In Kiel wagt man sich erfolgreich an das mit Schwierigkeiten gespickte romantische Ballett Giselle

Giselle, romantisches Ballett in zwei Akten  Ballett Kiel, Premiere am 20. Januar 2024

Fotos: RW, Vitalii Netrunenko (Albrecht), Keito Yamamoto (Giselle), Gulzira Zhantemir (Myrtha, Königin der Wilis), Jean Marc Cordero (Hilarion, Wildhüter)

Tänzerisch-technisch überraschten Keito Yamamoto als Giselle und Vitalii Netrunenko als Albrecht mit guten Leistungen, ihr gelangen die 30 auf der Spitze gesprungenen Ronds de jambe quer über die Bühne, er sprang hoch und schaffte im zweiten Akt etwa die Hälfte der 30 Entrechat six mit anliegenden Armen, danach flügelte er. Besser schaffen es auch manche „Startänzer“ nicht.

Giselle, romantisches Ballett in zwei Akten

Ballett Kiel, Premiere am 20. Janauar 2024

Musik: Adolphe Adam, Friedrich Burgmüller, Ludwig Minkus
Choreographie: Jean Coralli, Jules Perrot, Marius Petipa
Inszenierung: Olena Filipieva
Bühne: Eva Adler, Kostüme: Angelo Alberto

Philharmonisches Orchester Kiel, musikalische Leitung: Chenglin Li

Opernhaus Kiel, Premiere vom 20. Januar 2024

von Dr. Ralf Wegner

Das Kieler Ballett wagte sich an Giselle, das romantische Ballett schlechthin, und zudem noch eines der technisch und darstellerisch anspruchsvollsten überhaupt. Dem früheren Neumeier-Tänzer und jetzigen Kieler Ballettdirektor Yaroslav Ivanenko war es wichtig, wie im Programmheft zu lesen ist, auch ein solch anspruchsvolles Ballett im Programm zu haben. Mit seiner Stellvertreterin, der ehemaligen Ersten Solistin bei John Neumeier, Heather Jurgensen, verfügte er zudem über eine Ballettmeisterin, die als Giselle schon auf der Hamburger Bühne großen Erfolg hatte.

Wovon handelt dieses Ballett: Das Bauernmädchen Giselle verliebt sich in den als Bauer verkleidet auftretenden Herzog Albrecht und stirbt an gebrochenem Herzen, als sie von dessen bereits bestehender Verlobung mit Bathilde erfährt. Sie erwacht als untote Wili, die mit anderen betrogenen und dem Leben entrissenen Wilis des Nachts jene Männer zu Tode tanzen, die sich ihrem Gebiet nähern. Der Wildhüter Hilarion, der Giselle wirklich liebte, entgeht den grausamen Wilis nicht, Albrecht wird von Giselle gerettet und überlebt.

Vitalii Netrunenko (Albrecht) und Keito Yamamoto (Giselle)

Giselle erfuhr seine Uraufführung 1841 in Paris, wurde später vorwiegend in St. Petersburg getanzt und hat sich von dort wieder über die Ballettzentren der Welt verbreitet. Die Einrichtung dieses Stücks im Sinne der klassischen Choreographien von Jean Coralli, Jules Perrot und Marius Petipa in Kiel oblag der ehemaligen Tänzerin, späteren Ballettmeisterin und zeitweiligen Direktorin des Balletts der ukrainischen Nationaloper Olena Filipieva, Eva Adler entwarf das Bühnenbild und Angelo Alberto steuerte die aus finanziellen Gründen wohl zum Teil dem Fundus entnommenen Kostüme bei.

Der erste Akt zeigte links und rechts jeweils eine Holzhütte, deren Dach unvollendet blieb, den Hintergrund dominierte eine mächtige knorrige Eiche. So oder ähnlich kennt man die Dekoration des ersten Aktes, vielleicht etwas weniger altdeutsch. Die für die Tänzerinnen und Tänzer gewählten Kostüme unterstützten allerdings den sehr rückwärtsgewandten Eindruck: Die Bauernburschen trugen bis oberhalb der Knie reichende bayerische Lederhosen, die Mädchen an Dirndl erinnernde Kleider. Nach den Ausführungen im Programmheft wollte der in Nürnberg lebende Kostümbildner vor allem mit den Lederhosen an seine zweite Heimat erinnern. Die Hofgesellschaft war dazu im Gegensatz in lange Abendkleider bzw. klassische Anzüge im Sinne des 20. Jahrhunderts gewandet, nur nicht Bathilde und ihr fürstlichen Vater, die eine hiervon abweichende historisierende, osmanisch wirkende Kostümierung aufwiesen.

