Die Macht der Musik: Was wir von Céline Dion lernen können

Kommentar: Eröffnung der XXXIII. Olympischen Spiele  Tour Eiffel, Paris, 26. Juli 2024

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Eröffnung der XXXIII. Olympischen Spiele

Tour Eiffel, Paris, 26. Juli 2024

von Dr. Holger Voigt

Es gibt sie tatsächlich – die ikonografischen Augenblicke der Zeitgeschichte, die sich in unser Gedächtnis einbrennen und doch immer wieder bildgewaltig hervorspringen, während andere Erinnerungen zunehmend verblassen. Einen solchen Moment konnte man am Abend des 26. Juli erleben, als unmittelbar nach der magisch anmutenden Entzündung des olympischen Feuers die Kamera zu einer Plattform des Eiffelturmes schwenkte und das Chanson „L’Hymne à l’amour“ von Édith Piaf  erklang – die „Hymne auf die Liebe“, für die Paris steht wie keine andere Stadt der Welt.

Doch je näher die Kamera heranfuhr, desto ungläubiger war das Durchsicken der Erkenntnis, das dort auf der Plattform des berühmten Wahrzeichens der Stadt tatsächlich die kanadische Sängerin Céline Dion stand und sich das Herz aus dem Leib sang.

Es hatte lange Zeit Gerüchte über ihren möglichen Auftritt bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele gegeben, doch überwogen die Fragezeichen so sehr, dass man es für nahezu unmöglich hielt. Zu krank war sie seit Jahren, als dass man realistischerweise hätte hoffen können, dass sie einen Auftritt würde wagen oder körperlich leisten können. Und nun dieses: In einem prachtvollen Dior-Kleid sang sie unter Pianobegleitung mit voller Kraft, faszinierender Phrasierung und wild entschlossen diese ungebrochene Liebeserklärung an Paris und ihre Menschen in einer Weise, die in Eindringlichkeit und Expressivität Édith Piaf von Stolz erfüllt hätte.

Wer immer noch nicht glauben konnte, dass dieses tatsächlich geschah, wurde Zeuge eines gesanglichen Vortrages, dessen Emphase durch weite und direkt geführte Armbewegungen im Schlussteil deutlich machte, wie Ernst es ihr damit war, die Aussage des Chansons in die Ewigkeit hinein zu singen. Ein Erlebnis für die Zeitgeschichte!

Céline Dion hat mit diesem Auftritt die Herzen von Millionen Menschen weltweit berührt. Mit diesem Auftritt hat sie Millionen von Menschen Mut gemacht und Zuversicht gegeben, wie es in der jüngsten Vergangenheit wohl niemand anderem gelungen ist.

Der Hintergrund: Vermutlich seit etwa 17 Jahren, doch erst vor etwa 5 Jahren eindeutig diagnostiziert, leidet sie an einer extrem seltenen neuromuskulären Autoimmunerkrankung, die als „Stiff-Person-Syndrom“ bezeichnet wird. Sie zeigt sich durch ein willentlich nicht beherrschbares Auftreten schmerzhafter Muskelkrämpfe, die den beteiligten Patienten anfallsartig überfallen und vollkommen unbeweglich machen.

Wer weiß, wie schmerzhaft Muskelkrämpfe sein können und wie glücklich man ist, wenn sie sich wieder lösen und verschwinden, kann sich kaum wirklich vorstellen, wie es ist, wenn nicht nur ein einzelner Muskel verkrampft, sondern zeitgleich Hunderte oder gar Tausende von Muskeln.

Ist ein solcher Anfall vorüber, resultiert eine generalisierte Muskelschwäche, die viele Patienten mitunter an den Rollstuhl fesselt. In der eindrucksvollen Amazon-Prime Dokumentation „I am Céline Dion“ ist dieses Geschehen hautnah und in erschreckender Drastik dargestellt. Der fürchterliche Teufelskreis bringt es mit sich, dass zur Lösung der Muskelkrämpfe Medikamente (Diazepine) eingesetzt werden müssen, die ihrerseits Abhängigkeit erzeugen (können). Die Patienten leiden insbesondere auch psychisch an der Angst vor dem nächsten Anfall. Nicht zu vergessen ist, dass auch die Muskel, die die Stimmbildung steuern, von dem Krankheitsprozess befallen sind – bei Céline Dion das erste bemerkbare Erkrankungszeichen.

Der Name „Stiff-Person-Syndrom“ begegnete mir persönlich in meinem Beruf bereits im Jahr 1980, was ich sehr genau erinnere, weil mir die eigentümliche Bezeichnung sehr rätselhaft erschien. Damals war noch nicht bekannt, was sich darunter verbirgt, doch hat die neurologische Forschung mittlerweile viele Erkenntnisse zu Tage gefördert, die von einer Antikörperentzündung gegen das eigene Nervengewebe ausgehen (Autoimmunerkrankung). Der besagte Antikörper (Anti-GAD) ist mittlerweile durch einen simplen Labortest nachweisbar, was die Diagnosestellung erheblich erleichtert. Gleichwohl gibt es noch immer zahlreiche ungeklärte Fragen, und es ist auch letztlich ungewiss, ob es Heilungen geben kann oder wird. Céline Dion ist jedoch unbeirrt entschlossen, ihrer Erkrankung zu trotzen („…if I can’t run, I’ll walk. If I can’t walk, I’ll crawl.).

Die Macht – eher: die Kraft – der Musik  zeigte sich im Auftritt der Sängerin in geradezu kompromissloser Weise.

Leider gibt es in der Welt der Musik gleichwohl viele Beispiele dafür, dass ein Erfolg ausgeblieben ist. Die erst jüngst an einem Krebsleiden in jungen Jahren verstorbenen Sopranistinnen Patricia Burda Janečková und Jodie Devos konnten das fürchterliche Schicksal nicht wenden. Etwas anders und auf besondere Weise bemerkenswert erging es dem polnischen Cellisten Dominik Połoński, der 2004 an einem unheilbaren Hirntumor erkrankte und zahlreiche Operationen, Strahlen- und Chemotherapien über sich ergehen lassen musste. Nachdem der Tumor immer wieder neue Herde bildete und er mittlerweile halbseitig gelähmt war, entschloss er sich, die weitere Therapie auszusetzen und sich wieder der Musik zu widmen. Und dann geschah das Wunder: Der Tumor bildete sich vollständig zurück. Obwohl er halbseitig gelähmt nicht in der Lage war, das Cello zu spielen, ließ er sich nicht von seiner Idee abbringen, wieder Cello zu spielen.

Er komponierte Werke für ein einhändig zu spielendes Cello und erfand Vorrichtungen, diese Werke auch spielen zu können. Er war sogar in der Lage, als Musikprofessor zu unterrichten. Leider, leider, leider kam es schließlich doch zu einem Rückfall der Erkrankung, an der er, 14 Jahre nach Diagnosestellung, 2018 verstarb.

Aus all dem können wir Vieles lernen: Die Macht der Musik ist so umfassend, dass wir sie noch immer nicht umfassend wahrnehmen und nutzen können. Die Musik ist ein Weckruf an uns alle, uns mit den Dingen zu befassen, die eine Bedeuteung im Leben haben und uns Menschen zusammenzuführen.

Dr. Holger Voigt, 30. Juli 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Link:

https://www.eurosport.de/alle-sportarten/grosse-emotionen-celine-dion-trotzt-krankheit-und-verzaubert-paris-bei-eroffnungsfeier-vom-eiffelturm_vid2190742/video.shtml

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