Wenn die Jugend in die Irre geht

„Frühlings Erwachen“ von Ludger Vollmer  Hamburgischen Staatsoper (Kampnagel 6), 21. Juni 2025

Frühlings Erwachen, Gesamtszene © Bernd Uhlig

Singspiel „Frühlings Erwachen“
von Ludger Vollmer
(anhand der Kindertragödie von Frank Wedekind)

Hamburgische Staatsoper (Kampnagel 6),
21. Juni 2025

Musikalische Leitung   Luiz de Godoy

Inszenierung   Neco Çelik
Bühne und Kostüme   Alexander Wolf
Video und Livekamera   Jan Speckenbach
Dramaturgie   Angela Beuerle

Solisten von IOS und Mitglieder des The Young ClassX Chors und der Alsterspatzen – Jugendchor der Hamburgischen Staatsoper

Mitglieder des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg und des Felix Mendelssohn Jugendorchesters

von Jolanta Łada-Zielke

Ludger Vollmer hat ein interessantes Werk geschaffen, das die Unruhe des Heranwachsens vermittelt. Dies manifestiert sich zum Beispiel in der kontrastreichen Instrumentation. Einerseits haben wir dynamische und harmonisch dichte Passagen, wie ein Hormonsturm, auf der anderen Seite beschränkt auf den Klang eines einzigen Instruments, was die Einsamkeit und Leere der Protagonisten darstellt. Das Hauptproblem dieses Werks ist die Unfähigkeit der jüngeren und älteren Generation, miteinander zu kommunizieren, was zu Missverständnissen und sogar Unglück führt.

Der Komponist verwendet Heterophonie, insbesondere in den Chorpartien. Im ersten Satz, wenn die Solisten-Schüler ihre Freude über die Ankunft des schönsten Monats des Jahres besingen und der Chor im Hintergrund mantraartig „Der Mai, der Mai“ wiederholt, offenbart die Faux-bourdon-Technik die unter der Schulroutine verborgenen Reibungen und Konflikte. Die heitere Melodie wird mit jedem Takt immer beunruhigender, facettenreicher. Dann erklingt das „Gebet“ von Wendla mit Orgelbegleitung. Mit einem kristallklaren lyrischen Sopran fragt das Mädchen den strengen Gott, ob sie überhaupt lächeln darf.

Rebecca Schneider (Wendla), Sophie-Miyo Kersting (Martha) und Mimi Doulton (Thea) © Bernd Uhlig

Grzegorz Pelutis tritt als der autoritäre Schulleiter Amon Gabor, Melchiors Stiefvater auf. Für diesen polnischen Sänger ist diese Partie eine hervorragende Vorbereitung auf die zukünftigen großen veristischen Rollen. Amon Gabor ist eine tragische Figur – seine Härte und Prinzipientreue treiben den sensiblen Moritz in den Selbstmord. Als Melchior ins Gefängnis muss, hält Amon diese Strafe für gerecht und gerät dadurch in Konflikt mit seiner Frau Fanny (in dieser Rolle sehr ausdrucksstarke gesanglich und schauspielerisch Claire Gascoin).
Der polnische Bariton singt mit Präzision, Ausdruckkraft und sehr guter Diktion.  Die Dilemmas des Schulleiters begleitet das ständige Anschlagen der gleichen Klaviertaste, was den Effekt eines fallenden Tropfens erzeugt. Ähnlich klingt das Pizzicato der Streicher im zweiten Akt.

Obwohl die Melodien schwierige Themen illustrieren, klingen sie dennoch nicht unangenehm. Einige sind sehr eingängig, wie der zweite Chorgesang im ersten Akt, der orientalische Motive und chromatische Passagen enthält, die an einen Csárdás erinnern. Einige Zuschauer summen es in der Pause. Recitative in Duetten und Terzetten wecken Assoziationen zu Britten. Der erschütterndste Moment ist die Vergewaltigungsszene. Das Orchester lässt eine Eskalation der Stimmung erklingen, die Harmonie verdichtet sich, das Tempo wird schneller, das Grollen des Schlagzeugs nimmt an Intensität zu.

Während drei Sekunden Pause schreit Wendla verzweifelt „Nein!“, woraufhin die Musik wieder erklingt, noch lauter, schneller und aggressiver. Interessant sieht die musikalische Umrahmung von Moritz’ Beerdigung aus, bei der wir drei Arten von antiken Vokaltechniken haben, vom gregorianischen Choral über das Organum bis zum Faux bourdon.

