„Doch alle Lust will Ewigkeit“ – Gustav Mahlers dritte Symphonie in Lübeck

Gustav Mahler: Symphonie Nr. 3 d-Moll  Musik- und Kongresshalle Lübeck, 20. März 2023

Foto: Stefan Vladar © Marco Borggreve

Gustav Mahler: Symphonie Nr. 3 d-Moll

Stefan Vladar, Dirigent
Edna Prochnik, Alt

Damen und Herren des Extrachores des Theaters Lübeck und des Phemios Kammerchores
Kinder- und Jugendchor Vocalino

Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck

Musik- und Kongresshalle Lübeck, 20. März 2023

von Dr. Andreas Ströbl

„Die Umarmung der Welt“ könnte Mahlers dritte Symphonie überschrieben sein, in Anlehnung an Daniel Kehlmanns Roman über die Vermessung der Welt. Als das zweite Hauptthema in Mahlers Leben nach der „Sehnsucht des an der Welt Leidenden nach Gott“ führt Bruno Walter dessen Verbundenheit mit der Natur auf. Und so ist seine dritte Symphonie eine große, umarmende Liebeserklärung an die Natur, die Blumen und Tiere; dann widmet sich dieser allumfassende Wurf den Menschen und den Engeln. In den ursprünglichen, programmatischen Satzbenennungen geht es darum, was ihm all diese Wesen erzählen – alles endet schließlich mit dem, was ihm die Liebe sagt.

Eine Umarmung spielt auch im Leben Nietzsches eine Rolle, dessen „Nachtwandlerlied“ aus seinem „Also sprach Zarathustra“ Eingang in den vierten Satz der Symphonie gefunden hat, das mit der Zeile „Doch alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!“ endet.

Der Philosoph soll während einer Turin-Reise im Jahre 1889 ein vom Kutscher verprügeltes Pferd weinend umarmt haben. Nietzsche erschien das Naturgeschehen als „das Reich der Freiheit“; wenn der Mensch „sich innerlich reich fühlt, je polyphoner sein Subject ist, um so gewaltiger wirkt auf ihn das Gleichmass der Natur“, empfand der Denker.

Man wundert sich nach diesen Worten nicht über die Nähe Mahlers zu Nietzsche und die Integration seiner Verse wirkt wie eine Widmung innerhalb des Klangmassivs.

Dies errichteten am 20. März Stefan Vladar und das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck, die Solo-Alt-Partie übernahm Edna Prochnik. Damen des Extrachores des Theaters Lübeck und des Phemios Kammerchores sowie der Kinder- und Jugendchor Vocalino rundeten das große Ensemble frisch und stimmkräftig ab.

Die „Dritte“ übersteigt in ihren Dimensionen alles bisher Dagewesene, inhaltlich – nichts Geringeres als eine allumfassende Kosmologie sollte dieses Werk entwerfen – und formal: Von den sechs Sätzen übersteigt allein der erste an Länge manche Beethoven-Symphonie.

© Dr. Andreas Ströbl

Dieses Monument meistern die Lübecker grandios; der Größe des mächtigen Naturgottes Pan huldigen Vladar und die Orchestermitglieder mit Konzentration und kraftvollen Tutti-Einsätzen. Der existentielle Ernst der Komposition wird durch Anklänge an einen Trauermarsch greifbar, brillant spielende Blechbläser bringen eine tiefe Fülle, bei sensibler Berücksichtigung der Dynamiken vor allem in den Trompeten. Die erste Violine von Khristian Artamonov setzt nicht nur in diesem Satz feine lyrische Akzente und die typischen Militärkapellen-Klänge verleihen bei aller Schwere dem Ganzen immer wieder eine ironische Note. Hier klingen die Soldatenlieder aus dem Wunderhorn-Zyklus mit ihrem skurrilen Humor und den gespenstischen Visionen an.

Gerade bei diesem Mammut-Satz ist die angemessene Würdigung der Tempo- und Stimmungswechsel ungemein wichtig, sonst kann die Länge erschlagend wirken. Das setzen Vladar und das Orchester detailverliebt um, wobei sie stets den großen Wurf im Auge behalten. Das furiose Satzfinale wäre schon reif für eine ganze Symphonie.