Inzhu Kassenova (Bathilde, Albrechts Verlobte), Amilcar Moret Gonzalez (Bathildes Vater), Rauan Orazbayev (Wilfried, Albrechts Freund); Keito Yamamoto (Giselle), Jean Marc Cordero (Hilarion), Vitalii Netrunenko (Albrecht) (Fotos: Olaf Struck)

Der optische Eindruck des ersten Aktes war damit eher kunterbunt altmodisch, und nicht, wie der Kostümbildner Alberto im Programmheft ausführte, „klassisch, aber mit modernem Touch“. Die Idee, den Wilis im zweiten Akt schwarze Spitze über die weißen Tüllkleider zu ziehen, überzeugte dagegen. Denn so unschuldig und so rein sind die Wilis ja nicht, sondern hartherzige Mörderinnen, die u.a. den unschuldigen Wildhüter Hilarion in den Tod getrieben hatten.

Der zweite Akt zeigte einen schönen Sternenhimmel, in der Höhe allerdings drei neobarock wirkende bügelartige Verdachungen, von denen zahllose feine seidene Fäden herabhingen. Beim genaueren Hinsehen sollten es wohl stilisierte Baumäste sein, die als Gerüst für Baumgespinste dienten. Am Schluss senkten sich die seitlichen Äste und bildeten so ein chinesisch anmutendes Tor, durch welches Albrecht den Wilis entkommen konnte.

Das Ballett selbst begann mit reichlich viel Pantomime. Tänzerisch-technisch überraschten Keito Yamamoto als Giselle und Vitalii Netrunenko als Albrecht mit guten Leistungen. Ihr gelangen die 30 auf der Spitze gesprungenen Ronds de jambe quer über die Bühne, er sprang hoch und schaffte im zweiten Akt etwa die Hälfte der 30 Entrechat six mit anliegenden Armen, danach flügelte er. Besser schaffen es auch manche sog. Startänzer nicht. Leider sprang zwischen beiden der Funke nicht so recht über, zu konzentriert arbeiteten sie noch an den immanenten Schwierigkeiten ihrer Rollen.

Dagegen überzeugte Jean Marc Cordero als Hilarion mit emotionaler Hingabe an die Rolle des verliebten, aber von Giselle abgewiesenen Wildhüters. Auch Giselles Mutter Berthe wurde von Virginia Tomarchio beeindruckend dargestellt. Didar Sarsembayev war im Bauern Pas de deux noch sehr auf seine Technik und weniger auf seine springlebendige Partnerin Leisa Martínez Santana fixiert. Seine Sprünge und Drehungen waren artistisch durchaus bemerkenswert, aber nicht Ausdruck irgendeines Gefühls für die mit ihm Tanzende oder die beide bewundernde Bauernschaft.

Im zweiten Akt überzeugte die mit zwölf Tänzerinnen noch gerade ausreichend besetzte Gruppe der Wilis mit ihrer ineinandergleitenden Arabeskenformation. Das war schön anzusehen. Myrtha, die Königin der Wilis, wurde von Gulzira Zhantemir mit perfekten, die Bühne durchmessenden, schwebenden Bewegungen auf der Spitze getanzt.

Wie sich dem Programmheft entnehmen lässt, sind alle Hauptrollen mehrfach besetzt, jeweils mit drei sich untereinander abwechselnden Tänzerinnen und Tänzern. So werden Keito Yamamoto nicht nur als Giselle, sondern auch als Bathilde und Myrthe sowie Vitalii Netrunenko nicht nur als Albrecht, sondern auch als dessen Freund Wilfried und Bathildes Vater auftreten. Der über das Bundesjugendballett zum Hamburger Ballettensemble gewechselte und jetzt in Kiel engagierte sprungstarke Ricardo Urbina, der bei der Premiere in der Gruppe tanzte, wird auch als Hilarion und als Myrtha (!) zu erleben sein.

Jean Marc Cordero (Hilarion), Gulzira Zhantemir (Myrtha) und Ricardo Urbina (Gruppe Winzer und Bauern)

Der Aufführung ist zu wünschen, dass sie von möglichst vielen Ballettfreunden und solchen, die es werden wollen, besucht wird. Es lohnt sich, um eines der wichtigsten klassischen Werke der Ballettliteratur in einer insgesamt guten Aufführung kennenzulernen.

Manches wohl noch der Premierennervosität Zuzuschreibende wird sich im Laufe der Aufführungsserie sicher einschleifen. Das vom Stück begeisterte Kieler Premieren-Publikum feierte jedenfalls die Tänzerinnen und Tänzer sowie die anderen am Gelingen der Aufführung Beteiligten am Ende mit langanhaltenden stehenden Ovationen.

Dr. Ralf Wegner, 21. Januar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Ballett, Othello 2 nach William Shakespeare Theater Kiel, Opernhaus, 2. April 2023

Fromental Halévy, DIE JÜDIN, Opernhaus Kiel, Theater Kiel, 10. April 2022

Giselle, Ballett von Demis Volpi Deutsche Oper am Rhein, 19. November 2023

Giselle, Ballett von Ben Van Cauwenbergh nach Jean Coralli, Jules Perrot und Marius Petipa Aalto Ballett Essen, 19. November 2022

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