.
Daniel Janz, 17. November 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Daniels Anti-Klassiker – 50: Ludwig van Beethoven – Sinfonie Nr. 5 (1808), klassik-begeistert.de