Ähnlich wie in seiner zweiten Symphonie schließt Mahler, wie als Erholungspause, einen zierlichen, in der Art eines Menuetts gehaltenen Satz an. Die Oboe klingt dabei, als sei sie von einem Hirtenknaben geblasen, was eine sanftmütige bukolische Stimmung hervorbringt. Golden klingt dieser liebenswerte Satz, mit schwelgerischer Freude ertönt er an diesem Abend.

Der Folgesatz erhält durch das Zitat des Wunderhorn-Lieds „Ablösung im Sommer“ mit seinen Vogel- und Naturlauten ein gehöriges Maß an kindlicher Naivität, aber die wird bald gebrochen und bei aller Lieblichkeit bricht die gewaltige Macht einer Gottheit, die erschaffen und vernichten kann, in die Idylle. Der größte Moment der Symphonie ist sicher der Einbruch eines es-Moll-Akkords von kaum beschreibbarer Majestät, die ebenso mächtig wie gnadenlos über all dem vorherigen wuseligen Treiben thront. Wen das nicht im Mark erschüttert, der ist fühllos oder taub.

Mit feinstem geheimnisvollem Zauber beginnt der vierte Satz, nicht umsonst „Misterioso“ überschrieben. Das genannte „Nachtwandlerlied“ mit seinem mahnenden „O Mensch! Gib Acht!“ singt Edna Prochnik mit der Fülle einer Erdgöttin; sie vermeidet samtige Weichheit, um der existentiellen Tiefe Ausdruck zu verleihen. Ihre deutliche Artikulation unterstreicht den Ernst; sie gibt dem Text wirklich Bedeutung. Dieses Lied kann man auch pathetisch oder harmlos klingend singen; die Altistin lässt keinen Zweifel daran, dass es hier um die großen Empfindungen, Sehnsüchte und die Macht des Unbewussten geht, alles in eine mystische Dunkelheit gehüllt.

© Dr. Andreas Ströbl

In umso hellerem Licht erscheinen die Choristen unter Jan-Michael Krüger, vor allem die unschuldigen Kinderstimmen mit dem „Bimm bamm“ des fünften Satzes. Vor dem inneren Auge werden da die blattvergoldeten Barockputti aus süddeutschen oder österreichischen Kirchen lebendig, die auf ihren kleinen Instrumenten das Gotteslob anstimmen. Sie trösten die schuldig gewordene Seele, zu Herzen gehend wiederum von Edna Prochnik gesungen, und machen ihr Hoffnung auf Vergebung durch die Gnade des Schöpfers und damit die ewige himmlische Freude.

Die klingt ganz sanft an zu Beginn des sechsten Satzes, aber erst verhalten und ahnungssüß, im Tempo ausgesprochen gemächlich. Vladar streichelt förmlich die Partitur in das Orchester hinein, das sich dieser Musik voller Liebe und Wahrhaftigkeit hingibt. Gerade in den von den Streichern dominierten Passagen klingt Mahlers Wagner-Bewunderung durch, darin steckt viel „Lohengrin“.

Die nicht enden wollenden Umbrüche, Crescendi und Reduktionen, die mehrmaligen Steigerungen, bei denen Nichtkenner dieser Symphonie bereits das Finale zu erkennen meinen, kosten die Lübecker voll aus – die Mahler-Verehrer im Saal haben das Glück, die Freude über die retardierenden Momente des Erblühens in ganzer Fülle und Leuchtkraft genießen zu können. Mit weiten Armbewegungen schwimmt Vladar durch dieses Meer aus Wohlklang, bis sich dessen Wogen hoch erheben und in einer gewaltigen Eruption das großartigste Finale der Symphonik erstrahlt.

In völliger Stille senkt ein an die Grenzen gegangener Dirigent die Arme, dann bricht der Beifall los, lange und begeistert.

Dr. Andreas Ströbl, 22. März 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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