Verdi-Requiem in Paris: Unter Riccardo Mutis Stab beben die Wände

Giuseppe Verdi, Messa da requiem, Riccardo Muti, Musikalische Leitung  Philharmonie de Paris, 4. Oktober 2024

Foto © Philharmonie de Paris

Es gibt wohl keinen Zweiten, der mit Verdis Requiem derart identifiziert wird, es vergleichbar bewegend von der Bedeutsamkeit des Textes erfasst, an die Nieren gehen lässt. Es ist Riccardo Mutis absolutes Paradestück. Unzählige Male hat er es mit den verschiedensten Spitzenorchestern dirigiert, und jedes Mal vollbringt er das Kunststück es entstehen zu lassen, als dirigiere er es zum ersten Mal. Wie auch nun mit dem Orchestre National de France in Paris.

Giuseppe Verdi: Messa da requiem

Iwona Sobotka, Sopran
Marie-Nicole Lemieux, Mezzosopran
Giovanni Sala, Tenor
Maharram Huseynov, Bass

Orchestre National de France
Choeur de Radio France (Einstudierung: Alessandro Di Stefano)

Riccardo Muti, Musikalische Leitung

Philharmonie de Paris, 4. Oktober 2024

von Kirsten Liese

Wie stets bei Muti wühlen die dramatischen Momente stark auf. Die dicht aufeinander folgenden Fortissimo-Schläge mit der stark präsenten Pauke im Dies irae, von Muti mit geballter Faust angetrieben, gleichen einer Explosion. Ungemein packend ist das zu erleben, genial, was der Dirigent aus dem Orchester herausholt, dem er in den Proben, in die ich hineinhören durfte, noch so Einiges mitzuteilen hatte.

Allein Sopranistin Iwona Sobotka sang ihre Spitzentöne in den dynamischen Spitzen mit Überdruck an der Grenze zum Schrei. Zu schade, dass Juliana Grigoryan ausgerechnet einen Tag vor dem Konzert erkrankte, die das Solistenquartett aus meiner Sicht bei den Proben kraft ihres lichten, strahlklaren Soprans und ihrem warmen Timbre überragte. Zwar empfahl sich Sobotka durchaus als eine Einspringerin mit überdurchschnittlichen Qualitäten, was den Umgang mit der Kopfstimme betrifft, die im Offertorium und im Libera me Töne von lichter Schönheit hervorbrachte; in den tiefen Registern, in denen manche Soprane deutlich dünner ausfallen, ließ sie vollblütige Klänge von großer Resonanz hören.

Mutis penible Arbeit ausgehend vom Text hat sich überhaupt wieder einmal ausgezahlt, berührten doch generell die sehr gesanglich musizierten leisen, lyrischen Stellen, die nur weniger Magie verströmten als die unvergessenen, legendären, wie aus dem Nichts einsetzenden Einstudierungen des Dirigenten mit dem Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks (1981) und den Wiener Philharmonikern (zuletzt 2019 in Salzburg). Aber mit solchen einmaligen, unerreichten Konzerterlebnissen sollte man diesen Abend ohnehin nicht vergleichen. Zumal Magie ein unberechenbares Geschenk ist, das sich mit intensiver Probenarbeit und Exzellenz der Musiker nicht allein erzielen lässt. Es hängen so viele andere außermusikalische, energetische Faktoren daran, die Disposition jedes einzelnen Beteiligten, die Chemie zwischen ihnen, die Atmosphäre im Saal, dass sich von alleine erklärt, warum sie in einem solchen Ausmaß auch bei Topstars nicht immer zu haben ist.

Riccardo Muti, Dirigent © SF / Marco Borrelli

Seitens der Partitur berührt mich das Tenorsolo „Hostias et preces tibi“ im Offertorium am stärksten, licht wie die personifizierte Unschuld. Es sollte möglichst im Falsett und mit wenig Vibrato gesungen werden, sagt Muti auf einer Probe, wie eine Liturgie. Giovanni Sala setzt das achtbar um, im Konzert bricht ihm nur in der Wiederholung in einer Note die Stimme kurz weg. Das ist kein Beinbruch, aber ein wenig schade schon.

Wovon die Aufführung mit den Franzosen wiederum bestens profitiert, ist die hervorragende Kommunikation zwischen dem Dirigenten und seinen Solisten. Dass ihm die Sänger nicht wie in zahlreichen Aufführungen anderer Dirigenten im Rücken stehen, ist freilich eine von Mutis Selbstverständlichkeiten, ebenso, dass Wasserflaschen für die Solisten auf dem Podium nichts zu suchen haben. Kurze Trinkpausen zwischen den Sätzen – nichts könnte wohl die Binnenspannung mehr zerstören.

Diese Solistenriege hat jedenfalls begriffen, worauf es Muti ankommt. Allen voran Marie-Nicole Lemieux, für die Alt-Partie besonders viel im Einsatz, singt den Maestro im permanenten Blickkontakt direkt an, als gelte es, mit ihm ein Duett zu gestalten. Seitens einer schlankeren Stimmführung gefällt sie mir besser als stark tremolierende Kolleginnen vom Kaliber einer Anita Rachvelishvili, seitens der Tongebung bleibt allerdings im Vergleich mit einer Agnes Baltsa oder Elīna Garanča noch Luft nach oben. Das Lacrymosa aber singt sie sehr anrührend auf einem weiten Atembogen, das Duett mit Sobotka im Agnus Dei ohne Orchester wunderbar homogen.

Zu einer Entdeckung innerhalb des Solistenquartetts wird Maharram Huseynov aus Baku, gesegnet mit einem profunden agilen Bass, vor allem ungemein farbreich in der Gestaltung des Texts. Das aushauchende „Mors“ im Tuba mirum tönt gespenstisch fahl, das kraftvolle Confutatis maledictis bedrohlich.

Zu einem weiteren starken Partner wurde für den Maestro der auf ihn seismografisch reagierende Chor von Radio France, der dem Zorn Gottes auf eine furchterregende Weise Raum gab, dass die Wände bebten, dem Text überhaupt in seiner Facettenhaftigkeit Ausdruck gab. Der Angst vor dem Jüngsten Tag ebenso wie Verdis Zweifeln an der Erlösung, die bis zum finalen Libera me  immer wieder durch das Requiem hindurchschimmern. Da wurde im präzise abgestimmten Dialog mit dem Sopran um Hoffnung gerungen, dass es einem eiskalt den Rücken hinunterlief.

Wie schön, dass es Muti nach dem letzten verklungenen Ton gelang, mit ausgebreiteten Armen noch einige Sekunden der Stille einzufordern. Danach kannte der verdiente Beifall kein Halten mehr.

Nur an Blumen für die Solisten und den Dirigenten fehlte es am Ende. Fielen sie Sparzwängen zum Opfer oder sind sie in Paris nicht üblich? Selbst im finanzklammen Berlin war das bislang immer noch eine Selbstverständlichkeit.

Kirsten Liese, 7. Oktober 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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