Szene von Moritz’ Beerdigung, Solisten von links: Claire Gascoin, Jonathan Skala, Grzegorz Pelutis, © Bernd Uhlig

Martin G. Berger, der Autor des Librettos, blieb der Vorlage Wedekinds treu und fügte nur einige aktuelle Elemente ein, vor allem in der Figur der Wendla. Ihre masochistischen Neigungen manifestieren sich in der Selbstverstümmelung.

In Wedekinds Stück ist sich das Mädchen nicht bewusst, dass sie schwanger geworden ist und glaubt, an Wassersucht zu leiden. In Vollmers Singspiel entscheidet sie sich selbst für eine Abtreibung und stirbt an den Folgen. Ihre Rolle verkörpern zwei junge Sängerinnen, aber es ist die „unschuldige“ Version von Wendla (Sari Bluhm), die der Gewalt erliegt. Die stärkere Seite ihrer Persönlichkeit spielt Rebecca Schneider, die über eine dunklere, ausdrucksvolle Stimmfarbe verfügt. Diese befreit am Anfang die andere von einschränkenden Konventionen, symbolisiert durch eine Zwangsjacke, die sich nach der Vergewaltigung als nutzlos erweist.

Im zweiten Akt erscheint Wendla als verunreinigt und vorschnell verbittert, was Tätowierungen auf ihren Beinen und Armen symbolisieren. Als Melchior an ihr Gewissen appelliert, antwortet sie zynisch, dass sie „kein Geld, keine Ahnung, kein Gewissen“ habe. Sie hofft nur, die letzte Frau zu sein, der so etwas Schreckliches passiert ist.

Die Aufführung ist ein wahres Festival der herausragenden jungen Stimmen. Sehr vielversprechend klingt Timon Wiebers als Moritz, dessen Stimme mit einem leichten Vibrato geprägt ist. Ihm gegenüber steht der düstere, scheinbar kalte Melchior (Jonathan Skala), dessen Gesang im zweiten Akt dramatische Akzente setzt. Na’ama Shulman hat zwei extrem unterschiedliche Charaktere geschaffen: die strenge und emotional unerreichbare Frau Bergman, Wendlas Mutter, sowie die lebhafte und frivole Ilse.

Sari Bluhm als Wendla im zweiten Akt © Bernd Uhlig

Laut der alten Gesangsschule ist der Text auf hohen Tönen zweitrangig. Dieses Klischee widerlegt mit Erfolg Sophie Miyo-Kertsing als Martha Bessel. Im ersten Akt singt sie mit einem schönen dramatischen Sopran, dass, wenn sie Kinder hätte, diese wie Unkraut wachsen lassen würde. Selbst in den hohen Lagen ist bei ihr jedes Wort so deutlich zu hören, dass man nicht auf die Übertitel schauen muss.

Ähnlich sorgfältig ist die Aussprache des hervorragenden Tenors Mdziwanadoda Sipho Nodlayiya. Seine Figur – Hänschen – ist hier ein Flüchtlingskind, der seine homosexuellen Neigungen entdeckt. Die liberale Thea (Mimi Doulton) agiert wie eine Teenager-Carmen und bringt mit ihrem Lied, das eine Kombination aus Habanera und einem Schlager der dreißiger Jahre ist, eine humorvolle Note in das Spektakel ein.

Luiz de Godoy, der die musikalisch die Aufführung leitet, ist ganz in diesem Werk aufgegangen, total mit ihm verbunden, während er das Orchester im Zaum hält. Mit jugendlichem Elan lässt er sich von der Musik mitreißen, verliert dabei aber nicht die Kontrolle und leitet Stimmungswechsel durch angemessene Tempi und Dynamik gekonnt ein. Das Publikum spürt, dass sich Sänger unter seinem Dirigat wohl fühlen. Man würde ihn gerne öfter hinter einem Dirigentenpult sehen.

Am Ende versammeln sich die Jugendlichen wieder auf dem Schulhof, freuen sich über die Ankunft von dem Monat Mai. Amon Gabor dirigiert sie wie einen gehorsamen Schulchor. Hatte der Tod von Moritz und Wendla einen Sinn? Ja, wenn nicht nur ihre Eltern, sondern auch die Altersgenossen die richtigen Lehren daraus ziehen. Vollmers Singspiel „Frühlings Erwachen“ regt das Publikum zum Nachdenken an. Aufgrund seiner Aktualität und musikalischen Zugänglichkeit hat es eine Chance auf eine Karriere auf internationalen Bühnen.

Jolanta Łada-Zielke, 25. Juni 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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